Meinung

Kaum Beweise: Was die Verfahren gegen Michael Ballweg und Lina E. gemeinsam haben

Die langjährige Haftstrafe gegen und die vorübergehende Freilassung von Lina E. sorgten in beiden politischen Lagern für hochgekochte Emotionen. Ein sachlicher Blick auf die Fakten aber fördert tatsächlich extreme Mängel zutage, die eines Rechtsstaates unwürdig sind.
Kaum Beweise: Was die Verfahren gegen Michael Ballweg und Lina E. gemeinsam habenQuelle: www.globallookpress.com © Sebastian Kahnert/dpa

Von Susan Bonath

Fünf Jahre und drei Monate Haft: Das Urteil gegen Lina E. und ihre vorübergehende Freilassung gegen Auflagen ließ die Gemüter hochkochen. "Schauprozess!", kritisieren die einen. "Linksextremer Terror!", rufen die anderen und fordern eine härtere Strafe. Meist unerwähnt blieben die realen Umstände des Verfahrens. Ein sachlicher Blick auf diese zeigt: Es gibt tatsächlich schwere Mängel, die auf ähnliche Justizwillkür bei extrem dünner Beweislage hindeuten, wie im Verfahren gegen "Querdenken"-Gründer Michael Ballweg.

2,5 Jahre U-Haft und harte Strafe trotz fehlender Beweise

So konnte das Dresdner Oberlandesgericht (OLG) in knapp 100 Verhandlungstagen keine konkreten Beweise dafür vorlegen, an welchen Taten sich Lina E. tatsächlich selbst beteiligt hatte. Auch die Existenz einer "kriminellen Vereinigung", also einer bestimmten Gruppe mit einem Namen oder mindestens einschlägigem Treffpunkt, konnte es nicht belegen. Von dieser namenlosen, unbewiesenen Vereinigung jedoch soll Lina E. eine Art Rädelsführerin gewesen sein.

Trotz der bis heute dünnen Beweislage saß Lina E. bereits mehr als 2,5 Jahre in Untersuchungshaft. Dafür, und für sein Urteil, stützte sich das OLG weitgehend auf die Aussagen von Mitgliedern der militanten Eisenacher Neonazi-Gruppe "Knockout 51", die seit kurzem ihrerseits wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt sind, auf von Neonazis angelegte "Dossiers" und einen fragwürdigen Kronzeugen.

Das OLG hielt Lina E. letztlich für schuldig, an zwei Überfällen auf das rechte Szene-Lokal "Bull's Eye" in Eisenach und einem brutalen Angriff auf einen Kanalarbeiter in Leipzig beteiligt gewesen zu sein. Auch habe sie bei einer Attacke auf einen Funktionär der JN, der Jugendorganisation der NPD, und einen Mann aus der Neonazi-Kameradschaftsszene in Wurzen mitgemacht. Die Taten ereigneten sich zwischen 2018 und 2020. Drei Mitangeklagte verurteilte das Gericht zu Haftstrafen zwischen knapp 2,5 und gut drei Jahren.

Eisenacher Opfer verübten zuvor Anschläge auf "Linke"...

Der Wirt des "Bull's Eye", Leon Ringl, der ein Hakenkreuz auf seinem Oberschenkel tätowiert haben soll, war bis etwa Mitte 2022 als Opfer zweier Angriffe der Hauptzeuge im sogenannten Antifa-Ost-Verfahren. Seine Aussagen bildeten eine maßgebliche Grundlage für die lange Untersuchungshaft von Lina E. und ihre jetzige Verurteilung. Mit den Überfällen auf Ringls Lokal hätten Lina E. und ihre Gruppe den friedlichen politischen Meinungskampf infrage gestellt und eine Gewaltspirale angeheizt, mahnte die Bundesanwaltschaft seit Beginn des Verfahrens.

Doch wie jeder Krieg im Großen haben auch die Überfälle in Eisenach eine Vorgeschichte, und die ist der Bundesanwaltschaft bekannt. Diese ermittelt nämlich seit über einem Jahr auch gegen das Opfer Ringl und etwa 50 Mitglieder oder Nahestehende der von ihm gegründeten militanten Neonazi-Gruppe "Knockout 51". Diese stuft sie ebenfalls als kriminelle Vereinigung ein.

Bereits 2019 sollen der Justiz mindestens 60 Straftaten dieser Gruppe aus den Jahren 2015 bis 2018, vor allem gegen mutmaßliche "Linke" und Ausländer, bekannt gewesen sein, darunter schwere Körperverletzungen und Verstöße gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz. Von "friedlichem Meinungskampf" kann also keine Rede sein.

... und wollten Corona-Demos vom politischen Gegner säubern

Nach umfangreichen Hausdurchsuchungen ließ die Bundesanwaltschaft am 6. April 2022 Ringl und drei weitere Mitglieder der Gruppe verhaften. Nun hat sie Anklage gegen diese vier Mitglieder erhoben, wie mehrere Medien, darunter der MDR und das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), übereinstimmend berichteten.

Die Justiz wirft Ringls "Kampfsportgruppe" vor, sich auf den bewaffneten Kampf gegen Linke, Polizisten und sonstige politische Gegner vorbereitet zu haben. Über Ringls Lokal habe die Gruppe versucht, junge Männer dafür anzuwerben. Spätestens seit 2021 habe sie beabsichtigt, mutmaßliche Angehörige der linken Szene, also politische Gegner, zu töten und sich dafür entsprechende Waffen zugelegt.

Ringls Gruppe soll sich immer wieder auch unter Querdenken-Demos gemischt haben, um zur Gewalt aufzustacheln und die Aktionen von Linken zu säubern. Bereits im Februar 2021 sollen er und seine Kameraden Mitglieder der Gruppierung "Freie Linke", die an einer Querdenken-Demonstration in Kassel teilgenommen hatten, angegriffen und auf sie eingeprügelt haben. Ihr Ziel sei es gewesen, "national befreite Zonen" zu schaffen, so wie man es von den Neonazi-Kameradschaften der 1990er Jahre kannte.

Schuldspruch auf Basis fragwürdiger Indizien

Dass Lina E. an mindestens einem Überfall auf das Nazilokal beteiligt gewesen sein soll, beruht offenbar maßgeblich auf der Aussage eines damals 18-jährigen Zeugen, welcher der Gruppe um Ringl nahestand, 2022 aber selbst von dieser zusammengeschlagen worden sei. Der Zeuge habe allerdings lediglich gesehen, wie nach einem Angriff im Oktober 2019 eine Frau das Lokal verlassen habe. Unklar ist, ob er für diese Aussage von (ehemaligen?) Kameraden unter Druck gesetzt wurde.

Wer diese Frau gewesen sein soll, konnte nicht ermittelt werden. Außerdem ist die Glaubwürdigkeit des Zeugen zweifelhaft. So verstrickte er sich bei der Befragung vor Gericht in zahlreiche Widersprüche. Er beteuerte etwa, sich kurz vor dem Überfall in einem nahen Supermarkt Zigaretten gekauft und wegen der Coronamaßnahmen eine Maske getragen zu haben, obwohl von Corona damals noch keiner etwas wusste.

Dieser Zeugenaussage fügte das Gericht seine eigene Deutung hinzu: Weil mutmaßlich der Lebensgefährte von Lina E., Johann G., an dem Überfall beteiligt gewesen war, was ebenfalls nicht zweifelsfrei belegt ist, müsse seine Freundin auch dabei gewesen sein, "gestützt" durch den Zeugen, der "eine Frau" gesehen habe. Diese magere Indizienkette wackelte umso mehr, als sich herausstellte, dass ein weiterer Mitangeklagter zur Tatzeit gar nicht in Eisenach war.

Wer überfiel den Kanalarbeiter?

Von besonderer Brutalität war zweifelsohne der Überfall auf einen Kanalarbeiter in Leipzig, weil dieser wohl Kleidung trug, die in der Neonazi-Szene in ist. Mit "Linksextremismus" hat dies erst einmal wenig zu tun, da Angriffe auf Arbeiter alles andere als politisch links sind. Das ändert aber nichts daran, dass Gerichte Angeklagten Taten nachweisen müssen. Genau daran mangelt es im Fall Lina E. auch hier. Die "Indizienkette" des OLG ist ähnlich abenteuerlich wie die zu den Überfällen auf das Lokal in Eisenach.

So stützt sich das Gericht zum einen auf die Aussage eines Zeugen, der eine unbekannte Frau wahrgenommen haben will. Zum anderen beruft es sich auf ein abgehörtes Telefonat. E.'s Lebensgefährte Johann G. soll zwei Mitangeklagte kurz nach dem Überfall angerufen und zunächst gesagt haben, dass "so ein Kanalarbeiter verkloppt" worden sei. Später habe er erwähnt: "Das waren wir."

Wen G. mit "wir" gemeint hat, blieb jedoch im Dunkeln. So interpretierte das Gericht in diese Aussagen selbst hinein: Der Angeklagte könne damit nur auf seine Freundin, Lina E., angespielt haben. Außerdem habe sich E.'s Wohnung nicht sehr weit vom Tatort entfernt befunden. Mit anderen Worten: Weil E.'s Freund am Telefon gesagt hat, den Überfall hätten "wir" verübt, und überdies am Tatort eine Frau wahrgenommen worden sei, käme nur E. als Mittäterin infrage, die zudem in der Nähe gewohnt haben soll...

Nutzten die Staatsorgane Neonazis als Hilfssheriffs?

Angesichts dessen, dass die Bundesanwaltschaft der Eisenacher Nazigruppierung nun ebenfalls die Bildung einer kriminellen Vereinigung inklusive massiver Straftaten gegenüber "Linken" vorwirft, stellt sich zunächst die Frage, warum das OLG deren Aussagen als besonders glaubwürdig einstufte.

Mehr noch: Die Verteidigung kritisierte während der Verhandlungen, dass Leon Ringl und sein Kamerad Maximilian A. ihre Aussagen mehrfach abänderten. Offensichtlich passten sie diese den aktuellen Ermittlungsergebnissen an, obwohl sie über diese gar nicht vorab informiert gewesen sein dürften. Die Verteidigung vermutete eine geheime Zusammenarbeit zwischen Justiz und Neonazis.

Hier kommen noch zwei weitere politische Akteure ins Spiel: Brian E. und Enrico B. aus Wurzen, die der Jugendorganisation der NPD sowie der Kameradschaftsszene nahestehen. Beide räumten vor Gericht ein, dass ihre Gruppen Dossiers über Linke in ihrem Umkreis, darunter auch die Gruppe von Lina E., erstellt und sie diese an die polizeiliche "Soko Linx" übermittelt hatten. Die Polizei übernahm diese in die Ermittlungsakte.

Diese Ermittlungen der "Soko Linx" mit jenen Dossiers aus der Wurzener Naziszene sowie Aussagen der Eisenacher Schlägergruppe "Knockout 51" bilden die Grundlage für den Vorwurf gegen Lina E., eine Art Rädelsführerin und Haupttäterin gewesen zu sein. Dabei spricht vieles eher für andere Haupttäter, also gegen dieses Konstrukt, zumal nicht einmal die Existenz einer organisierten Gruppe nachgewiesen wurde.

Und plötzlich taucht ein "Kronzeuge" auf

Nachdem die angegriffenen Neonazis um Leon Ringl vor gut einem Jahr selbst wegen Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung verhaftet worden waren, tauchte plötzlich, etwa zur Halbzeit des Prozesses, ein "Kronzeuge" auf: Johannes D., selbst ein weiterer Beschuldigter im sogenannten Antifa-Ost-Verfahren. Wie es dazu kam, lässt sich zum Teil rekonstruieren.

Johannes D. stand ebenfalls schon länger im Fokus der Ermittler. Im Jahr 2017 soll die Polizei sein E-Mail-Postfach durchsucht haben. Dabei sei sie auf Nachrichten gestoßen, in denen seine Ex-Partnerin schwere Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn erhoben hatte. Später eröffnete die Staatsanwaltschaft deshalb ein Verfahren gegen ihn, im Zuge dessen er sich als "Kronzeuge" anbot.

Das Sexualstrafverfahren gegen D. stellte die Staatsanwaltschaft daraufhin ein. Wegen Körperverletzung erhielt er eine Bewährungsstrafe und kam ins sogenannte Zeugenschutzprogramm. Im Prozess trat er schließlich als Experte für die "linke Szene" auf, berichtete etwa davon, dass die Gruppe um Lina E. für Angriffe trainiert habe. Er bestätigte ohne weiteren Beleg die Aussagen der Neonazis: Die Studentin sei "Rädelsführerin" gewesen.

Genauso wenig konnten die Richter die Existenz einer organisierten kriminellen Vereinigung nachweisen. Dieses Konstrukt ermöglicht es der Polizei und der Justiz nun allerdings, mutmaßliche Mitläufer oder "Unterstützer" dieser angeblichen "Vereinigung" hart zu bestrafen, ohne ihnen selbst konkrete Straftaten nachweisen zu müssen. Schon Kontaktpersonen laufen damit Gefahr, vor dem Kadi zu landen.

Auch die Tatsache an sich, dass in einem Prozess gegen Mitglieder der sogenannten "linken Szene" plötzlich ein – als gewaltbereit und aufrührerisch beschriebener – Angeklagter als Kronzeuge auftaucht und dafür selbst nun samtweich davonkommt, ist einigermaßen seltsam und entspricht nicht gerade dem Selbstverständnis in dieser Szene. Denn jede Zusammenarbeit mit Polizei und Justiz ist dort verpönt. Man könnte zumindest die Überlegung anstellen, ob Johannes D. gar selbst als "Agent provocateur" oder V-Mann agierte. Aber das ist derzeit nicht beweisbar und eine rein spekulative Überlegung.

Straftaten gehören immer ordentlich aufgeklärt

Festzuhalten bleibt: Dass aufgrund einer derart dünnen und widersprüchlichen Beweislage eine junge Frau erst zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft gesteckt und dann zu mehr als fünf Jahren Gefängnis verurteilt wird, widerspricht tatsächlich rechtsstaatlichen Vorgaben zur Beweiserhebung. Die gesamte Prozessführung erfolgte offenbar nach dem Motto, irgendjemanden für die Taten hinter Gitter zu bringen.

Auch einigen alternativen Medienmachern sei hier ans Herz gelegt, Fakten gründlich zu recherchieren und sich dabei nicht allzu sehr von Emotionen treiben zu lassen, zum Beispiel von der Wut auf selbsternannte "Antifa"-Gruppen, weil diese gemeinsam mit SPD und Grünen für Zwangsimpfungen demonstrierten. Wie Lina E. und ihre mutmaßliche Gruppe persönlich dazu standen, lässt sich ohnehin nicht sagen.

Das Motto, es treffe schon die Richtige, hat mit einem demokratischen Gerichtsverfahren nichts zu tun, umso mehr dafür mit Lynchjustiz – und zwar durch denselben Staat, der bei vielen Kritikern wegen seiner drakonischen Corona- und Impfpolitik nicht gerade an Beliebtheit gewann.

Lässt man dies dem Staat nun durchgehen, sobald es den politischen Gegner trifft, steht einer weiteren Aufweichung bürgerlicher Rechte nichts im Wege. Dann kann ein unfaires Verfahren ausnahmslos auch jeden anderen treffen, der oder die unserer Regierung nicht gefällt. Verfahren, wie das gegen Michael Ballweg, könnten zur Regel werden. Hier mit zweierlei Maß zu messen, hilft darum nicht weiter. Straftaten gehören immer ordentlich aufgeklärt, und das geschah im Fall Lina E. genauso wenig wie im Verfahren gegen Ballweg.

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