Meinung

Eine Stunde länger arbeiten? Das ist keine Lösung, Herr Kretschmer!

Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer hat sich zu Wort gemeldet und fordert eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit um eine Stunde. Wegen des Fachkräftemangels und für die Sozialversicherungen. Das geht wie üblich in die falsche Richtung.
Eine Stunde länger arbeiten? Das ist keine Lösung, Herr Kretschmer!Quelle: www.globallookpress.com © Daniel Schäfer

Von Dagmar Henn

Typisch. Jetzt sollen alle eine Stunde pro Woche länger arbeiten, für die "Bekämpfung des Fachkräftemangels" und die Sicherung der Sozialversicherungen? Diese tolle Idee hatte jetzt der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer. Und außerdem will er noch die Frühverrentung abschaffen und den Anspruch auf Teilzeitarbeit einschränken.

Ernsthaft? Für einen Ministerpräsidenten erweist sich Kretschmer damit als erstaunlich schlecht informiert. Oder er belügt seine Wähler mit Absicht. Was bedeutet denn diese eine Stunde mehr pro Woche? Er spricht nicht von einem Lohnausgleich, also wären das zwischen 2,85 und 2,5 Prozent Lohnsenkung, je nachdem, ob die Wochenarbeitszeit 35 oder 40 Stunden beträgt. Genau das, was die Beschäftigten bei wegen der Inflation ohnehin fallenden Reallöhnen brauchen.

Auch seine Idee, die Frühverrentung abzuschaffen, ist Rosstäuscherei. Tatsächlich gehen die meisten wegen der Abzüge, die bei früherem Rentenantritt stattfinden, nicht später in Rente, sondern schlicht mit weniger Geld. Was insbesondere bei den ohnehin niedrigen Renten der Frauen das Risiko der Altersarmut erhöht, aber kein bisschen am beklagten Fachkräftemangel ändert oder die Sozialversicherung stabilisiert.

Ja, hätte man vor 20, 30 Jahren eine kinderfreundlichere Politik verfolgt und sichergestellt, dass beispielsweise Mütter nach der Trennung von Kindsvätern nicht in der Armut landen, dann müsste man heute auch nicht herumtönen und nach Lösungen für einen Fachkräftemangel suchen. Auch die Betriebe könnten sich an die eigene Nase fassen, weil sie seit Jahrzehnten an den Ausbildungsplätzen knapsen, und sogar die Gewerkschaften, weil sie, um das duale System der Berufsausbildung zu erhalten, es eben zulassen, dass der Anteil junger Leute ohne Berufsausbildung steigt, statt eine staatlich organisierte Berufsausbildung zu fordern.

Das allergrößte Problem der deutschen Sozialversicherungen werden Kretschmers Vorschläge allerdings eher verschärfen als lösen. Es handelt sich nämlich um die geringen Löhne, den berühmten deutschen Niedriglohnsektor, der dazu führt, dass der Lohnanteil am Gesamteinkommen sinkt und damit logischerweise auch die Zahlungen an die Sozialversicherungen geringer sind.

Wobei gerade die Lohndrückerei im unteren Bereich sich bei den Zahlungen an die Sozialversicherungen besonders bemerkbar macht – schließlich gibt es die Beitragsbemessungsgrenzen. Jeder Euro oberhalb eines Bruttoeinkommens von 59.850 Euro im Jahr oder 4.987,50 Euro im Monat erhöht den Beitrag in der Krankenversicherung nicht weiter, das Gleiche gilt für jeden Euro über 7.300 Euro für die Rentenversicherung. Die höchsten Einkommen zahlen also anteilig weniger Sozialversicherungsbeiträge. Gleichzeitig liegt die Lebenserwartung Ärmerer um zehn Jahre niedriger, sodass sie oft gar nicht selbst in den Genuss der von ihnen eingezahlten Rentenbeiträge kommen.

Wie gesagt, eine Arbeitszeitverlängerung um eine Stunde pro Woche ohne Lohnausgleich bedeutet schlicht eine Lohnsenkung. Eine Lohnsenkung ist ziemlich genau das Gegenteil dessen, was die Sozialversicherungen bräuchten. Hätten sich die Löhne in Deutschland vergleichbar entwickelt wie in den europäischen Nachbarländern, also um mittlerweile etwa 30 Prozent mehr, hätten die Sozialversicherungen auch um 30 Prozent mehr Einnahmen und damit überhaupt kein Problem mehr. Ganz zu schweigen von den enormen Entnahmen des Bundes aus der Rentenkasse, als sie noch Überschüsse hatte, von Leistungen, die eigentlich in den Bundeshaushalt gehört hätten, und vielem anderen mehr.

Aber die Panik, die Sozialversicherungen stünden vor dem Zusammenbruch, wird bereits seit 30 Jahren immer wieder geschürt, und die Antwort lautet stets Leistungskürzung. Oder Einwanderung (was dann wieder die Löhne im unteren Bereich unter Druck bringt, was dann wieder ...). Nie, überhaupt nie wird die wirkliche Lösung genannt: höhere Löhne.

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