Meinung

Scholz, Baerbock und der ungerechte Nichtfriede

Man wolle ja Frieden in der Ukraine, beteuern die deutschen Regierenden, nur gerecht müsse er sein; und maskieren damit, dass sie nicht nur keinen Frieden wollen, sondern inzwischen sogar sämtliche Begriffe, die in das Umfeld "Frieden" gehören, verlernt haben.
Scholz, Baerbock und der ungerechte NichtfriedeQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Bernd Elmenthaler

Von Dagmar Henn

Es ist eine Formulierung, die immer wieder gebraucht wird, von Bundeskanzler Olaf Scholz, von Außenministerin Annalena Baerbock, von Bundestagspolitikern verschiedener Parteien: Die Ukraine brauche einen gerechten Frieden. Und dann folgt, gelegentlich jedenfalls, die Erläuterung zu diesem Begriff; er bedeute, dass das gesamte Gebiet in den Grenzen von 1992 wieder unter Kiewer Kontrolle kommen müsse.

Das ist ein sehr verzerrender Gebrauch dieser Wortkombination, und es ist kein gutes Zeichen, dass gegen diese Verwendung aus den Kreisen jener Kirchen, aus denen sie eigentlich stammt, kein Protest erfolgt. Für die Nutzer ist das nur ein Trick, um eine – noch dazu militärisch völlig irrationale – Maximalforderung, die sämtliche Hintergründe und Nuancen übergeht und den Konflikt in der Ukraine wie eine Immobilienstreitigkeit behandelt, mit einem Anschein ethischen Anspruchs zu umgeben.

Die Formulierung vom gerechten Frieden ist eigentlich neu, eine Abwandlung des wesentlich älteren Begriffs vom gerechten Krieg, der dazu dienen soll, Kriege mit Rechtfertigung zu versehen, oder solche, die gerechtfertigt werden können, von solchen zu trennen, die dies nicht können. Der gerechte Friede stand im Mittelpunkt einer mehrjährigen ökumenischen Debatte, die 2009 in einer internationalen ökumenischen Erklärung endete.

Sollten einige Gestalten der Grünen diesen Begriff zum Fall Ukraine angeschleppt haben, dann taten sie das allerdings so, wie es Katzen mit erlegten Vögeln tun, sie haben ihm zuvor schon das Genick gebrochen. Denn der zentrale Punkt an diesem Begriff war, dass der technische Friede allein nicht genüge, sondern es der Gerechtigkeit bedürfe, um ihn dauerhaft werden zu lassen. Konkret wäre das dann etwa die Aufhebung von Benachteiligungen, die Beseitigung von Vorurteilen oder schlicht alles, was die Wahrnehmung der menschlichen Gleichheit fördert, etwas, das man religiös wie säkular betreiben kann.

Was der Begriff in der Betrachtung dieser internationalen Erklärung nicht beinhaltet, sind Territorialfragen. Das ist kein Wunder, denn der Begriff des Friedens bezieht sich auf eine Qualität von Beziehung, nicht auf Besitz. Die Frage der Gerechtigkeit bezieht sich durchaus auch auf Besitz, aber nicht in dem Sinne, in dem Scholz und Co. ihn für die Ukraine fantasieren, als Territorialbesitz ohne die zugehörigen Menschen.

Denn es müsste deutlich und begreiflich sein, dass ein Frieden, der bedeutende Gebiete gegen den Willen der dort lebenden Menschen zum Teil der Ukraine machen würde, kein echter Frieden ist, weil er tief ungerecht gegen diese Menschen wäre, und weil ein solcher Schritt eine beständige Quelle von Konflikten wäre. Genauso war es auch mit der Schenkung der Krim. Ist es gerecht, die Menschen bestenfalls als Anhängsel des Gebiets zu betrachten, ist das demokratisch? Letzteres mit Sicherheit nicht. Zumindest im deutschen Grundgesetz steht nicht, "alle Gewalt geht vom deutschen Boden aus", sondern "alle Gewalt geht vom Volke aus". Die Menschen sind der entscheidende Faktor, und das Territorium leitet sich von ihnen ab und nicht umgekehrt. So war zumindest die Sicht im 20. Jahrhundert.

Ein gerechter Frieden, so wie die alte Erklärung ihn sah, wäre möglich, bedürfte aber einiger klarer Schritte, wie des Endes jeglicher Diskriminierung der russisch oder ungarisch Sprechenden. Er bedürfte des gezielten Abbaus von Vorstellungen, die eine ethnische Gruppe der Bevölkerung als wertvoller als andere betrachten; das ist das genaue Gegenteil dessen, was im Verlauf der ganzen Zeit seit 1992 passiert ist. Die Bandera-Ideologie und die ökumenische Vorstellung vom gerechten Frieden sind absolut inkompatibel. Die Minsker Abkommen übrigens wären durchaus kompatibel gewesen, denn sie enthielten beispielsweise über Autonomieregel und Amnestie zumindest die nötigen minimalen Schritte zur Versöhnung.

Das ist das Stichwort, das ich eigentlich irgendwann aus kirchlichen Kreisen erwartet hätte. Versöhnung. Stattdessen wird ein Begriff eines gerechten Friedens geschaffen, der mehr als nur nach gerechtem Krieg riecht. Der eigentlich der gerechte Krieg ist, in seiner irrwitzigsten, fundamentalistischsten Form. Warum war es denn nicht möglich, dem Südosten Autonomierechte zu gewähren? Nur, weil die unterschiedlichen Regionen unter Kontrolle unterschiedlicher Oligarchen waren und keiner dem anderen etwas abtreten wollte? Gut, wir wissen, warum der Westen darauf beharrte, diese Gebiete zu halten, man wollte eine gute Ausgangsbasis gegen Russland, das man gern aufteilen würde. Sollte man jedoch dafür nicht wenigstens eine logisch halbwegs befriedigende Begründung liefern? Wenigstens sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die Teile, die heute Kiew für sich beansprucht, zu ganz unterschiedlichen Zeiten diesem Ding Ukraine hinzugefügt wurden, manche willig, andere nicht, und nicht so tun, als sei ausgerechnet im Jahr 1992 ein göttliches Gesetz ergangen, dass alle zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Grenzen nun auf immerdar zu gelten hätten. Vor allem dann nicht, wenn die Grenzen gar nicht nach dem vorgesehenen Prozedere registriert wurden.

Den Sprechern sind beide Begriffe nur in der Zwergform bekannt. Als Gerechtigkeit sehen sie vermutlich das, was die aktuelle deutsche Justiz so erzeugt, und als Frieden sehen sie schlicht das Schweigen der Waffen. Volk als Subjekt ist ihnen fremd, außer, es gibt sich völkisch; der Boden herrscht über die Menschen. Das schöne, weite, herausfordernde Wort Gerechtigkeit, das eigentlich den zum Himmel schreienden Reichtum ebenso verdammt wie die Missachtung des Elends und mehr als den Raub. Auch das Wort Friede, das die Schaffung von Raum für menschliche Entwicklung bedeutet, Ausgeglichenheit und so Mühsames wie Versöhnung und Erbarmen. Beides zusammengezwungen und vor eine Forderung gespannt, die das schiere Gegenteil bedeutet, die gewünschte Vertreibung der Menschen im Donbass wie auf der Krim, damit Kiew den Boden in Besitz halten kann, ohne von seiner menschenfeindlichen Ideologie ablassen zu müssen.

Und all das wird von deutschen Politikern gestützt, von deutschen Medien gedruckt, und nicht einmal die Erfinder der Formulierung vom gerechten Frieden protestieren gegen diesen Missbrauch. Denn es ist ein Missbrauch. Das, was Scholz einen gerechten Frieden nennt, ist nichts anderes als der Plan, den der Rechte Sektor unmittelbar nach dem Putsch 2014 für die Krim verkündete, man werde sie einnehmen, ohne die Bewohner; die Ankündigung, die dazu führte, dass auf den Zufahrten zur Krim Barrikaden errichtet wurden.

Dabei ist es noch beruhigend, dass es eine Wahnvorstellung ist, deren Chancen, realisiert zu werden, 2014 noch am größten waren, jetzt aber gegen null gehen. Denn um die Bewohner zu vertreiben, bedürfte es einer militärischen Überlegenheit, die die Ukraine mit aller westlichen Hilfe nicht hat, die nicht einmal die ganze NATO hätte. Ein solches Ergebnis hat, wenn man es betrachtet, nichts mit Frieden und noch weniger mit Gerechtigkeit zu tun.

Warum aber verwenden Scholz und Co. diese Formel? Es ist nur ethische Mimikry, eine Geste, die den Eindruck erwecken soll, da habe man ernsthaft nachgedacht, statt eine amerikanische Anweisung zu befolgen. Als habe man unter Berücksichtigung aller deutschen Erfahrungen sich den Kopf zerbrochen und nach einem Ausweg gesucht; als habe man verhandeln wollen, Angebote gemacht, um den Frieden gerungen. Dabei ist längst bekannt, dass all dies nicht der Fall war. Alles Wissen um die Vorgeschichte, alles, was unter dem Stichwort „Friedensforschung“ in Jahrzehnten hervorgebracht wurde, war obsolet, als es darum ging, das Regime in Kiew zu stützen. Wenn sie schon nicht imstande sind, von ihrer blinden Gefolgschaft zu lassen, vielleicht könnten sie es wenigstens unterlassen, Begriffe derart zu vergewaltigen.

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