Meinung

Russland: Der traurige Tag des Sieges

Am 9. Mai feiert Russland den Tag des Sieges. Neben einer Militärparade auf dem Roten Platz und einer Rede von Wladimir Putin findet normalerweise parallel zu dieser Veranstaltung der Marsch des Unsterblichen Regiments statt. Nicht so in diesem Jahr.
Russland: Der traurige Tag des SiegesQuelle: www.globallookpress.com © Komsomolskaya Pravda/Global Look Press

Von Tom J. Wellbrock

Auch wenn der Marsch des Unsterblichen Regiments im Westen als staatliche Propaganda dargestellt wird (was wird eigentlich nicht als staatliche Propaganda dargestellt?), geht seine Idee auf eine private Initiative zurück. Erstmals am 9. Mai 2012 fand der Marsch auf Initiative lokaler Journalisten in Tomsk statt, 2013 wurde landesweit marschiert.

Am 9. Mai gehen in Moskau Menschen auf die Straße, erinnern an die und gedenken der Opfer des Nationalsozialismus, aber auch die Helden und Widerstandskämpfer werden gefeiert. Besonders der letzte Punkt ist wichtig, denn eingeladen zu diesem Marsch der Erinnerung sind nicht nur Russen. Wer gegen die Nazis gekämpft hat, kann mitgehen, ebenso überzeugte Antifaschisten. Im letzten Jahr wollten meines Wissens auch US-Veteranen nach Moskau reisen, um an dem Marsch teilzunehmen. Es soll ihnen jedoch von US-amerikanischer Seite verboten worden sein. Ich konnte das nicht nachprüfen, möchte dieses Detail aber trotzdem erwähnen, und zwar aus einem einfachen Grund: Die Russen nehmen nicht für sich in Anspruch, allein den Nationalsozialismus besiegt zu haben, auch wenn ihr Anteil daran natürlich ganz erheblich ist. Sie laden jeden ein, der gegen die Nazis gekämpft hat, gleichgültig, aus welchem Land er kommt.

Eine Million Widerstandskämpfer

Im Jahr 2022 war ich in Moskau und nahm sowohl an der Parade als Zuschauer teil als auch aktiv am Marsch des Unsterblichen Regiments. Ich war mit zwei Freunden in Moskau, und für uns bleiben diese sieben Tage in Russland ein unvergessliches Erlebnis. Wir gingen mit knapp einer Million Menschen durch Moskau und saugten die außergewöhnliche Stimmung geradezu auf.

Was den Marsch des Unsterblichen Regiments unter anderem auszeichnet, sind die unzähligen Plakate, die die Menschen dabei hochhalten. Auf ihnen sind Opfer der Nazis zu sehen, Widerstandskämpfer, aber auch Kritiker, die in anderen Ländern auf ihre Art und Weise Widerstand geleistet haben. In Russland gibt es fast in jeder Familie über eine, zwei oder drei Ecken Opfer des Nationalsozialismus, daher ist dieser Spaziergang durch Moskau ein sehr wichtiges Ereignis.

Was im letzten Jahr auffiel, war die ruhige und unaufgeregte Stimmung während des Marsches. Schon damals war natürlich die Ukraine im ganzen Land ein großes Thema, für die Russen ist gerade dieser Krieg in der Ukraine so bedeutungsvoll, weil er an die Zeiten der Nazis erinnert. In der Ukraine gab es überdurchschnittlich viele Kollaborateure, die mit den deutschen Nazis zusammenarbeiteten. Konkret heißt das, dass auch eine große Zahl von Menschen Mordopfer ukrainischer Faschisten wurde. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieben die ukrainischen Faschisten aktiv, bis in die 1950er-Jahre hinein wurden sie dabei etwa durch den US-amerikanischen und den deutschen Geheimdienst unterstützt, versteckt und beschäftigt. Stepan Bandera, wohl der bekannteste Faschist der Ukraine, starb nicht zufällig in München, wo er auch heute noch auf dem Friedhof der Stadt liegt.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatten faschistische Kräfte in der Ukraine erneut Aufwind. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Die Russen wissen das und ordnen daher den Ukraine-Krieg nicht nur als einen die Gegenwart betreffenden Konflikt ein. Sie blicken dabei auch zurück, und dieser Blick ist schmerzhaft. Zum einen, weil er die Angst nährt, dass Russland wieder gegen Nazis kämpfen muss. Und zum anderen, weil viele Russen in der Ukraine Angehörige, Freunde oder Bekannte haben. Die vom Westen propagierte Unterstellung, Putin wolle die Ukraine von der Landkarte streichen, ist schon aus diesem Grund nicht haltbar, sie ergibt nicht den geringsten Sinn.

Wie bereits oben erwähnt, war die Stimmung 2022 ruhig, manchmal nachdenklich, dann wieder durch Gesang getragen, dann schweigend. Die Ukraine war im letzten Jahr – zumindest auf dem Marsch – kein großes Thema. Für die Russen sind dieser Tag und dieser Marsch für das Gedenken an den Sieg über den Nationalsozialismus reserviert. Das Ereignis ist so groß und historisch so relevant, dass andere Themen kaum eine Rolle spielen. Einen Tag zuvor und einen Tag nach der Veranstaltung gewann die Ukraine natürlich bei den Menschen und der Politik wieder Oberwasser. Der Konflikt beschäftigt naturgemäß die Russen, und die Frage, ob, wie und wann es zu einem Ende des Ukraine-Krieges kommt, treibt die meisten Menschen in Russland um.

Deutsche sind willkommen!

Auf unserer Reise war uns bewusst, welche unrühmliche Rolle Deutschland im aktuellen Ukraine-Konflikt spielt. Daher fiel unsere Antwort auf die Frage, woher wir kommen, in den ersten Tagen noch recht zögerlich und defensiv aus. Doch das legte sich, als wir merkten, dass die Russen sehr wohl zwischen den verantwortlichen Politikern und zivilen Besuchern aus Deutschland unterscheiden. Die häufigste Antwort lautete:

"Hey, ihr könnt doch nichts für eure Politiker!"

In einem längeren Gespräch, das ich führen konnte, betonte mein Gegenüber einmal mehr, dass der Marsch des Unsterblichen Regiments keinesfalls nur für Russen gedacht sei. Man fühle sich mit allen verbunden, die gegen den Faschismus kämpfen, die Herkunft spiele dabei keine Rolle. Im Laufe dieses Gesprächs entstand ein interessanter Gedanke, den ich hier als Erinnerungsprotokoll aufschreibe:

"Es waren die Russen, die Deutschland vom Nationalsozialismus befreiten. Das sollte man als eine große Gemeinsamkeit der Menschen betrachten. Russen und Deutsche haben zwar auf unterschiedliche Weise unter den Nazis gelitten, aber sie haben gelitten. Schließlich gab es auch in Deutschland Widerstand gegen das Naziregime. Und eine Mehrzahl der Menschen von heute will keinen neuen faschistischen Staat.

Es wäre daher naheliegend, wenn Russen und Deutsche gemeinsam den Tag des Sieges begehen. Man sollte doch meinen, dass es einander verbindet, wenn man die gleichen Verbrechen aus der Vergangenheit gemeinsam verhindern will. Deutsche sollten Russen mit Wertschätzung begegnen und anerkennen, was sie geleistet haben, um Hitler zu besiegen. Russen sollten Deutschen mit Solidarität begegnen und anerkennen, dass sie eine Wiederholung der eigenen Geschichte verhindern wollen.

So könnte ein gemeinsamer Marsch entstehen, auf dem man sich der gegenseitigen Solidarität versichert und den Entschluss fasst, zusammen gegen jede Form des wiederkehrenden Faschismus auf die Straße zu gehen. Eine solche gemeinsame Überzeugung schafft eine enge Verbundenheit und führt zu mehr als einer bloßen friedlichen Koexistenz. Sie kann Brücken bauen und Freundschaft wachsen lassen, eine Freundschaft, zwischen die kein Blatt passt."

Die traurige Wahrheit

Im Jahr 2023 wird es keinen Marsch des Unsterblichen Regiments geben. Die Veranstalter haben Sicherheitsbedenken angeführt und bekanntgegeben, dass es in diesem Jahr alternative Formen der Veranstaltung gibt. Dies soll im Wesentlichen auf digitaler Ebene passieren.

Meine Gespräche haben gezeigt, dass die Russen sehr traurig wegen dieser Absage sind. Der Gang durch Moskau ist ein hochemotionaler Moment, der der russischen Seele tief unter die Haut geht. Gleichwohl ist die Absage nachvollziehbar, denn eine so große Masse an Menschen, die ungeschützt durch Moskau gehen, ist ein attraktives Ziel für mögliche Angriffe bzw. Anschläge.

Die Absage des Marsches ist jedoch mehr als nur ein trauriger Moment. Man muss sie in den größeren Zusammenhang mit dem allgemeinen Russenhass bringen. Sei es die Anklage gegen Putin vor dem Internationalen Gerichtshof, sei es das russophobe Verhalten gegenüber russischen Sportlern, Künstlern und andere Leidtragenden, sei es die aktive Unterstützung des Regimes in Kiew, das so offen feindselig agiert, wie es kaum noch deutlicher möglich wäre.

Russland hat sich vom Westen abgewendet. Was jahrzehntelang nicht möglich erschien, ist nun bittere Wirklichkeit geworden. Man muss sich bewusst machen, dass beispielsweise das Gas immer zuverlässig zu den vereinbarten Konditionen geliefert wurde, und das, obwohl die Hetze gegen Russland schon viele Jahre dauert. Vertragstreue war für Russland immer selbstverständlich, man betrachtete das gewissermaßen pragmatisch.

Das ist nun vorbei, und es ist nicht absehbar, ob die zerrüttete Beziehung je wieder repariert werden kann.

Das Verhältnis der Menschen zueinander bleibt harmonisch

Mein Eindruck ist nach wie vor, dass die Russen die Deutschen mögen. Die Offenheit und die Herzlichkeit, die ich in Moskau und in Woronesch erlebt habe, waren nicht gespielt. Wie auch? Schließlich habe ich vom Taxifahrer über die Kassiererin bis zu politischen Aktivisten mit vielen Menschen gesprochen. Sie alle waren mir gewogen.

Aber sie hatten auch viele Fragen. Warum hasst der Westen die Russen? Warum unterstützt er ein Regime in Kiew, das so offen korrupt und feindselig ist? Warum wird nicht zwischen Politik und den Bürgern unterschieden? Warum wird die russische Sicht komplett ignoriert?

Ich konnte kaum Antworten geben, die zufriedenstellend gewesen wären. Ich konnte lediglich betonen, wie beschämend unsere Politik agiert und wie sehr ich das Säbelrasseln und die Propaganda verabscheue.

Als Beleg dafür sei der Tweet von Annalena Baerbock (Die Grünen) zitiert, die vermutlich bewusst und provozierend die Sowjets mit keinem Wort erwähnte, als sie sich zum 8. Mai äußerte:

Es wird schon eine ganze Weile daran gearbeitet, die Geschichte neu zu interpretieren oder gleich umzuschreiben. Die Verdienste der Sowjets an der Befreiung vom Nationalsozialismus rücken in der öffentlichen Wahrnehmung des politischen Deutschland immer weiter in den Hintergrund. Dabei waren sie es, die die "Dreckarbeit" gemacht und gegen die Deutschen gekämpft haben. Die Alliierten – und speziell die US-Amerikaner – hielten sich lange zurück, bis sie in den Zweiten Weltkrieg eingriffen, und es gibt durchaus Historiker, die die Motivation dieser Zurückhaltung mit dem Wunsch deuten, Deutschland und die Sowjetunion so sehr wie möglich zu schwächen, bevor man in den Krieg eingreift.

Damit würde sich der Kreis schließen, denn auch heute ist es im Interesse der USA, sowohl Deutschland als auch Russland maximal zu schwächen. Doch die russische Seele ist widerstandsfähig, und sie kennt die Geschichte sehr genau. Sie akzeptiert ein Umschreiben dieser Geschichte zugunsten des Westens nicht. Und sie wird auch ihren Marsch des Unsterblichen Regiments in Zukunft wieder veranstalten. Daran wird der Westen nichts ändern können. 

Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.

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