Meinung

Alexander Dugin: "Russland braucht Zensur und Repression"

Der russische Philosoph Alexander Dugin fragt sich, wie die Zensur und die Repression, die es schließlich überall gibt, in Russland aussehen und gegen wen sie sich richten sollen.
Alexander Dugin: "Russland braucht Zensur und Repression"Quelle: Sputnik © Ilja Pytalew / RIA Nowosti

Von Alexander Dugin

In dem Maße, in dem unsere Gesellschaft immer tiefer in einen zivilisatorischen Konflikt mit dem Westen hineingezogen wird und die Konfrontation mit ihm in der Ukraine immer gewalttätiger wird, gewinnt die Frage der Zensur und sogar der Repression immer mehr an Bedeutung.

Zunächst einmal gibt es in jeder Gesellschaft Zensur und Repression. Jede Gesellschaft fußt immer auf einer ganz bestimmten Ideologie, einem System von Grundhaltungen und Prinzipien. Diese werden jedoch nie strikt im Straf- oder Verwaltungsrecht vorgeschrieben, sondern geben vielmehr den Vektor der Weltanschauung vor, der als zusätzliche Triebkraft für das Gesetz und seine Anwendung fungiert.

Was erlaubt ist und was nicht, was toleriert werden kann und was ein gewaltsames Eingreifen des Staates erfordert, wird niemals durch das abstrakte Recht bestimmt. Im Gegenteil, Gesetze werden von den Trägern der herrschenden Ideologie erlassen, sie geben auch ihre Auslegung vor und bilden eine Hierarchie – wann, bei wem und in welchen Fällen sie mehr oder weniger streng angewendet werden sollen. Sie überwachen die Anwendung und das System der Bestrafung. Deshalb hat der Soziologe Weber treffend definiert, dass "nur der Staat das legitime Recht zur Gewalt hat". Und der Staat ist auf der Grundlage einer Idee aufgebaut.

Die moderne westliche Gesellschaft ist in diesem Sinne keine Ausnahme und unterscheidet sich im Grunde nicht von anderen totalitären Regimen der letzten Jahrhunderte, sei es der Kommunismus oder der Faschismus. Der einzige Unterschied besteht in der Ideologie und den Methoden. Ansonsten funktioniert jede herrschende Ideologie auf die gleiche Weise: Was ihr entspricht, wird akzeptiert, was ihren Rahmen sprengt oder ihre ideologischen Grundlagen (in diesem Fall den Liberalismus) infrage stellt, unterliegt der Zensur und Repression.

Der Liberalismus baut seine Zensurpolitik auf Kritik, Marginalisierung und Dämonisierung aller nicht liberalen Theorien, Wertesysteme und Praktiken auf, kriminalisiert sie, indem er alles, was mit ihnen zu tun hat, von allen Informations- und Netzplattformen entfernt, und eliminiert dann die Träger nichtliberaler Ansichten selbst. Dies wird als "Cancel-culture", "Wokeism" und so weiter bezeichnet.

Die moderne liberale Ideologie betrachtet jede Zugehörigkeit zu einer kollektiven Identität, einschließlich der Rasse, des Geschlechts und sogar der Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies (man denke an den Transhumanismus), als eine Folge der freien Entscheidung des Einzelnen. Jeder, der etwas anderes glaubt, ist für sie ein Verbrecher – daher die Verfolgung von Anhängern der klassischen Familie, von Patrioten und von Trägern jeglicher kollektivistischer Doktrin.

Wer im Verdacht steht, nicht liberal zu sein, dem wird der Zugang zu den großen Sendern, den Massenmedien und sogar zu den sozialen Netzwerken verwehrt. Gleichzeitig wird jeder, der von der liberalen (totalitären) Agenda abweicht, selbst in der Elite, sofort geächtet, zensiert und unterdrückt. Sobald der berühmte afroamerikanische Rapper Kanye West ein T-Shirt mit der unschuldigen Aufschrift "White lives matter (too)" trug, wurde er in den Augen der Öffentlichkeit sofort zu einem auszugrenzenden, extremistischen und gesellschaftlich gefährlichen Element. Was der herrschenden Ideologie zuwiderläuft, wird unverzüglich unterdrückt.

Natürlich sind nicht nur liberale Regime totalitär (auch Faschismus und Kommunismus waren totalitäre Regime), aber da sie es auch sind, gibt es gar keine Ausnahmen. Und das muss anerkannt werden.
Damit erübrigt sich die Frage nach der Notwendigkeit von Zensur und Repression an sich. Es bleibt nur noch zu klären, was Zensur und Repression in unserer modernen russischen Gesellschaft sein sollen. Sie sind unvermeidlich, aber wie sind sie?

Wir befinden uns in einem zivilisatorischen Krieg mit dem Westen, wo die liberale Ideologie gesiegt hat. Wir halten an unseren traditionellen Werten fest, und der Präsident hat sogar den Erlass Nr. 809 über die Notwendigkeit ihres Schutzes durch den Staat erlassen. Diese Werte – Barmherzigkeit, Vaterlandsliebe, Gerechtigkeit, eine starke Familie, der Triumph des Geistes über die Materie, Solidarität usw. – haben wenig mit dem Liberalismus gemein. Es liegt daher auf der Hand, dass unsere Zensur und unsere Unterdrückung auf anderen Kriterien beruhen müssen als im modernen, liberalen Westen. In diesem Fall wäre es absurd, die westlichen Standards zur Bekämpfung von Dissens einfach zu "kopieren" und darauf basierend Repressionen einzuleiten.

Allerdings sind die Überreste westlicher liberaler Stereotypen, die in den vergangenen Jahrzehnten vorherrschten, in unserer Gesellschaft immer noch sehr stark. Wir befinden uns nicht mehr auf dem Gebiet der liberalen Ideologie, wir befinden uns sogar im Krieg mit den Ländern dieses Lagers, wir erklären Russland zu einer eigenständigen Zivilisation mit einem eigenen Wertesystem, aber wir orientieren uns immer noch (manchmal aus Trägheit) an ihrem Beispiel.

Für die Liberalen sind die klassischen Gegner diejenigen, die entweder eine nationale (rechts) oder eine kollektive Klassenidentität (links) anerkennen. Aus diesem Grund sind sie in erster Linie der Zensur und Repression ausgesetzt, da jeder Einwand gegen Liberalismus und Individualismus – und heute gegen Globalismus, LGBT, kritische Rassentheorie, Multikulturalismus und Transhumanismus – als "Gedankenverbrechen" gilt. Gleichzeitig werden die Liberalen – schließlich sind sie der ideologische Hegemon! – nicht nur als akzeptable, sondern sogar als normative Träger der herrschenden Weltanschauung angesehen. Liberale ordnen ihre Feinde sofort in die Kategorie der "Faschisten" (rechts) oder "Stalinisten" (links) ein, und dann ist deren Schicksal nicht zu beneiden.

Heute wird der universelle liberale Wertekanon durch die "Vergötterung von Selenskij", die Empathie für ukrainische Nazis, die (in den Augen der Liberalen - Anm. d. Red.) "gar keine Nazis" sind, weil sie für den liberalen Westen gegen das nicht liberale Russland kämpfen, und die obligatorische Russophobie ergänzt.

Wie sollten wir unsere souveräne Zensur aufbauen und was sollten wir als Kriterium für objektiv unvermeidliche Repressionen wählen?

Bisher haben wir das Prinzip des Verbots von Kritik am Präsidenten und an der Armee, während sie Kampfhandlungen führt, eingeführt. Das ist ein ziemlich klares und transparentes Kriterium. Es gibt auch eine bereits verabschiedete Bestimmung, die öffentliche Kritik an der speziellen Militäroperation selbst verbietet. Und je schwerer der Konflikt ist, desto strenger werden diese Kriterien angewandt.

Tief in seiner Seele oder am Familientisch kann man es sich leisten, eine "abweichende Meinung" über die Spezialoperation, die Armee und den Präsidenten zu haben, obwohl im liberalen Westen Denunziationen, etwa durch Kinder, darüber üblich geworden sind, dass ihre Eltern sich in einem häuslichen Gespräch erlaubt haben, entweder den Multikulturalismus oder Transgender oder Selenskij oder Migranten, etwa rüpelhafte ukrainische Flüchtlinge, zu kritisieren. Und häufig haben solche Tischgespräche dann Konsequenzen. Wir reden bislang nur über Konsequenzen für öffentlich begangene Verstöße. Im Familienkreis herrscht völlige Freiheit: Man kann sagen, was man will. Aber ich würde sie, diese Freiheit, trotzdem nicht missbrauchen.

Ideologische Kriterien sind bei uns noch nicht eingeführt worden, und hier sind wir aus Trägheit weiter Geisel der Liberalität früherer Epochen. Nach dem Vorbild des Westens haben wir auch die konservativ-patriotischen und die links-sozialistischen Teile unserer Gesellschaft als "unzuverlässig" eingestuft. Abwertende Charakterisierungen, die dem liberalen Westen abgeschaut wurden, wurden manchmal auf sie angewandt, daher der abwertende Begriff "rot-braun", der in den 1990er Jahren in der russischen Elite aufkam. Damit waren "Nicht-Liberale" gemeint – entweder von links oder von rechts (und manchmal von beiden Seiten gleichzeitig). Diese Ära ist längst vorbei, aber die von ihr geprägten Haltungen – auch in den Strafverfolgungsbehörden, dem FSB und dem politischen Block der russischen Regierung – haben teilweise überlebt. Wenn wir Liberale wären, wäre das verständlich, aber wir befinden uns im Krieg mit Liberalen. Deshalb ist es absolut an der Zeit, die Zensurrichtlinien zu korrigieren und die Gründe für die ideologische Repression klarer zu definieren.

Ja, es gibt Figuren auf der rechten und linken Flanke in Russland, die den Präsidenten und die Führung des Verteidigungsministeriums kritisieren und manchmal sogar die Notwendigkeit der Militärischen Spezialoperation anzweifeln. Das ist verboten, und der Staat sollte sie dafür gnadenlos bestrafen. Es ist jedoch erwähnenswert, dass die ideologisch und sozial aktiven Menschen, die das Rückgrat der Freiwilligen und den Kern derjenigen bilden, die ihnen Tag und Nacht im ganzen Land helfen, fast ausschließlich Träger von rechts- oder links-patriotischem Gedankengut sind. Das heißt, dass die militärische Spezialoperation ideologisch auf den Schultern derjenigen ruht, die sich zu einer anderen als der liberalen Ideologie bekennen. Um es mit den Worten von Egor Letow zu sagen: "Es gibt keine Liberalen in den Schützengräben unter Beschuss." Ja, und es gibt (in den Schützengräben) auch keine Atheisten. Daher sollte das Vorhandensein einer rechtskonservativen oder linkssozialistischen Ideologie bei denjenigen, die Unrecht getan haben, nicht als erschwerender Faktor betrachtet werden, sondern als etwas, das die Schuld mildert (ohne sie natürlich zu beseitigen).

Und umgekehrt: Wenn Kritik am Präsidenten, an der Armeeführung oder an der Spezialoperation insgesamt und entsprechende Aktionen in diese Richtung von Liberalen kommen – also von denen, die wissentlich die Ideologie unseres Zivilisationsfeindes teilen, dann ist das in diesem Fall ein erschwerender Umstand. Und das Vorhandensein liberaler Ideologie selbst (die leicht am bestialischen Hass gegen rechte und linke Patrioten erkennbar ist) ist ein Warnsignal: "Verrat ist möglich! Hütet euch vor dem liberalen Extremismus!".

Der Fall der liberalen Terroristin Daria Trepowa, die den Militärkorrespondenten Wladlen Tatarski brutal ermordet und andere friedliche und unschuldige Menschen verstümmelt hat, ist recht anschaulich. Natürlich sind nicht alle Liberalen überzeugte Terroristen, aber ihre Ideologie ist in diese Richtung gerichtet. Schließlich trauen sich auch nicht alle Muslime, die in Russland verbotene wahhabitische und salafistische Literatur lesen, zu töten oder sich mit Schahid-Gürteln in die Luft zu sprengen. Aber sobald die Strafverfolgungsbehörden solche Bücher finden oder Informationen darüber erhalten, dass in diesem oder jenem islamischen Zentrum Fundamentalismus gepredigt wird, folgen harte Präventivmaßnahmen. Es wäre sinnvoll, dasselbe mit Liberalen zu tun.

Entdeckt man, dass jemand Poppers Buch "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", diese schwarze Bibel von George Soros, gelesen oder weitergereicht hat, oder ein ungesundes Interesse an der liberalen Satanistin Ayn Rand hat, sollte dieser jemand sofort registriert und unter Beobachtung genommen werden. Und die liberalen Medien zu verbieten oder die harmlosen unter ihnen als ausländische Agenten zu brandmarken, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Bevor Sie ein Liberaler werden, sollten Sie erst einmal gründlich darüber nachdenken, dass dies einen Preis haben wird. 

Ein Liberaler kann überhaupt kein russischer Patriot sein, da er sich selbst als "Weltbürger" und Träger der Werte der westlichen Zivilisation sieht. In den USA oder der EU kann ein Liberaler den Staat noch irgendwie unterstützen, vor allem wenn dieser sich im Krieg mit illiberalen Gegnern befindet. Aber in Russland ist eine solche Situation unmöglich. Natürlich gibt es ehemalige Liberale oder solche, die sich fälschlicherweise als "Liberale" bezeichnen (aus Mangel an Wissen und Verständnis), um sie geht es hier nicht. Aber die Ideologie eines Feindes zu teilen, mit dem man sich in einem echten Krieg befindet, ist bereits der erste Schritt zu einem Verbrechen.

Stellen Sie sich vor, wie ein Sowjetmensch, der "Mein Kampf" (in Russland verboten) gelesen und dessen Hauptaussagen geteilt hätte, während des Großen Vaterländischen Krieges behandelt worden wäre. Aber Popper soll erlaubt sein? Und "Doschd" (in Russland verboten, Gott sei Dank) sehen und "Echo Moskwy" hören? "Echo Moskwy" ist übrigens abgehauen, weil es den "Moskauer Diskurs" nicht mehr ausstrahlt. In Moskau wird so etwas nicht mehr gesagt, und das Echo (der Stadtstraßen) reflektiert jetzt andere Reden.

Die gerade beginnende Zensur und Repression ist eine Reaktion auf die offensichtlichsten Herausforderungen. Aber das sind die ersten Schritte. Und unter den Bedingungen der Konfrontation mit dem Westen wäre es absolut töricht, dessen Kriterien vollständig zu kopieren – was im Lande getan werden kann und was nicht. Einiges von dem, was im Westen möglich ist, ist auch in unserem Land möglich. Aber manches ist nicht mehr möglich. Und manches, was bei uns erlaubt ist, ist im Westen verboten (zum Beispiel Sputnik zu hören oder RT zu sehen). Aber in unserem Land kann man hören und sehen, was man will. Und Instagram und FB (Werkzeuge der kulturellen zivilisatorischen Aggression, die in Russland verboten sind) – sie dürfen es tun, aber wir nicht.

In diesem Unterschied zwischen Zensur und repressiven Strategien soll sich die Identität der Zivilisationen entfalten. Übrigens, in China ist das mit dem "können" und "nicht können" anders, und auf ihre Weise in islamischen Ländern oder in Asien. Es gibt keine Gesellschaft, in der alles möglich ist. Aber es gibt auch keine Gesellschaft, in der man gar nichts tun kann. Etwas ist immer möglich.

Deshalb kann der Status eines ausländischen Agenten allen Liberalen im Voraus verschrieben werden. Das ist noch keine Vorladung in das Ermittlungskomitee und noch weniger ein Gefangenentransportwagen, nicht einmal die Brandmarkung als ausländischer Agent. Es ist nur ein interner Vermerk. Vorläufig.

Generell ist es notwendig, über alle drei politischen Ideologien der europäischen Neuzeit (Liberalismus, Kommunismus und Nationalismus) hinauszugehen und unsere eigene authentische, souveräne Weltsicht zu etablieren, die auf den Grundwerten unseres Volkes und unseres Staates beruht. Und darauf unsere eigene Strategie der Zensur und Unterdrückung aufzubauen. Im Namen von Einheit, Stärke und Treue gegen die ideologischen Feinde Russlands – die offenen und die verdeckten.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 28. Juli 2023 auf ria.ru erschienen.

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