Schwenk nach Westen: Im Balanceakt zwischen Russland und NATO hat die Türkei die Wertung verschoben
Von Seyed Alireza Mousavi
In seinem Balanceakt zwischen Russland und der NATO verschob der türkische Präsident in den vergangenen Tagen die Gewichtung deutlich zugunsten der westlichen Agenda, nachdem Erdoğan grünes Licht zu Schwedens Aufnahme in die NATO gegeben hatte. Bei seinem Treffen mit dem US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden sprach er am Dienstagabend von einem "neuen Prozess" in den bilateralen Beziehungen. Bereits zuvor hatte Ankara Entgegenkommen signalisiert. Die Türkei soll Frankreich die Aufsicht über das im Bau befindliche Atomkraftwerk "Akkuyu" übertragen haben. Dessen Betreiber ist der russische Staatskonzern Rosatom.
Nachdem Erdoğan dem NATO-Beitritt Schwedens zugestimmt hatte, traf er sich mit dem griechischen Ministerpräsidenten, um die Beziehungen zu seinem Nachbar in Schwung zu bringen. Es ist erst acht Monate her, dass Erdoğan Griechenland mit Raketenangriffen drohte und mit Sätzen wie "Eines Nachts werden wir kommen". Nun will er auf einmal den Weg für eine Beilegung des Streits über die maritimen Grenzen zwischen Ankara und Athen ebnen.
Allerdings hatte eine Nachricht im Zuge des Ukraine-Krieges für Wirbel gesorgt: Erdoğan hatte am Wochenende ohne Absprache mit der Kremlführung dem ukrainischen Präsidenten ermöglicht, nach seinem Türkeibesuch die Kriegsgefangenen von Asowstal, mit nach Hause zu bringen. Die ukrainischen Gefangenen sollten ursprünglich bis zur Beilegung des Konflikts in der Türkei interniert bleiben.
Die Entscheidung Ankaras, die Kriegsgefangenen von Asowstal in die Freiheit zu entlassen, war im Grunde ein Rückschlag für Moskau, da der Vorgang den Anschein erweckte, Moskau sei nach dem gescheiterten Putsch der Wagner-Gruppe in einer "schwachen Position" und könne nichts tun, um künftige Verstöße gegen Vereinbarungen durch die Türkei oder weitere "vertrauenswürdige" Partner zu unterbinden.
Warum hat Ankara seine bisher geschickte Schaukelpolitik zwischen dem Osten und dem Westen faktisch zunichtegemacht? Ankara benötigt dringend die Vertiefung der Handelsbeziehungen und die finanzielle Unterstützung vom Westen. Allein im Mai flossen mehr als sieben Milliarden Dollar aus der Türkei ab.
Dem US-Investigativjournalisten Seymour Hersh zufolge soll der Grund für Erdoğans Aufgabe der Blockade zu Schwedens NATO-Beitritt in einem Versprechen Bidens liegen, Ankara einen Kredit in Höhe von bis zu 13 Milliarden Dollar zu gewähren. Die Empörung der Kremlführung ist vor diesem Hintergrund nachvollziehbar, da Moskau russisches Gas auf Kredit und zu günstigen Bedingungen an Ankara geliefert hat.
Aus geopolitischer Sicht besteht die Gefahr, dass Erdoğan vonseiten der USA grünes Licht für seine umstrittenen Ambitionen in Asien bekommen hat. Erdoğan träumt längst vom "Großen Turan" in den türkischsprachigen Regionen Asiens. Im Zuge dieser Politik zielt er auf die Herstellung eines muslimisch-türkischen Korridors durch Eurasien, indem die Türkei die Enklave Nachitschewan über den Sangesur-Transportkorridor mit Aserbaidschan verbinden will – und zwar auf Kosten der armenischen Souveränität, um damit eine direkte Verbindung über das Kaspische Meer in Richtung Osten nach Zentralasien zu schaffen.
Der revisionistische Plan der Türkei in Asien spielt der NATO in Hände, da der Westen nicht nur die Neue Seidenstraße Chinas verhindern, sondern auch den Nord-Süd-Korridor zum Scheitern bringen und damit Russland von Süden aus einkesseln will. Russland zeigt sich vor allem seit dem Ukraine-Krieg im Schwarzen Meer stark präsent und die Türkei fühlt sich in Richtung des Westens bedrängt.
Wenn Erdoğan seinen Kurs nicht korrigiert und sich auf Versprechen des Westens einlässt, wird die Türkei seine Chance zur Integration in den asiatischen Block verspielen. Für den Westen bleibt die muslimische Türkei immer ein Juniorpartner zweiter Klasse, der irgendwann vom "Wertewesten" fallen gelassen wird.
Mehr zum Thema – Erdoğans Träume vom neuen Osmanischen Reich: Warum eskaliert Lage zwischen Iran und Aserbaidschan?
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.