Kachowka: Vom möglichen "Nutzen" einer Katastrophe
Von Dagmar Henn
Beim Anblick der Bilder der überfluteten Gebiete in Cherson fragt man sich natürlich, welchen Nutzen das für Kiew bringen soll. Klar, in allen westlichen Medien wird wieder einmal getönt, das sei zweifellos der böse Russe gewesen – weil er nun einmal böse ist. Dabei werden gerade auf russischer Seite logistische Kapazitäten gebunden, die damit für andere Zwecke nicht zur Verfügung stehen. Und die entlang des Dnjepr errichteten Befestigungen sind erst einmal nutzlos.
Aber man darf bei allen Überlegungen nicht vergessen, dass in Kiew vor allem propagandistisch gedacht wird, nicht militärisch. Und wenn man voraussetzt, dass der Gewaltakt einem propagandistischen Zweck dient, lässt sich auch vermuten, auf welchem Weg das fortgesetzt werden könnte.
Dazu muss man zuerst einmal die Fakten rekapitulieren. Das westliche Ufer des Dnjepr, derzeit unter ukrainischer Kontrolle, ist nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Höhe des Ufers weit weniger von Überflutungen betroffen, es wurde weitestgehend auch zwei Mal evakuiert – von russischer Seite vor dem vorsorglichen Abzug russischer Truppen, von ukrainischer Seite nach deren Vorrücken. Das heißt, es dürften überhaupt nur noch wenige Menschen in der Stadt Cherson und deren Umland leben.
Auf der weitaus stärker betroffenen, der östlichen Seite des Flusses ist das anders. Schließlich wurde dort in den letzten Monaten bereits wieder in die Infrastruktur investiert, um das Gebiet dem russischen Standard anzunähern.
Wie kann das Ganze nun für die Kiewer Seite nützlich sein? Nehmen wir einen aktuellen Tweet einer FDP-Bundestagsabgeordneten:
Die Lage in #KhersonOblast ist dramatisch, die Region braucht dringend #HumanitäreHilfe. Danke an das #THW, das auf dem Weg ist! Die Helfer können aber nur zum Einsatz kommen, wenn deren Sicherheit von #Ukraine & #Russland gewährleistet wird.https://t.co/C0CAza0Y1E
— Renata Alt (@RenataAlt_MdB) June 8, 2023
Und dann werfen wir noch einen Blick zurück, neun Jahre weit, in den Sommer 2014. Damals hatten Handlungen der ukrainischen Seite insbesondere im belagerten Donezk zu einer Notlage geführt; die Stadt wurde von der Nahrungsmittelversorgung abgeschnitten, Wasser und Strom wurden von der ukrainischen Armee regelmäßig sabotiert. Aus Russland machte sich ein erster großer Hilfskonvoi auf den Weg. Kiew stellte Bedingungen, der Konvoi müsse über eine von ukrainischer Seite kontrollierte Grenzstation einfahren und zuvor kontrolliert werden. Der Konvoi fuhr den benannten Grenzübergang an und wurde kontrolliert, aber nicht über die Grenze gelassen. Dann wurde er zu einem anderen Grenzübergang geschickt, wo er wieder einige Tage stand. Bis die Lieferung schließlich dann eben doch über einen nicht mehr von ukrainischer Seite kontrollierten Übergang erfolgte.
Dieses Verhalten ist einer der ersten Punkte auf der Liste weiterer ukrainischer Kriegsverbrechen, da humanitäre Lieferungen nach den Genfer Konventionen nicht behindert werden dürfen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, das damals gefordert worden wäre, die Ukraine eindringlich auf diese Tatsache hinzuweisen, verhielt sich allerdings auch 2014 schon mucksmäuschenstill. Die Berichterstattung in den deutschen Medien damals enthielt ebenfalls keine einzige Zeile, die an diese Bestimmung des Kriegsvölkerrechts erinnerte. Im Gegenteil, der russische Hilfskonvoi wurde kommentiert und behandelt, als handele es sich dabei um Waffenlieferungen, obwohl die Ladung gründlich geprüft war.
Was sich augenblicklich abzeichnet, ist ein Versuch, dieses Spiel gewissermaßen umgekehrt zu wiederholen. Die Überflutung des nunmehr russischen Gebiets (denn es nicht zu vergessen: das ist seit dem Referendum der dort lebenden Bevölkerung Teil der russischen Föderation) wird als Vorwand genutzt werden, um zu fordern, dass nun ganz dringend Hilfslieferungen aus dem Westen eingelassen werden müssen, und zwar von ukrainischer Seite kommend – was Russland natürlich ablehnen wird, ja, ablehnen muss.
Zum einen, weil auch den westlichen Hilfsorganisationen nach all den Jahren seit 2014, in denen sie den isolierten Donbass fast vollständig ignorierten, nicht getraut werden kann, und weil die ukrainische Armee schon oft Krankenwagen und humanitäre Transporte zweckentfremdet hat. Aber zum anderen auch deshalb, weil eben nach russischem Recht die Region Cherson ein Teil Russlands ist und daher auch für Hilfslieferungen von russischer Seite aus angefahren werden muss. Alles andere wäre eine Preisgabe der ohnehin vom Westen permanent angezweifelten Souveränität. Wie man am obigen Beispiel sehen kann, hatte Russland damals bei der ersten Lieferung in den Donbass sein Bestes versucht, den ukrainischen Wünschen entgegenzukommen, bis klar geworden war, dass der Transport von der Ukraine in ihr eigenes Territorium unter keinen Umständen durchgelassen würde.
Die Erzählung, die jetzt in den westlichen Medien konstruiert werden könnte, liest sich so: Erst sprengen die "bösen Russen" den Staudamm, dann behindern sie noch die Versorgung der notleidenden ukrainischen Bevölkerung, was beweist, wie schrecklich die "russische Besatzung" für diese Menschen ist und wie dringend man doch Kiew unterstützen muss. Das wird an der militärischen Lage zwar nichts ändern, aber weil man natürlich – im Gegensatz zur ukrainischen "Antiterrormaßnahme" gegen den Donbass seit 2014 – hundert Mal am Tag darauf verweisen wird, dass humanitäre Lieferungen laut der Genfer Konventionen nicht behindert werden dürfen, sorgt das zumindest für eine Verstärkung der Horrorgeschichte von den ukrainischen Opfern und den russischen Tätern. Und so, wie sich die Stimmung der Bevölkerung in den westlichen Ländern zuletzt entwickelt hat, ist eine solche Verstärkung des eigenen Narrativs dringend erforderlich.
In diesem Zusammenhang ergibt es natürlich auch einen Sinn, dass die Wasserkraftwerke, die oberhalb des zerstörten Staudamms liegen und unter ukrainischer Kontrolle sind, mitnichten ihre eigenen Schleusen gedrosselt haben, um ein schnelleres Zurückweichen der Überflutungen zu ermöglichen, sondern im Gegenteil unverändert beständig Wasser nachliefern. Gerade so, wie sie übrigens zuvor schon dafür gesorgt hatten, dass das Reservoir vor dem Angriff auch maximal gefüllt war.
Nun, wir werden sehen, wie laut in Westeuropa jetzt von einer humanitären Katastrophe getönt werden wird und ob sie in diesem Drama den nächsten Akt wirklich aufführen werden. Zum bisherigen Zynismus in Kiew und Washington würde es auf jeden Fall passen.
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