Während die NATO nach Antworten im Ukraine-Konflikt sucht, verfolgt Polen die nukleare Option
Von Scott Ritter
Die NATO hat vergangene Woche ihr zweitägiges Gipfeltreffen in der litauischen Hauptstadt Vilnius abgehalten. Während Fragen zur NATO-Erweiterung – bei der durch die unerwartete Kehrtwende der Türkei, die Tür zum Beitritt neuer Mitglieder geöffnet wurde – und der anhaltende Konflikt in der Ukraine die Schlagzeilen dominierten, ging es beim Gipfel auch um ein Thema, das inhärente existenzielle Konsequenzen mit sich bringt: der Antrag Polens, einer Vereinbarung über die gemeinsame Nutzung von Atomwaffen mit den USA beizutreten. Das dazugehörige Stichwort: Nukleare Teilhabe, was eine Stationierung von taktischen Atombomben von Typ B-61 auf polnischem Boden vorsehen würde. Zu diesem Thema schwieg die NATO jedoch.
Gemäß dem Antrag von Premierminister Mateus Morawiecki, würden diese Atomwaffen in die Obhut von speziell ausgebildeten polnischen Luftwaffentruppen übergeben werden, um sie in einem künftigen nuklearen Konflikt mit Russland einzusetzen. Unausgesprochen blieb die Tatsache, dass jeder Konflikt, bei dem Polen Atomwaffen gegen ein russisches Ziel einsetzen würde, sofort zu einem nuklearen Schlagabtausch zwischen den Vereinigten Staaten und Russland führen würde. Dies wiederum bedeutet unweigerlich die Zerstörung eines Großteils der Menschheit, wenn nicht gar der gesamten.
Der polnische Antrag ist mit Sicherheit Folge der jüngsten Entscheidung Russlands, taktische Atomwaffen in Weißrussland zu stationieren, wo sie mit Kampfflugzeugen vom Typ Su-25 und Raketensystemen vom Typ Iskander-M kombiniert werden können. Diese Waffensysteme werden von speziell ausgebildeten weißrussischen Besatzungen bedient. Die Vereinbarung zur nuklearen Teilhabe zwischen Russland und Weißrussland ist Teil einer umfassenden Neubewertung der russischen Nuklearposition durch Moskau angesichts der erklärten Absicht der Vereinigten Staaten und der NATO, in der Ukraine eine strategische Niederlage Russlands herbeizuführen.
Das Abkommen über die nukleare Teilhabe zwischen Russland und Weißrussland ähnelt stark einer ähnlichen Vereinbarung zwischen den USA und der NATO, bei der etwa hundert B-61-Atombomben auf dem Boden von vier NATO-Staaten stationiert sind. In Kriegszeiten kämen diese bei den Luftstreitkräften von fünf NATO-Staaten zum Einsatz – in der Türkei, Belgien, Niederlande, Italien und Deutschland. Die Entscheidung, Atomwaffen auf weißrussischem Boden zu stationieren und weißrussische Trägersysteme und Mannschaften für den Einsatz dieser Waffen vorzusehen, ist ein Zeichen für die engen Beziehungen, die zwischen Moskau und Minsk nach den inneren Unruhen in Weißrussland im Nachgang der Präsidentschaftswahl 2020 entstanden sind. Der Russland-Ukraine-Konflikt hat die beiden Nationen nur noch näher zusammengebracht.
Der Antrag von Morawiecki war nicht der erste, bei der die Frage von US-Atomwaffen auf polnischem Boden zur Sprache kam. Im Jahr 2020 führten Richard Grenell, der damalige US-Botschafter in Deutschland, und Georgette Mosbacher, die damalige US-Botschafterin in Polen, einen Austausch auf Twitter. Dieser Austausch hatte die Zögerlichkeit Berlins zum Thema, seine Beteiligung an der nuklearen Teilhabe fortzusetzen, in deren Rahmen zwanzig B-61-Atombomben auf deutschem Boden stationiert wurden. Die veraltete Flotte von Tornado-Jagdbombern der deutschen Luftwaffe sah sich damals kurz davor, in den kommenden Jahren außer Dienst gestellt zu werden. Die deutsche Regierung war sich uneins und zögerte, die Tornados durch moderne, in den USA hergestellte Kampfflugzeuge zu ersetzen. Letztlich stimmte Deutschland jedoch dem Kauf von fünfunddreißig Flugzeugen vom Typ F-35A im Umfang von 8,4 Milliarden US-Dollar zu. Deutschland wird 2026 mit der Ausbildung seiner Piloten an diesem Flugzeugtyp beginnen, mit dem Ziel, die erste Staffel von F-35A bis 2028 einsatzbereit zu haben.
Die Frage eines Beitritts Polens zur nuklearen Teilhabe kam im Oktober 2022 erneut auf, als der polnische Präsident Andrzej Duda, alarmiert über den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, die USA öffentlich aufforderte, B-61-Atombomben auf polnischen Boden zu verlegen. Diese Aufforderung fand jedoch weder in den USA noch innerhalb der NATO Anklang, war jedoch alles andere als übertrieben. Im April 2022 gab die Direktorin für Nuklearpolitik der NATO, Jessica Cox, bekannt, dass die Militärplaner des Bündnisses die Mechanismen bei der nuklearen Teilhabe anpassen würden, um dadurch den Erwerb der F-35A durch zahlreiche Mitgliedsstaaten zu berücksichtigen. Vier der fünf an dieser nuklearen Teilhabe beteiligten Nationen hatten dem Übergang ihrer Luftwaffen hin zu einer Flotte von F-35A zugestimmt, während die Türkei wegen des Kaufs russischer S-400-Boden-Luft-Raketen – der einen Verstoß gegen US-Sanktionen darstellte – davon ausgeschlossen blieb.
Die Pläne von Jessica Cox sahen nicht die Stationierung von Atomwaffen auf dem Boden dieser Staaten vor, sondern vielmehr deren Einsatz in Kampfflugzeugen für nukleare Missionen. Der Antrag von Morawiecki war somit mit der künftigen Anschaffung von F-35A-Flugzeugen durch Polen verbunden, was die Möglichkeit eröffnete, dass man sich auf einen Kompromiss einigen könnte. Dieser könnte dahin gehend aussehen, dass US-Atombomben auf deutschem Boden bleiben, im Kriegsfall aber an polnische Luftwaffentruppen übergeben werden. Polen hat kürzlich einen Vertrag im Wert von 6,5-Milliarden US-Dollar mit den USA über den Kauf von zweiunddreißig F-35A-Kampffliegern unterzeichnet, deren Auslieferung im Jahr 2024 beginnen soll.
Während der polnische Antrag auf Beitritt zur nuklearen Teilhabe beim Gipfel in Vilnius nicht öffentlich thematisiert wurde, deutete das zum Abschluss herausgegebene Kommuniqué der NATO an, wie die Zukunft sowohl für Polen als auch für die nukleare Abschreckung der NATO aussehen könnte. In der Verlautbarung heißt es:
"Die NATO wird alle notwendigen Schritte unternehmen, um die Glaubwürdigkeit, Wirksamkeit und Sicherheit der nuklearen Abschreckung zu gewährleisten. Dazu gehört die weitere Modernisierung der Nuklearkapazitäten der NATO und die Aktualisierung der Einsatzdoktrin, um die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Nuklearstreitkräfte des Bündnisses zu erhöhen und gleichzeitig jederzeit eine starke politische Kontrolle auszuüben. Das Bündnis bekräftigt die Notwendigkeit, die größtmögliche Beteiligung der betroffenen Bündnispartner an der nuklearen Lastenverteilung sicherzustellen, um die Einheit und Entschlossenheit des Bündnisses zu demonstrieren."
Während es unwahrscheinlich ist, dass die USA noch die NATO in Zukunft der Bitte des polnischen Premierministers nachkommen werden, US-amerikanische Atombomben auf polnischem Boden zu stationieren, scheint das Kommuniqué der NATO den Weg für die Integration der polnischen F-35A-Flotte zu ebnen, falls jemals ein Atomkonflikt zwischen der NATO und Russland ausbrechen sollte. Während das Bündnis ein solches Ergebnis möglicherweise als Beitrag zur Stärkung der nuklearen Abschreckung der NATO betrachtet, garantiert es in Wirklichkeit lediglich, dass Russland gezwungen sein wird, künftig jede F-35A im Arsenal der NATO als potenzielle nukleare Bedrohung zu betrachten und seine eigene Abschreckung entsprechend anzupassen.
Dies bringt die NATO und Russland näher an die Möglichkeit eines nuklearen Schlagabtauschs, eine Aussicht, die kein rationaler Akteur jemals als einen Beitrag zum kollektiven Frieden und zur Sicherheit in Europa betrachten kann.
Aus dem Englischen.
Scott Ritter ist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung der US-Marineinfanterie und Autor. Er diente den USA in der Sowjetunion als Inspektor für die Umsetzung der Auflagen des INF-Vertrags, während des Zweiten Golfkriegs im Stab von General Norman Schwarzkopf und war danach von 1991 bis 1998 als Waffen-Chefinspekteur bei der UNO im Irak tätig. Derzeit schreibt Ritter über Themen, die die internationale Sicherheit, militärische Angelegenheiten, Russland und den Nahen Osten sowie Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung betreffen. Man kann ihm auf Telegram folgen.
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