Meinung

Europa hat den Sanktionskrieg gewonnen – und versucht nun zu kapitulieren

Mit dem elften Sanktionspaket gegen Russland scheinen die Einschränkungsmöglichkeiten der Europäischen Union ausgeschöpft zu sein. Die russische Wirtschaft bleibt indessen weiterhin stabil, während in Europa selbst immer mehr Stimmen die Sinnhaftigkeit der Sanktionen infrage stellen.
Europa hat den Sanktionskrieg gewonnen – und versucht nun zu kapitulierenQuelle: Gettyimages.ru © Peter Dazeley

Von Kirill Strelnikow

Der Pessimismus der europäischen Regierungen im Hinblick auf den antirussischen Sanktionskrieg sickert immer öfter in westliche Medien durch. So zeigte sich ein anonymer hochrangiger EU-Beamter gegenüber der Zeitung Financial Times besorgt, dass die reiche Fantasie der EU-Funktionäre erschöpft sei und jegliche weiteren Versuche, Russland zu schaden, stattdessen bei Europäern für Tränen sorgen würden. Die Quelle erklärte:

"Wir sind am Ende. Wenn wir noch mehr Sanktionen verhängen, wird es darin mehr Ausnahmen als eigentliche Maßnahmen geben."

Doch wie konnte so etwas im blühenden europäischen Garten passieren, der seine Tore vor den russischen Barbaren verschloss?

Die antirussischen Sanktionen, eine Zierde der europäischen Hochkultur, zählen inzwischen zehn Pakete und betreffen 200 Organisationen und 1.500 Privatpersonen. Buchführer der EU meldeten stolz, dass sie über 300 Milliarden Euro an russischen Staatsaktiven einfroren und den bilateralen Handel mit Kohlenwasserstoffen, Technologien, Geräten und elektronischer Ausrüstung um 150 Milliarden Euro reduzierten. Ein elftes Sanktionspaket soll kommen und wird von der EU just in diesen Tagen verhandelt.

Dennoch stellte sich heraus, dass die EU-Bürokraten ganz im Sinne eines bekannten Spruchs des ersten russischen Ministerpräsidenten Wiktor Tschernomyrdin handelten: Sie wollten, dass es besser kommt, doch es kam wie immer.

Gerechtigkeitshalber sei angemerkt, dass zaghafte Zweifel an der Notwendigkeit der Ausweitung von Sanktionen schon zuvor geäußert worden waren. Beispielsweise bemerkte der litauische EU-Kommissar Virginijus Sinkevičius nach der Verabschiedung des neunten Sanktionspakets traurig, dass er keine Bereiche sehe, in denen diese Sanktionen ergänzt werden könnten. Der Chef des EU-Rats Charles Michel räumte ein, dass es kaum noch Möglichkeiten für die Ausweitung der antirussischen Beschränkungen gebe, und Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sagte, dass der EU "der Appetit" auf weitere Sanktionen gegen Moskau zunehmend vergehe.

Freilich wurden die mulmigen Vorahnungen durch die "feste Sicherheit" kompensiert, wonach Auswirkungen der Sanktionen "in langfristiger Perspektive" sichtbar werden würden.

Doch vor unseren Augen schwindet diese Sicherheit, und die süßstimmigen EU-Sirenen stimmen eine etwas andere Melodie an. Insbesondere verkündete Schwedens Finanzministerin Elisabeth Svantesson, dass der Effekt der antirussischen Sanktionen, wie es sich herausstellte, "sehr schwer zu messen" sei und dass statt der prophezeiten fliegenden Fetzen die russische Wirtschaft Stabilität und Wachstum aufweise.

Die wohltuenden europäischen Illusionen scheitern an der harschen materiellen Wirklichkeit. Trotz der feierlichen Gelöbnisse der EU-Beamten am Ende des letzten Jahres, dass sich Europa mit Riesenschritten auf eine komplette Energieunabhängigkeit von Russland bis 2027 zubewege, dass die Gasspeicher zu ganzen 91 Prozent gefüllt seien und dass der feierliche Kuchen bereits mit Kerzen geschmückt werde, kamen Schlüsselspieler des Markts und Experten zu einer etwas anderen Meinung.

Diese Meinung besteht darin, dass der nächste von Russland unabhängige Winter in Europa "mit großer Wahrscheinlichkeit viel schlimmer" werde. Dies bedeutet schlicht, dass harte Zahlen berücksichtigt wurden, die besser als jegliche Worte sprechen. Seit der Einführung der Sanktionen erreiche die Energieinflation in der EU ihren historischen Höhepunkt. Im Vergleich zum Vorjahr stiegen in Europa die Verbraucherpreise für Strom um mindestens 35 Prozent. In Ungarn erreichte die Inflationsrate 25,6 Prozent, in Lettland 17,2 Prozent, in Tschechien 16,5 Prozent. Und eine Besserung ist nicht in Sicht.

Um die Sanktionssuppe auszulöffeln, vergriff sich die EU selbst am Allerheiligsten – an grüner Energie und Greta Thunberg. Frierende deutsche und französische Bürger vergaßen prompt die Vorzüge von Windkrafträdern und Solarzellen, die sich als gar nicht so grün wie versprochen erwiesen hatten, und unterstützen freudig eine massenhafte Wiederaufnahme von neuen Ölbohrungen und eine Steigerung der Energieerzeugung aus Kohle. Der Leiter der Energiemarktforschungsabteilung von Rystad Energy Carlos Torres Diaz fasste es kurz und bündig zusammen: "Die europäische Energiewende wurde auf Eis gelegt." Nun, Umweltschutz ist eine Sache, wärmen muss man sich trotzdem.

Gerade deswegen widersprach niemand dem bulgarischen Präsidenten Rumen Radew, als er verkündete:

"Wir können keine Sanktionen im Bereich der Atomenergie gegen Russland verhängen, weil dies unsere eigene Atomenergie unmittelbar beeinflussen wird. Falls nötig, werden wir ein Veto einlegen."

Noch drastischer äußerte sich der Chef des Energiekonzerns TotalEnergies SE Patrick Pouyanne:

"Die Vorstellung, dass Europa das Problem der Energieabhängigkeit von Russland gelöst hat, ist eine Lüge. Die einzige Möglichkeit für Europa, mehr Gas zu erhalten, bedeutet, mehr zu zahlen."

Wie wir allerdings wissen, zahlen die Europäer sehr ungern, weswegen sie zum traurigen Schluss kamen, dass eine Ausweitung der Sanktionen den Geldbeutel schnell ausdünnen wird. Gerade deswegen steht an der Tagesordnung des elften Sanktionspakets statt "tödlicher Sanktionen" lediglich die Bekämpfung der Umgehung der bereits verhängten Maßnahmen und eine geringfügige Erweiterung der Liste von sanktionierten Organisationen und Privatpersonen.

Offensichtlich hat sich die EU in ihren Voraussagen gewaltig geirrt und bereitet nun eine Grundlage für separate Verhandlungen mit Russland vor, das durch eine Sanktionsliste doch nicht von der Karte Europas verschwinden wird.

Natürlich tut es uns leid, dass der EU ein solcher Beinbruch unterlief (eigentlich nicht), doch hätte sie selbst denken sollen, statt Anweisungen der USA blind zu befolgen. Europa hat vergessen, dass Russland wie niemand sonst auf der Welt und in der Geschichte Schmerzen aushalten kann: Und sie halten uns nicht auf, sondern verzehnfachen unsere Kräfte.

Jemand hat Geschichte schlecht gelernt und wird nun lange die Konsequenzen tragen.

Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei RIA Nowosti.

Mehr zum Thema: Wie der Westen die Beziehungen zu Russland zerstörte – und sich von günstiger Energie abschnitt

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.