Die eurasischen Staatschefs fokussieren sich auf gemeinsame Ziele und gehen Differenzen aus dem Weg
Von Kanwal Sibal
Indien hat trotz seiner zahlreichen diplomatischen Herausforderungen, einschließlich der Notwendigkeit, aufgrund der vorherrschenden Umstände ein virtuelles Gipfeltreffen abzuhalten, erfolgreich den Vorsitz beim jüngsten Zusammenkommen der Staats- und Regierungschefs aller Mitgliedsstaaten der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) abgehalten.
Die Beziehungen zwischen den Mitgliedsstaaten der SOZ sind von bilateralen Schwierigkeiten und Spannungen geprägt. Somit hat man sich mit diesen befasst, entweder um sie beizulegen oder verbindende Formulierungen zu finden, damit eine umfassende Einigung über regionale und internationale Fragen, die von gemeinsamem Interesse sind, erzielt werden konnte. Die im Anschluss an den Gipfel verabschiedete Erklärung von Neu-Delhi hat diese Herausforderung bestmöglich erfüllt.
Bei der Erklärung handelt es sich um ein Dokument des Kompromisses, denn die Mitgliedschaft in einer Organisation bedeutet nicht automatisch, dass man sich in allen anstehenden Fragen einig sein muss oder dass man sich bei allen Fragen auf die gleiche Art und Weise einigt, selbst wenn ein vereinbarter Text den Anschein von Konsens erweckt. Auch wenn grundsätzlich weitgehende Übereinstimmung besteht, folgen die Mitgliedsstaaten in der Praxis der Logik ihrer eigenen nationalen Interessen oder jener der regionalen und geopolitischen Erwägungen.
Beispielsweise bekräftigen die Mitgliedsstaaten ihr starkes Engagement im Kampf gegen den Terrorismus, den Separatismus und den Extremismus, und bringen ihre Entschlossenheit zum Ausdruck, die Finanzströme des Terrorismus zu kappen, Aktivitäten der Anwerbung sowie die grenzüberschreitende Bewegungsfreiheit des Terrorismus zu unterbinden und weitere Maßnahmen zu unternehmen. In der Praxis existiert der grenzüberschreitende Terrorismus jedoch weiterhin, während Terrororganisationen fortbestehen. Es findet auch Radikalisierung statt, Zufluchtsorte für Terroristen werden zur Verfügung gestellt und die UN-Liste bekannter Terroristen wird wiederholt ignoriert.
Bedauerlicherweise geht die Erklärung von Neu-Delhi auf den letzten Punkt ein, wonach festgehalten wird, dass "die Mitgliedsstaaten vorbehaltlich ihrer nationalen Gesetze und auf der Grundlage eines Konsenses danach streben werden, gemeinsame Grundsätze zu entwickeln, um eine einheitliche Liste von Terroristen, separatistischen und extremistischen Organisationen zu bilden, deren Aktivitäten auf dem Territorium der SOZ-Mitgliedsstaaten verboten sind".
Die Erklärung von Neu-Delhi erkennt zu Recht an, dass die Welt beispiellose Veränderungen durchläuft, die eine Steigerung der Wirksamkeit globaler Institutionen, eine Erweiterung der Multipolarität, eine engere Vernetzung und ein beschleunigtes Tempo bei der Digitalisierung erfordern, während eine gegenseitige Abhängigkeit besteht. Die Erklärung bekräftigt ausdrücklich das Engagement der Mitgliedsstaaten für die Schaffung einer repräsentativen, demokratischen und gerechten multipolaren Weltordnung auf Grundlage des Völkerrechts, des Multilateralismus, der ausgeglichenen, gemeinsamen, unteilbaren, umfassenden und nachhaltigen Sicherheit sowie der kulturellen und zivilisatorischen Vielfalt, mit einer zentralen Koordinierungsrolle der Vereinten Nationen.
Das Dokument bringt seine Besorgnis zum Ausdruck, über den Zustand der Weltwirtschaft, die anhaltenden Turbulenzen auf den globalen Finanzmärkten, den weltweiten Rückgang der Investitionsströme, die Instabilität der Lieferketten, die zunehmenden protektionistischen Maßnahmen, die Fragen bei der Ernährungs- und Energiesicherheit, die wachsende technologische und digitale Kluft, und fordert eine gerechtere und effektivere internationale Zusammenarbeit.
Befürchtungen im Westen, dass die SOZ grundsätzlich antiwestlich aufgestellt sei und die Schaffung alternativer politischer, sicherheitstechnischer und wirtschaftlicher Strukturen anstrebe, werden in der Erklärung zurückgewiesen und es wird bekräftigt, dass sich die SOZ nicht gegen andere Staaten oder internationale Organisationen richtet. Was man jedoch ablehnt, sind Ansätze von Blockbildungen, Ideologie und Konfrontation.
Die Erklärung von Neu-Delhi sendet somit die Botschaft aus, dass die SOZ ein reformiertes internationales System anstrebt und kein alternatives. Sie macht deutlich, dass man sich gegenseitiger Abhängigkeiten bewusst ist, aber ein multipolares Format anstrebt und nicht eines, das von den historisch überragenden Großmächten dominiert wird. Andererseits wird die Frage der Reform der Vereinten Nationen und der Erweiterung des UN-Sicherheitsrats, um ihn repräsentativer zu machen, nicht erwähnt. China und Pakistan lehnen Indiens Antrag auf eine dauerhafte Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat ab, während Russland und die zentralasiatischen Staaten diesen Antrag unterstützen. Dies steht im Gegensatz zu der Forderung der Erklärung nach größerer Wirksamkeit und inklusiver Reform der Welthandelsorganisation (WTO).
Während der Westen die Frage nach Demokratie versus Autokratie aufwirft, plädiert die Erklärung für die Achtung des Rechts der Völker auf eine unabhängige und demokratische Wahl der Wege ihrer politischen und sozioökonomischen Entwicklung. Aber die Betonung der Grundsätze der gegenseitigen Achtung der Souveränität und territorialen Integrität, der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, des Verzichts auf Anwendung oder Androhung von Gewalt als Grundlage der internationalen Beziehungen steht im Widerspruch zur tatsächlichen Praxis einiger Mitgliedsstaaten der SOZ. Dies gilt auch für die in der Erklärung enthaltene Bekräftigung der Verpflichtung aller Mitgliedsstaaten zur friedlichen Beilegung von Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten durch Dialog und Konsultation.
Die Frage der Verwaltung des Internets bleibt umstritten, da sie viele Auswirkungen hat – politische, wirtschaftliche, sicherheitsbezogene und soziale. Die Erklärung hält es daher für wichtig, allen Ländern gleiche Rechte bei der Regulierung des Internets einzuräumen und dabei die Souveränitätsrechte der Staaten zu gewährleisten, um es in ihrem nationalen Segment zu verwalten. Die tatsächliche Praxis in den Staaten der SOZ zur Kontrolle über das Internet ist jedoch unterschiedlich.
Indien, das den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat, hat sich, wie zuvor auch schon, dem Teil der Erklärung zu Fragen der Proliferation nicht angeschlossen. In ähnlicher Weise schloss sich Indien von der Unterstützung der chinesischen Belt and Road Initiative (BRI) aus, während sich die anderen Mitgliedsstaaten zudem für die Umsetzung des Fahrplans für eine schrittweise Erhöhung des Anteils nationaler Währungen aussprachen – für jene Mitgliedsstaaten, die daran ein Interesse zeigen. Dies scheint ein eher leiser Schritt dahingehend zu sein, dem US-Dollar als Weltwährung den Rücken zuzukehren.
Die Bedenken Russlands, denen auch andere Staaten, darunter Indien, zustimmen, über den einseitigen und unbegrenzten Ausbau globaler Raketenabwehrsysteme durch bestimmte Länder oder Ländergruppen, der sich negativ auf die internationale Sicherheit und Stabilität auswirkt, sind thematisiert worden. Außerdem wird die vollständige Einhaltung des Übereinkommens über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über deren Vernichtung gefordert sowie die Überbrückung der Spaltung innerhalb der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) und die Gewährleistung ihrer Integrität und operativen Wirksamkeit. Russland steht der Funktionsweise der OPCW kritisch gegenüber.
Chinas oft wiederholtes Mantra über die Zusammenarbeit beim Aufbau einer neuen Form der internationalen Beziehungen sowie die Bildung einer gemeinsamen Vision zur Schaffung einer Gemeinschaft für das kollektive Schicksal der Menschheit wurde in der Erklärung ebenfalls berücksichtigt. Der Verweis auf zuverlässige, belastbare und diversifizierte Lieferketten war ein Thema, das von Indien angesprochen wurde und das es in der Vergangenheit bei verschiedenen internationalen Foren vorgebracht hat aufgrund seiner eigenen Erfahrungen während der COVID-19-Krise und der Konzentration strategischer Rohstoffe und Lieferketten in bestimmten Regionen.
Eine schnelle Lösung der Situation in Afghanistan wird als einer der wichtigsten Faktoren zur Erhaltung und Stärkung der Sicherheit und Stabilität im Gebiet der SOZ erkannt. In der Erklärung wird die Bildung einer inklusiven afghanischen Regierung als wesentlich erachtet, unter Beteiligung von Vertretern aller ethnischen, religiösen und politischen Gruppen der afghanischen Gesellschaft. Die Frage der formellen Anerkennung des Taliban-Regimes wird im Dokument nicht angesprochen.
In der Erklärung wird zu Recht betont, dass die einseitige Anwendung anderer Wirtschaftssanktionen als jener, die vom UN-Sicherheitsrat genehmigt wurden, mit den Grundsätzen des Völkerrechts unvereinbar ist und sich negativ auf Drittländer und die internationalen Wirtschaftsbeziehungen auswirkt.
Alles in allem ist die Erklärung von Neu-Delhi ein sorgfältig ausgewogenes, pragmatisches und nicht rhetorisches Dokument, das die Herausforderungen anspricht, vor denen die Welt heute steht, und wie sie prinzipiell und in der Praxis angegangen werden sollten.
Mehr zum Thema – Die eurasischen Staatschefs haben eine Stärkung der Beziehungen innerhalb der SOZ gefordert
Aus dem Englischen.
Kanwal Sibal ist ehemaliger indischer Außenminister und war zwischen 2004 und 2007 Botschafter in Russland. Er war zudem auch Botschafter in der Türkei, in Ägypten und in Frankreich und war stellvertretender Missionschef in Washington.
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