Meinung

Russland mit Putin: Weg vom Dauerausnahmezustand des 20. Jahrhunderts zu Norm der Stabilität

Zwischenbilanzen zu Russlands Errungenschaften in Wladimir Putins Regierungszeit ziehen viele. Dabei ist die Nachhaltigkeit dieser Errungenschaften nicht minder wichtig. Gerade hier steuert Putin Russland hin: Weg vom Dauerausnahmezustand zu einer Norm der Stabilität.
Russland mit Putin: Weg vom Dauerausnahmezustand des 20. Jahrhunderts zu Norm der StabilitätQuelle: Sputnik © Gawriil Grigorow

Von Irina Alksnis

Am 7. Mai 2023 jährte sich zum 23. Mal der Antritt des höchsten Amtes in Russland durch Wladimir Putin. Noch vor kurzem, vor etwa anderthalb Jahren, gab ein Jeder – gewollt oder ungewollt – seinen Überlegungen zu Putins Rolle und Platz in der russischen Geschichte den Charakter eines Fazits. Zu Stalin sagt ein geläufiges Sprichwort:

"Er nahm sich eines Russlands an der Zogge an und hinterließ ein Russland mit der Atombombe."

Genauso empfing Putin das Land am Rande eines nationalstaatlichen Zusammenbruchs, stellte Russlands Großmachtstatus wieder her und brachte es auf den Weg einer progressiven nachhaltigen Entwicklung. Und er hat dieses Ergebnis nicht durch harte oder gar grausame Managementmethoden oder um den Preis riesiger Verluste an Menschenleben erreicht, sondern durch eine erstaunlich weiche Politik, der das Schonen der Menschen zugrunde liegt. Zum ersten Mal in Russlands kann dies gelebt und umgesetzt werden.

Nicht verwunderlich daher, dass viele, wenn sie sich den Weg vor Augen führen, den Russland in dieser Zeit zurückgelegt hat, und der enormen Veränderungen, die stattgefunden haben, das folgende rein psychologisch bedingte Gefühl, wenn nicht gar eine bewusste Meinung entwickeln: Putin habe seine Hauptaufgabe bereits erfüllt. Daher rührt auch dieses Format der Bilanzierung (oder auch einer Zwischenbilanz) bei Überlegungen zu seiner Regierungszeit. "Erinnern Sie sich an das, was war, und schauen Sie sich um, dann können Sie beurteilen, was geworden ist."

Das ist übrigens auch der Grund, warum in den vergangenen Jahren sarkastische Kommentare folgender Art zu hören waren: Wenn Putin doch seine Aufgabe erfüllt habe, warum soll er dann noch als Präsident Russlands im Amt bleiben?

Der 24. Februar 2022 und die Ereignisse davor haben gezeigt, wie sehr sich sowohl die Kritiker als auch die Befürworter Putins in der Annahme getäuscht haben, dass er das Wichtigste bereits erreicht habe. Das Land gelangte in einen so gewaltigen Strudel historischer Prozesse, dass jede Zwischenbilanz, ganz zu schweigen von einem Fazit, jetzt verfrüht erscheint.

Das Ausmaß des Geschehens ist so groß, dass sich in den aktuellen Ereignissen das weitere Schicksal nicht nur Russlands, sondern ohne jede Übertreibung das Schicksal der ganzen Welt entscheidet. Das bedeutet, dass Putin – genau wie vor 20 Jahren, als er das Land behutsam Schritt für Schritt vom Rand des Abgrunds wegzog und jeder Fehltritt seinerseits mit einer Katastrophe drohte –, erneut die Verantwortung für Russland in einem kritischen Moment seiner Geschichte trägt.

Sieht man einmal von den verständlicherweise emotional aufgeladenen Ereignissen in der Ukraine ab, so stehen Russland und damit auch sein Staatschef jetzt vor zwei entscheidenden Aufgaben, die mit der Umstrukturierung der Welt einhergehen.

Die erste Aufgabe ist der notwendige psychologische Bruch des Landes mit dem Westen. Peter der Große hatte ein Fenster zu Europa geöffnet, in den letzten dreieinhalb Jahrhunderten ist unsere mentale Verbindung zu Europa jedoch endgültig verkommen, hat sich überlebt und bringt mittlerweile mehr Probleme als Vorteile mit sich.

Und der heutige Westen, seien wir ehrlich, ist nicht mehr die Lokomotive der menschlichen Zivilisation, die er trotz all seinen Problemen und Lastern ein halbes Jahrtausend lang war.

Keineswegs nagelt Putin jedoch das "Fenster" Peters des Großen zu. Derlei radikale Maßnahmen liegen nicht in seiner Natur. Nein, er bringt vielmehr eine hochwertige Dreifach-Vakuumverglasung in einem ebenso ordentlichen Rahmen an, damit es nicht zieht, nicht kalt wird und nicht allerlei Unrat von dieser Seite hereinfliegt. Und wenn gewünscht und notwendig, kann das Fenster ja jederzeit geöffnet werden. Generell befindet sich das Verhältnis Russlands und unseres Volkes zum Westen in einem radikalen und ohne Übertreibung schicksalhaften Wandel, dessen Tragweite man gar nicht hoch genug einschätzen kann.

Die zweite Aufgabe, die Putin jetzt in Angriff nimmt, ist weitaus weniger trivial, ja, sie ist sogar widersprüchlich. Neun Jahre sind vergangen, seit die jüngste in der langen Reihe der Konfrontationen zwischen Russland und dem Westen in die offene Phase getreten ist. Und fast anderthalb Jahre ist es her, seit sie den Charakter eines ausgewachsenen bewaffneten Konflikts angenommen hat, der kaum noch durch das Feigenblatt eines Status als Stellvertreterkrieg gedeckt ist. Selbst die naivsten, von der Politik weitest denkbar entfernten Menschen haben erkannt, dass für Russland seine Existenz auf dem Spiel steht und es somit wieder einmal um einen existenziellen Konflikt geht. Eben nicht nur um einen günstigen Platz in der geopolitischen Landschaft, sondern um das Überleben des Landes.

Und gerade hier müssen wir einen wichtigen Umstand berücksichtigen: Seit dem letzten derartigen Konflikt, dem Großen Vaterländischen Krieg, ist nicht allzu viel Zeit vergangen, und infolgedessen sind die Algorithmen der nationalen Reaktion, die es der Sowjetunion damals ermöglichten, zu bestehen und zu siegen, unwillkürlich erwacht. Nun verlangen sie danach, im öffentlichen Gedächtnis verkündet zu werden:

"Erhebe dich, gewaltig Land!"

Insgesamt war das vergangene Jahrhundert für Russland eine Zeit der volksweiten Mobilmachung und übermäßigen Anstrengung, um unsere Ziele um jeden Preis zu erreichen.

Das hat auch die heute lebenden Generationen geprägt. Das russische Volk hat sich an den Gedanken gewöhnt, dass dies der Preis ist, den Russland für seine Errungenschaften und Siege zu zahlen hat.

Allein, das ist eben überhaupt nicht der Fall. Es stimmt schon, dass Russland während eines beträchtlichen Teils seiner Geschichte um sein eigenes Überleben kämpfen musste, da es regelmäßig von allen Seiten existenziell bedroht wurde. Aber dieser Betriebsmodus der nationalen Mobilisierung war eben keineswegs der übliche Mechanismus der staatlichen und politischen Führung. Er war eher die Ausnahme von der Regel.

Ja, Russland führte fast ununterbrochen blutige Kriege um seine Interessen, seine Zukunft, sein Überleben. Aber das hinderte den größten Teil des Landes nicht daran, ein ganz normales Leben zu führen: Kinder großzuziehen und Getreide anzubauen, mit der Welt Handel zu treiben und Expeditionen zu entsenden, Fabriken und Städte zu bauen, große Kunstwerke und das beste Ballett der Welt zu erschaffen, Bodenschätze und neue Gebiete zu erschließen, über die Russland es schließlich ganz bis zum Pazifik schaffte.

Hier stellt sich aber eine logische Frage: Ist es vielleicht möglich, dass das 20. Jahrhundert, als für Russland als der einzige Überlebensweg darin bestand, alle Kräfte des Volkes jenseits aller Grenzen zu überfordern, eher eine beispiellose Fluktuation und absolute Ausnahmeepisode war und dass wir nun zu unserer historisch belegten Existenznorm zurückkehren?

Zu einer Norm, in der wir zwar immer wieder dazu verdammt sind, das Recht auf Souveränität zu verteidigen, überhaupt mit der Waffe in der Hand zu existieren, aber diese Aufgabe des Überlebens genauso wie viele andere Probleme auch, die uns endlos aufgetürmt werden, erfolgreich in einem planmäßigen Modus gelöst wird. Sprich, in einem Betriebsmodus, der dem Land eben nicht abverlangt, jedwedes Problem wie eine feindliche Stellung zu stürmen, mit brutaler Repression und enormen Opfern. Das Land lebt einfach, es entwickelt sich, verändert sich zum Besseren, wobei sich das Volk an seine Verteidiger von einst erinnert und die heutigen Verteidiger unterstützt, die durch ihren Mut an der Front diese Normalität überhaupt möglich machen. Und eben diese Aufgabe, Russland zur historischen Norm zurückzuführen, nimmt Wladimir Putin jetzt wahr. Neben anderen Zielen.

Das Land hat in 23 Jahren unter seiner Führung einen wirklich langen Weg zurückgelegt, keine Frage. Recht haben jedoch diejenigen, die darauf hinweisen, dass das wichtigste Ergebnis der Regierungszeit eines Staatsmannes nicht so sehr allein die Größe seiner Errungenschaften ist, sondern deren Standfestigkeit, Beständigkeit und die Fähigkeit, sich aus eigener Kraft weiterzuentwickeln. Genau diesen Zustand herbeizuführen ist das Ziel des russischen Präsidenten.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.

Irina Alksnis ist eine russische Politologin und Publizistin. Sie stammt aus einer prominenten lettisch-sowjetischen Politikerdynastie ab. 

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