Meinung

Schwache Gegenoffensive: USA schicken Selenskij eine Warnung

Im Westen und der Ukraine läuft die Suche nach Verantwortlichen für das Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive, was Selenskijs Beziehungen zu Joe Biden erschwert. Über US-Medien und den ukrainischen Ex-Generalstaatsanwalt Luzenko erhält Selenskij nun eine Warnung.
Schwache Gegenoffensive: USA schicken Selenskij eine WarnungQuelle: Gettyimages.ru © NurPhoto / AFP / YVES HERMAN

Von Dmitri Bawyrin

"Präsident Selenskij ist gänzlich unvorbereitet an die Macht gekommen. Er beging zahlreiche systematische Fehler in vielen Bereichen, richtete das System der Staatsverwaltung zugrunde. Die Wirtschaft und die Staatsmacht befanden sich in einem kritischen Zustand."

Mit diesen Worten hat der ehemalige Generalstaatsanwalt und Innenminister der Ukraine Juri Luzenko die historische Wendung erklärt, die für sein Land am 24. Februar 2022 begonnen hatte.

All das ist kaum zu bestreiten und scheint nicht verwunderlich zu sein. Luzenko steht dem ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko nahe, den Selenskij aus der Machtposition drängte und mit einem Strafverfahren bedrohte. Freilich gelang es nicht, Poroschenko hinter Gitter zu bringen. Es ist durchaus möglich, dass er von seinen westlichen Schirmherren in Schutz genommen wurde. Heute leitet Poroschenko die legale, also prowestliche Opposition gegen Selenskij, und für die Opposition ist es natürlich, die amtierende Regierung zu kritisieren.

Allerdings begann Poroschenkos Partei "Europäische Solidarität", Selenskij jetzt etwas entschlossener zu kritisieren, als noch vor anderthalb Jahren. Scheinbar versucht sie, das Fenster der Gelegenheit zu nutzen, das sich nach dem Scheitern der ukrainischen Offensive auftat, und ihre Herren daran zu erinnern, dass sie nicht auf Selenskij allein angewiesen seien – es gäbe auch andere Kandidaten für die Macht.

Dennoch ist Luzenkos Behauptung zumindest aus zwei Gründen beachtenswert.

Erstens ist es eine Überschreitung bisheriger Grenzen. Poroschenkos Team legte Selenskij alles Mögliche zur Last, doch nicht den Beginn der speziellen Militäroperation. Ihr Beginn wurde ausdrücklich als "niederträchtige russische Aggression" interpretiert. Es wurde nicht in Erwägung gezogen, dass der ukrainische Präsident all das vermeiden und die Katastrophe von seinem Land hätte abwenden können, wenn er etwas klüger und geschickter wäre. Nun stellt sich heraus, dass er es doch gekonnt hätte.

Zweitens ist die Persönlichkeit, die diese Grenzen überschreitet, überaus bemerkenswert.

Juri Luzenko ist ein echter Veteran der ukrainischen Politik: Topmanager von drei Maidans (es gab auch einen gescheiterten, die Aktion "Ukraine ohne Kutschma"), Berater von drei Präsidenten (Juschtschenko, Turtschinow und Poroschenko), zweimaliger Innenminister und einmaliger Generalstaatsanwalt, wegen Korruption verurteilt, im Gefängnis gesessen, begnadigt, freigesprochen und an die Front gegangen. In Kürze, ein Mensch mit einem ereignisreichen Leben.

Während dieses Lebens wurde er Hunderte, wenn nicht Tausende Male in der Zeitung Wsgljad erwähnt. Kaum eine von diesen Erwähnungen fiel positiv aus. Luzenko ist ein alter Feind Russlands, der den Donbass und seine Bewohner als "Krebsgeschwür" bezeichnete. Jetzt ist er im Grunde ein Niemand – ein Ruheständler, der seinen ehemaligen Einfluss verlor und aus dem ukrainischen Militär aus gesundheitlichen Gründen entlassen wurde.

Aber es gibt eine Besonderheit. Es gibt nämlich keine ehemaligen CIA-Agenten.

Zwar ist Luzenko möglicherweise kein CIA-Agent im engeren Sinne, doch ist er mit Sicherheit ein Agent der USA im Allgemeinen, der eine besondere Beziehung zum Präsidenten Joe Biden unterhält.

Vor Luzenko diente Poroschenkos alter Kumpane Wiktor Schokin als Generalstaatsanwalt der Ukraine. Seine wichtigste Aufgabe war die Unterdrückung der Amtsträger aus der Zeit von Janukowitsch. Diese Aufgabe bewältigte er mehr oder minder erfolgreich, beging aber einen Fehler: Schokin begann die Tätigkeit des Energiekonzerns Burisma Holdings zu untersuchen, der seinerseits in weiser Voraussicht für seinen Aufsichtsrat einen sehr nützlichen Lobbyisten eingekauft hatte – Hunter Biden, den Sohn des damals noch Vize-Präsidenten der USA.

"The Big Guy", wie der Vater in der Korrespondenz des Sohns genannt wurde, enttäuschte nicht: Er forderte Poroschenko auf, Schokin zu entlassen und an seiner Stelle Luzenko einzusetzen. Andernfalls drohte er, eine Tranche von einer Milliarde US-Dollar einzufrieren. Joe Biden gab das selbst zu – öffentlich und in einem prahlerischen Ton. Allerdings war damals von der Tätigkeit seines Sohns und seinem persönlichen Interesse an der Beseitigung von Schokin noch nichts bekannt.

Um das Ultimatum zu akzeptieren, war die ukrainische Regierung gezwungen, sich eilig ein Gesetz einfallen zu lassen, nach dem der Generalstaatsanwalt nicht mehr über eine juristische Ausbildung verfügen müsse, denn Luzenko hatte und hat keine. Gleich darauf wurde die Kreatur der USA im Amt bestätigt und US-Vizepräsident Biden blätterte der Ukraine eine Milliarde US-Dollar an Haushaltsmitteln hin. In den Medien wurde dies als "bedeutender Schritt im Kampf gegen Korruption" dargestellt.

Nun sind es US-amerikanische Staatsanwälte, die in gefährlicher Nähe der Biden-Familie Untersuchungen anstellen. Daher ließe sich vermuten, dass Luzenko als Zeuge für den US-Präsidenten äußerst gefährlich werden könnte, zumal in den USA gerade die Präsidentschaftswahlkampagne läuft. Doch dem ist nicht so: Luzenko würde eher in die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats übertreten, als seinen US-amerikanischen Schutzherrn durch etwas zu gefährden.

Das Wohlwollen der USA ist die Schlüsselressource für ukrainische Politiker. Um diese Ressource, wie um die Stelle eines Lakaien in einem Herrenhaus, tobt ein erbitterter Kampf, bei dem sowohl Feinde als auch Freunde geopfert werden. Deswegen will Luzenko keineswegs gefährlich für Biden sein, er will nützlich für ihn sein, und genau das tut er jetzt.

Allem Anschein nach sind der Angriff vonseiten des ehemaligen Staatsanwalts auf Selenskij und die gegenüber dem ukrainischen Präsidenten ungewohnt kritischen Veröffentlichungen in westlichen Medien, die nach einer Woche für ein ganzes Büchlein reichen, die Glieder derselben Kette.

Nach dem NATO-Gipfel in Vilnius ist es zwischen den Präsidenten der USA und der Ukraine scheinbar zu einer Verwerfung gekommen. Selenskij war enttäuscht, dass die Ukraine nicht in die Allianz eingeladen wurde, und erhob Beschuldigungen gegen westliche Funktionäre wegen der Misserfolge des ukrainischen Militärs zur Norm.

Man kann es Selenskij kaum verdenken, denn er wurde von den westlichen Partnern schlicht betrogen. Der militärische Konflikt zwischen Moskau und Kiew hätte noch im April 2022 enden können, als nach entsprechenden Verhandlungen ein Abkommen über den neutralen Status der Ukraine und die Größe ihrer Armee paraphiert wurde. Allerdings hatten die westlichen Partner, allen voran Joe Biden und Großbritanniens Ex-Ministerpräsident Boris Johnson, Selenskij überzeugt, keine Kompromisse einzugehen und Russland zu "bestrafen" und versprachen im Gegenzug eine NATO-Mitgliedschaft und "die Grenzen von 1991", also eine Rückgabe der Krim.

Jetzt, da die Gegenoffensive – die Haupthoffnung Kiews und des Westens in diesem Konflikt – zum Stillstand gekommen ist, beginnt die Suche nach den Schuldigen. Und für Selenskij ist die Zeit gekommen, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass in seinem gegenwärtigen Umfeld die USA auf keinen Fall an etwas schuld sein können, und der US-Präsident nur im äußersten Notfall und nur für das inländische Publikum verantwortlich ist.

Das ukrainische Militär zu beschuldigen, wäre merkwürdig, denn wie auch die Ukraine insgesamt ist es nur ein Instrument im Kampf gegen Russland. Genauso gut könnte man einen Hammer oder eine Säge beschuldigen, dass sie eine für sie unerfüllbare Aufgabe nicht meistern können, nämlich einer Atommacht einen irreparablen Schaden zuzufügen.

Deswegen ist der Hauptkandidat für die Rolle eines Schuldigen, den sowohl der Westen als auch das eigene Volk zur Rede stellen wird, Selenskij selbst. Und der ehemalige Generalstaatsanwaltschaft Luzenko und die plötzlich in Skepsis versunkenen Militärexperten aus den US-amerikanischen Medien sind diejenigen, die Selenskij eine Warnung der USA überbringen: "Sei ruhiger, sonst lassen wir dich fallen."

Leider bedeutet all das nicht, dass ein Ende des Konflikts nahe ist. Der Westen wird mit dem ukrainischen Hammer auf Russland so lange einschlagen, bis dieser Hammer in seinen Händen zerbricht. Doch der Präsident dieses in einen Hammer verwandelten Landes muss nicht unbedingt Selenskij sein. Im Gegenteil, er ist dazu zu unbequem – egozentrisch, undankbar und Luzenko zufolge "nicht für die Macht geschaffen", weswegen er bestraft wird.

Doch lieber sollte es Russland als der Westen tun.

Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad.

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