Meinung

Der Krieg der selbst gewählten Gedankenlosigkeit

Der Krieg hat mich in den vergangenen gut 50 Jahren immer wieder beschäftigt. Ich meine damit sowohl Kriege der jüngeren Zeit, die über den ganzen Globus verteilt stattfinden, als auch den Ersten und Zweiten Weltkrieg. Es hat bis in die Gegenwart hinein gedauert, um zu verstehen, wie Deutschland immer wieder mit Krieg in Kontakt kommt.
Der Krieg der selbst gewählten GedankenlosigkeitQuelle: www.globallookpress.com © Yevgeny Khaldei /Voller Erst/dpa-Zentralbild

Von Tom J. Wellbrock

Als ich in jungen Jahren politisiert wurde und mich selbst mit friedenspolitischen Themen zu befassen begann, war der Krieg für mich immer ein Mysterium, da ich das Prinzip des gegenseitigen Tötens nicht verstehen konnte und wollte. Wie man eben so denkt im jugendlichen Alter und mit der Überzeugung, ewig leben zu können. Heute, da ehemalige Kriegsdienstverweigerer offen kundtun, ihre damalige Entscheidung inzwischen zu bereuen, verstehe ich all das ein wenig besser. Was wohl auch an der in mehr als 50 Jahren gewachsenen Erkenntnis liegt, dass ich doch nicht ewig leben werde.

Ich bin übrigens selbst ein Kriegsdienstverweigerer. Und meine Entscheidung würde heute noch genauso ausfallen wie damals, als ich mich durch eine perverse Gewissensprüfung kämpfen musste. Weder schäme ich mich für meine Verweigerung, noch fühle ich mich genötigt, sie zu erklären oder mich zu rechtfertigen. Der Krieg war damals für mich nicht akzeptabel, und er ist es auch heute nicht. Wobei ich hinzufügen muss, dass ich – im Gegensatz zu meiner Jugendzeit – kein absoluter Pazifist mehr bin. Ich glaube tatsächlich, dass der kompromisslose Pazifismus etwas für gewaltlose Helden ist, für Romanfiguren und für Träumer.

Was nicht heißt, dass ich nicht gern Pazifist wäre. Kaum ein Wunsch könnte größer sein als die realistische Vorstellung, ein gänzlich friedliches Leben wäre möglich. Aber dann kommt der Mensch ins Spiel, die Politik, die Macht, die Gier, der Hass, der Neid, der Ausbreitungswille und vieles mehr. Auf der ganzen Welt werden Kriege geführt, aus unterschiedlichen Beweggründen, die sich letzten Endes aber doch ähneln oder gar gleichen. Das Ende der "Nahrungskette" bilden dabei die Zivilisten. Männer, Frauen, Kinder, sie leiden ohne die geringste Aussicht auf Gegenwehr oder die Möglichkeit der Einflussnahme auf den Kriegsverlauf.

Den Beginn der "Nahrungskette" bilden wiederum die Entscheider. Die, die der Meinung sind, ein Krieg könne etwas bewirken, zum Besseren umlenken. In der Regel ist dieses "Bessere" nur die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und die Erreichung ihrer auf Vermehrung von was auch immer gerichteten Ziele. Es ist wohl überflüssig zu erwähnen, dass diese Motivation nicht kommuniziert wird. Dass stattdessen von Werten gesprochen wird, vom animalischen Feind. Und ebenso überflüssig ist es, zu betonen, dass jeder Krieg ein "Verteidigungskrieg" ist. Jeder symbolische Schuss, der abgefeuert wird, ist das Ergebnis eines zuvor abgefeuerten Schusses, der vom Feind kam. Und dieser Feind verkörpert das Böse, das Irre, das Wahnsinnige. Dabei spielt es keine Rolle, ob es diesen ersten Schuss gegeben hat. Notfalls wird er im Nachhinein konstruiert und diese Konstruktion so lange als Wahrheit verkauft, bis die Menschen daran glauben.

Die Wirklichkeit ist das Ergebnis von Kommunikation, das wussten zahlreiche Denker schon lange vor uns. Und unser Leben besteht zu einem Großteil aus Kommunikation, wohl mehr als zu jeder anderen vergangenen Zeit. Somit ist die Kommunikation heute ein so gravierender Teil unserer Wirklichkeit, dass sie in der Lage ist, unseren Blick zu vernebeln und uns "Fakten" zu präsentieren, die allein durch die Wiederholung der Kommunikation glaubhaft werden. Während eine möglichst vielfältige Darstellung von Fakten es uns erlaubt, anhand unterschiedlicher Faktoren zu urteilen und dabei eine allmähliche Annäherung an die Realität zu erreichen, ist die einseitige Darstellung eines Sachverhalts geeignet, das eigene Denken und die eigene Wahrnehmung zu verengen. Am Ende sind wir so abgestumpft, dass wir nicht mehr in der Lage sind, unserer eigenen Wahrnehmung zu misstrauen. Wir übernehmen stattdessen die vorgefertigte Realität, die uns angeboten wird.

Diese Form der Kommunikation bildet die Grundlage für das Führen von Kriegen.

Wie war das möglich?

Was ich mich als Jugendlicher gefragt habe, haben sich unzählige Menschen vor mir und nach mir auch schon gefragt: Wie ist es möglich, bei Völkern eine Begeisterung für den Krieg zu erzeugen? Man hat die Bilder gesehen und die historischen Schilderungen gelesen, die den Enthusiasmus der Menschen zeigten, als sie im Ersten und Zweiten Weltkrieg in die Stiefel stiegen und zu den Waffen griffen. Wir kennen also den Punkt, an dem die dargebotene Wirklichkeit die Macht über die Köpfe und die Herzen der Menschen übernommen hat und sie zu Handlungen bewog, die zuvor undenkbar waren.

Wie gesagt, durch einseitige Kommunikation ist es möglich, Menschen eine Wirklichkeit zu vermitteln, der sie sonst misstrauen würden. Sicher kennen Sie, liebe Leser, das Prinzip der optischen Täuschungen. Auf einem Bild sehen wir entweder eine Blumenvase oder zwei Gesichter im Profil, die einander anschauen. Die meisten Menschen sind in der Lage, (zuweilen) durch ein bisschen Training sowohl die eine als auch die andere Darstellung zu erkennen. Meist ist dafür aber das Wissen notwendig, dass man das Bild auf verschiedene Weise interpretieren kann. Warum auch sollten Sie an zwei Gesichter denken, die Sie nicht wahrnehmen können, wenn Sie doch eindeutig die Vase sehen?

Die politische und mediale Kommunikation mit Hinblick auf das Vorgehen der eigenen Regierung bietet Ihnen nur die Vase an. Sie weiß um die beiden Gesichter, verheimlicht Ihnen diese Tatsache aber. Mit Hinblick auf den Kriegsgegner ist es um Einiges schlimmer. Auch hier wird Ihnen eine unvollständige, in der Regel manipulierte Wirklichkeit angeboten. Und sie engt Ihren Blick mehr ein, als dass sie ihn weiten würde. Mehr als Ihre geweiteten Augen, wenn Sie sich einem Gewehrlauf gegenübersehen, kommt nicht in Betracht. Der Rest ist verengte Wahrnehmung, die ausblendet, was Sie von Ihren fremd aufgebauten Überzeugungen abbringen könnte. So werden die Menschen auf den Krieg vorbereitet, es ist eine Kombination aus Weglassen, Selektieren und Lügen.

Wenn ein gewisser Punkt erreicht ist, nimmt die Notwendigkeit der Propaganda ab. Sie begleitet Sie eine Weile als Krücke, als Mahnmal, das Ihnen immer wieder in Erinnerung ruft, worauf es ankommt. Parallel dazu nimmt die Skrupellosigkeit der Kriegstreiber zu. Sie verharmlosen – um bei aktuellen Geschehnissen zu bleiben – etwa Uranmunition und betrachten Angriffe auf russischen Boden als unproblematisch. Sie können beginnen, das genaue Gegenteil dessen zu sagen, was noch kurze Zeit vorher ihre Überzeugungen waren, siehe insbesondere die Grünen. Sogar die selbst herbeigeführte Eskalation und somit gesteigerte Kriegsgefahr können Sie als unwesentliche Randnotiz abtun, die meisten Menschen sind an diesem Punkt nicht mehr in der Verfassung, den Ernst der Lage zu erkennen.

Wir sind an diesem extrem gefährlichen Punkt angekommen. Es gibt kaum noch Taten der Politik, die nicht irgendwie durch weite Teile der Bevölkerung gerechtfertigt würden. Durch die wiederholte Indoktrination des äußeren Feindbildes ist die individuelle Wahrnehmung gestört, durch die Verengung der Gedanken und die Fixierung auf die unvollständigen Erzählungen ist für ein Für und Wider kein Platz mehr. Differenziertes Denken ist der pauschalen Bewertung stereotyper Einordnungen gewichen.

Es müsste nicht passieren!

Doch das ist nicht alles. Es wäre zu einfach, die scheinbar perfekt orchestrierte Propaganda allein verantwortlich zu machen für die Möglichkeit, Krieg zu führen. Schließlich nimmt der Mensch für sich in Anspruch, ein autarkes, selbst denkendes und handelndes Wesen zu sein. Er wird auch nicht müde, diese Eigenständigkeit bei jeder sich bietenden (oder auch nicht bietenden) Gelegenheit zu erwähnen, zu betonen und – wenn es sein muss – zur Untermauerung kräftig mit den Füßen zu stampfen.

Aus dieser Eigenständigkeit entsteht aber nicht nur das Recht auf ebendiese, sondern auch die Verpflichtung, sie sich in Erinnerung zu rufen, wenn es einmal unbequem wird. Daran hapert es jedoch. Denn wenn es unbequem wird, neigen viele Menschen erst recht zur Bequemlichkeit. Sie argumentieren nicht, sondern lassen argumentieren, sie handeln nicht, sondern lassen handeln, und sie denken nicht, sondern lassen denken.

Es ist diese intellektuelle Passivität, die den Ersten und den Zweiten Weltkrieg möglich gemacht hat. Auf falsche Feindbilder und absurde Erzählungen hereinzufallen, ist das eine. Dies jedoch allzu sorglos einfach anzuerkennen, das andere. Wer in der Lage ist, sich von einer flächendeckenden Begeisterung anstecken zu lassen, hat offenbar eine gewisse Energie in sich, die ja sogar so weit geht, für fremdbestimmte Überzeugungen in den Krieg zu ziehen. Aber Begeisterung, die angenommen wird wie der Köder, den ein durch Instinkte gesteuerter Fisch in seinem Maul verschwinden lässt, um am Haken zu enden, kann nicht mehr als Begeisterung bezeichnet werden. Sie muss als bequeme Form der Gedankenlosigkeit betrachtet werden.

Für diese Bequemlichkeit und die Weigerung, die Rechtmäßigkeit der vorgestellten Begeisterung in Frage zu stellen, ist der Mensch, das Individuum, der selbst denkende und handelnde Bürger selbst verantwortlich. Wenn er später einmal sagen wird, er habe von nichts gewusst, hat er sich diese Ausrede schon zurechtgelegt, als er noch die Wahl hatte und sehr wohl wusste, dass etwas nicht stimmt. Denn es gibt noch eine dritte Möglichkeit, mit der oben genannten optischen Täuschung umzugehen. Neben Option 1, bei der man von beiden Interpretationen des Bildes weiß, und Option 2, bei der man von nur einem, dem aktuell zu sehenden Motiv ausgeht, gibt es die Option 3: nämlich das Bild aus eigenem Antrieb anzuschauen und zu überprüfen.

Dieser eigene Antrieb fehlt in weiten Teilen der Bevölkerung. Sie hat sich mit der Option, die man ihr anbietet, arrangiert. Der Wille aber, diese Option in Frage zu stellen, kann nur vom Menschen selbst kommen. Weder der Staat noch die Medien noch Institutionen oder prominente Persönlichkeiten bieten hier einen Ausweg an. Im besten Fall führen Gespräche mit anderen dazu, mit der angebotenen Option zu hadern und sie zu hinterfragen. Doch auch das ist nur erfolgversprechend, wenn der innere Antrieb vorhanden ist, sich auf den unbequemen Pfad zu begeben.

Es ist ein gefährliches Gemisch aus Bequemlichkeit, Faulheit und Unwissenheit, das dazu führt, zunächst willfährig ge- und später verführt zu werden, bis hin zur Akzeptanz dessen, was ganze Länder und Zivilisationen auslöschen kann. Die Konsequenz ist eine destruktive und womöglich tödliche Verantwortungslosigkeit, die die Menschen so sehr dominiert, dass sie selbst die Basis des Zusammenlebens, nämlich das Leben selbst, nicht mehr wertschätzen.

Wenn ein Volk erst so weit ist, das Leben nicht mehr zu achten und zu respektieren, wenn die Erzählungen erst dazu geführt haben, dass Desinteresse und Apathie das Denken bestimmen, wird es mit Leichtigkeit in den Krieg zu führen sein.

Das war im Ersten Weltkrieg so. Das war im Zweiten Weltkrieg so. Und das wird auch beim letzten Weltkrieg so sein.

Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.

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