Parallelgesellschaften und No-go-Areas: Unser "Wertesystem" produziert sie selbst
Von Susan Bonath
Die zerstörerischen Proteste in Frankreich nach der Tötung eines 17-Jährigen durch einen Polizisten machen der Oberschicht und der "bürgerlichen Mitte" zu schaffen. Präsident Macron sagte deshalb seinen Staatsbesuch in Berlin ab und erwägt sogar, die sozialen Netzwerke zu blockieren.
Die Regierung mobilisiert eine regelrechte Bürgerkriegsarmee von 45.000 Mann. Uniformierte Elite-Schläger verprügeln wahllos Leute und verhaften Tausende. Tränengas und Knüppel sind ihre Antwort auf die Unruhen. Ein weiterer junger Mensch starb durch eins der Gummigeschosse, massenhaft eingesetzt durch die Staatsmacht. Zwei Polizeigewerkschaften nannten die Demonstranten "Schädlinge". Angefeuert durch die Partei Rassemblement National unter Marine Le Pen, die den sofortigen Ausnahmezustand fordert, zieht der Apparat das volle Programm durch.
Die Welle aus Zerstörung, Brandschatzung und Plünderungen, die die Erschießung des Jugendlichen Nahel bei einer Verkehrskontrolle auslöste, erzürnt viele. In sozialen Netzwerken und einigen alternativen Medien wird erregt über angebliche frühere Taten des Getöteten spekuliert und das Opfer posthum zum bloßen Verbrecher abgewertet, als würde dies, selbst wenn es stimmen sollte, den Todesschuss durch die Staatsgewalt rechtfertigen. Wenn überhaupt, sollen sie doch friedlich protestieren, heißt es vielfach.
Unterdrückte Generationen
Doch wer sich über die gewalttätigen Ausschreitungen der französischen Vorstadt-Jugend echauffiert, darf die strukturelle Gewalt von der anderen Seite nicht leugnen. Man stelle sich vor, in dem Auto, in dem Nahel ohne unmittelbare Gefahr für den Beamten von diesem erschossen wurde, hätte ein hellhäutiger Jugendlicher aus gutem Hause gesessen. Vermutlich hätte es diesen Todesschuss nie gegeben.
Die strukturelle Gewalt des Staatsapparats kommt nicht immer so eindrücklich daher wie eine brennende Barrikade. Und sie hat eine lange Geschichte. Bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg war Frankreich eine aggressive Kolonialmacht, deren postkoloniale Ambitionen sich danach keineswegs in Luft auflösten. Nahels Vorfahren stammen laut Medien zum Teil aus Algerien, das sich erst 1962 nach einem fast ein Jahrzehnt andauernden blutigen Krieg von den Franzosen befreien konnte. Dort waren es die Besatzer, die Zerstörung, Zerrüttung, Elend, Leichenberge und eine traumatisierte Bevölkerung hinterließen.
Wie die BRD holte auch Frankreich während des Wirtschaftsbooms nach dem Krieg billige Arbeiter aus den von zuvor eigens ausgeplünderten Ländern zu sich. Man errichtete die riesigen Vorstadtsiedlungen aus Betonklötzen, die Banlieues, um sie unterzubringen. Sie blieben dort unter sich, denn sie sollten für möglichst wenig Lohn arbeiten, aber sonst niemanden stören. Statt Integration bekamen sie eigene Schulen, wo man ihre Kinder notdürftig ausbildete für eine neue Generation günstiger Arbeitskräfte.
Doch die Krisendynamik des Kapitalismus ist unerbittlich, viele Jobs verschwanden, für die Bewohner der Vorstädte blieb die unterste Kategorie der Hilfsarbeiten übrig, wenn überhaupt. In beengten Verhältnissen aufeinander hockend, verarmten die Menschen noch mehr. Wer in einer Banlieue zur Schule geht, hat später kaum eine Chance auf eine gute Ausbildung und eine Arbeit, von der man halbwegs gut leben kann. Die Ansage "Dann strengt euch doch mehr an!" ist zynisch.
Wie du mir, so ich dir
Wo unterprivilegierte Menschen mit geringen Perspektiven aufeinander hocken, keinen Ausweg aus der Armut sehen und sowieso keinen Zugang zur Mehrheitsgesellschaft haben, versuchen die Leute eben anders an Geld zu kommen. Durch Armut und Ausgrenzung züchtet die Bourgeoisie Bandenkriminalität, Drogenhandel, religiös motivierte Parallelgesellschaften und Ähnliches.
Wie manifest die Ausgrenzung ist, zeigt die Art der Debatte. Ab der unteren Mittelschicht aufwärts spricht man vorwiegend über diese Unterschicht, so wie man in Deutschland in Talkshows über "faule Hartz-IV-Empfänger" herzog. Mal bedauert man sie heuchlerisch, mal zieht man pseudo-sozialwissenschaftlich über sie her oder man wertet sie einfach pauschal ab, nach dem Motto: Selbst schuld.
Natürlich will diese Unterschicht dann nichts mehr mit "denen da oben" zu tun haben. Für den, der ganz unten ist, sind die da oben naturgegeben besonders viele. Dann organisieren "die da unten" sich eben selbst, entwickeln ihre eigene Art von rauer Kultur und Solidarität und begegnen den Ausgrenzern nach dem Motto: wie du mir, so ich dir, Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Ihre Möglichkeiten sind dabei freilich beschränkt, ihre Mittel andere als die des Staates und des Bürgertums. Organisierte Gewalt von unten ist in allererster Linie eine Art des Umgangs mit struktureller Gewalt von oben, die in Gestalt von Chancenlosigkeit, Armut, Ausgrenzung, abwertendem Umgang und ständigen Polizeikontrollen daherkommt. Es ist ein hilfloser Versuch der Abwehr von systematischer Entrechtung und Abwertung. Das begann nicht erst gestern, sondern hat eine lange Tradition.
Das ist eigentlich kein unbekanntes Phänomen. Eine spätmittelalterliche Ballade beschreibt einen Wegelagerer namens Robin Hood als Rächer der Enterbten, als Helden, der mit seinen vogelfreien Kameraden die Kutschen von Reichen überfiel und die Beute unter den Armen verteilte. Die modernen Kutschen zeigen sich in Gestalt von Bankhäusern, Fuhrparks, Hotel- und Ladenketten.
Gewalt erzeugt Gegengewalt
Wer ohne Anbindung an die Mehrheitsgesellschaft perspektivlos in einem abgeschotteten Getto aufwächst, lernt es nicht, mit der bürgerlichen Gesellschaft umzugehen. Die meisten Betroffenen wollen das auch gar nicht mehr, denn die ausgrenzende "Mitte" erleben sie als Feind, materiell, ideell und emotional. Die Leute entwickeln ein Gespür dafür, wer zu ihnen gehört und wer nicht, ein Gespür für bürgerlichen Habitus und Heuchelei. Das ist etwas grundsätzlich Trennendes.
Gesellschaften, die mit ihren politischen, wirtschaftlichen und Eigentumsverhältnissen soziale Ungleichheit fördern. Abstiegsängste beflügeln und die Ordnung mit einer repressiven Exekutive herzustellen versuchen, produzieren von ganz allein Parallelgesellschaften und "No-go-Areas", wo sich die Menschen abseits der bürgerlichen Normen selbst organisieren. Das muss man nicht gut finden, es liegt aber in der menschlichen Natur. Dort reicht dann ein kleiner Funke, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Die Tötung des 17-jährigen Jungen durch die Exekutive ohne Notwehr war zweifelsohne ein großer Funke, der die ganze, jahrzehntelang geschürte und verinnerlichte Wut erwartbar explodieren ließ. Wer das nicht will, muss für soziale Chancengleichheit und Integration kämpfen und darf nicht dafür sorgen, dass wenige immer reicher und viele immer ärmer werden. Eine prügelnde und tötende Polizei befeuert das Gegenteil. Gewalt erzeugt immer Gegengewalt, in Frankreich, Deutschland und überall.
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