In Erwartung einer Gegenoffensive steht Moskau vor einer schwierigen strategischen Entscheidung
Von Sergei Poletajew
An der ukrainischen Front herrscht seit Anfang des Jahres ein trügerischer Stillstand. Verschiedene Insider und anonyme Quellen prognostizierten eine bevorstehende Großoffensive der russischen Streitkräfte. Zuerst um Neujahr herum erwartet, wurde sie dann für Anfang Februar vorausgesagt und schließlich um den 24. Februar herum verlegt – dem Jahrestag des russischen Angriffs im vergangenen Jahr. Die Tage kamen und gingen, aber nichts passierte.
Mit dem Frühlingsanfang ist von einer anderen bevorstehenden Offensive die Rede – diesmal jedoch von einer der Streitkräfte der Ukraine (AFU) im Süden. Angeblich plant die AFU, zum Asowschen Meer vorzudringen und den Landkorridor zur Krim zu durchschneiden. Jeder Erfolg oder Misserfolg in diese Richtung wird erhebliche strategische Auswirkungen haben. Wenn die Einschätzungen zutreffen, stellt Kiew genau für dieses Unterfangen neue Militäreinheiten zusammen und rüstet mit westlichen Waffen auf – darunter die viel besprochenen britischen Panzer und die dazugehörenden Granaten mit abgereichertem Uran.
Die permanent andauernde Mobilisierung der Ukraine dient jedoch entgegen einer weit verbreiteten Meinung nicht dem Ausbau der Armee – die neuen Rekruten gleichen lediglich die Verluste aus. Schätzungen zufolge bleibt die Zahl des Personals in der AFU stabil bei etwa 400.000 aktiven Kämpfern.
In Anbetracht der Bedeutung der Südrichtung der Front werden die russischen Streitkräfte entweder die Verteidigungslinien halten oder einen möglichen ukrainischen Durchbruch mit Gegenangriffen abwehren. Dies erfordert geeignete Kräfte, Munition und Ausrüstung sowie eine gründliche Vorbereitung.
Russlands Absichten sind ziemlich ernst. Dies geht aus seinem Ziel hervor, die Stadt Ugledar [#1 auf dem Situationsplan] einzunehmen – eine Festung im Bereich eines möglichen Durchbruchs der AFU. Ugledar unter russischer Kontrolle zu haben, ist wichtig, da dies eine Bedrohung für die vorrückenden ukrainischen Einheiten darstellen würde. Eine ähnliche Offensive wurde im Westabschnitt der Front in der Region Saporoschje nördlich von Wasiljewka [#2] durchgeführt. Die Streitkräfte der Russischen Föderation nahmen dort im Januar mehrere Kleinstädte ein. Wie aus der intensiven Arbeit an dem Ausbau von Verteidigungslinien hervorgeht, wird Russland sich nicht so leicht aus Melitopol und Berdjansk vertreiben lassen wie seinerzeit aus Isjum oder Cherson. Diesmal ist der Einsatz zu hoch.
In den nördlichen und mittleren Abschnitten der Front finden Kämpfe entlang mehrerer Linien statt. In den vergangenen Wochen war die russische Armee in der Gegend von Kremennaja [#3] erfolgreich und konnte sechs oder sieben Kilometer – ein guter Indikator für eine statische Frontlinie – in Richtung der Stadt Liman vorrücken, aus der sie sich vergangenen Oktober zurückgezogen hatte. Liman liegt auf dem Territorium der Volksrepublik Donezk, also müsste Russland die Stadt auf jeden Fall einnehmen, da sie als Territorium Moskaus beansprucht wird. Allerdings ist der Durchbruchsbereich der russischen Armee hier relativ eng und damit anfällig für Flankenangriffe.
Die Kämpfe um die Vororte der Stadt Donezk, die seit Beginn der Militäroffensive andauern, zeigen endlich Erfolge. In den vergangenen Wochen haben die russischen Streitkräfte Awdejewka [#4] teilweise umzingelt. Dieser Ort ist besonders wichtig, da die AFU seit vier Jahren von dieser Stelle aus Angriffe auf Donezk startet. Um den ständigen Beschuss der Stadt durch Artilleriegeschütze und Raketenwerfer zu stoppen, muss die Frontlinie mindestens mehrere Dutzend Kilometer von Donezk weggedrängt werden.
Offensichtlich wurden diese Fortschritte durch die Kämpfe um Artjomowsk (Bachmut) [#5] ermöglicht, die dazu beigetragen haben, die Streitkräfte der Ukraine zu erschöpfen. Artjomowsk an sich hat keine strategische Bedeutung – es ist nur eine der vielen Städte im Donbass, die noch eingenommen werden müssen. Aus diesem Grund hat Moskau in gewisser Weise beschlossen, diese mühsame, schmutzige und blutige Arbeit "auszulagern".
Der Sektor Popasnaja – Soledar – Artjomowsk war ursprünglich der PMC Wagner Gruppe unter dem Kommando von Jewgeni Prigoschin zugeordnet. Alle Schlachten erfordern Nachschub, der den Truppen auf der Grundlage einer vorläufigen Planung zur Verfügung gestellt wird. Als die Wagner Gruppe sich im Kampf erfolgreich zeigte und sogar die Erwartungen übertraf, musste diese Dynamik unterstützt werden. Alleine konnte Wagner dies jedoch nicht leisten – die Gruppe hatte nicht genügend Reserven und wurde daher vom russischen Verteidigungsministerium versorgt.
Dieser Umstand war die Ursache für einen kürzlichen Konflikt zwischen der Wagner Gruppe und Offiziellen des russischen Verteidigungsministeriums. Letztere sagten im Grunde: "Entschuldigung, aber unsere Granaten und Verstärkungen sind begrenzt und werden an diesem und jenem Ort benötigt. Wir geben euch alles, worauf wir uns geeinigt haben, aber wir können nicht mehr geben." Diese Haltung ist logisch, vor allem, wenn es stimmt, dass der Generalstab Reserven im Süden zusammenzieht. Durch das öffentliche Bekanntwerden dieses Konflikts bekam Prigoschin aber schließlich das, wonach er verlangte, sowohl in Bezug auf den notwendigen Nachschub als auch auf die Verstärkung an den Flanken.
Für Kiew hat Artjomowsk ebenfalls keine besondere strategische Bedeutung. Es grenzt an die Agglomeration Slawjansk – Kramatorsk, die viel größer und befestigter ist und zudem auf einer Anhöhe liegt. Bisher wurde von dort noch nicht über Kämpfe berichtet.
Kiew ist jedoch überzeugt, dass es dem Feind keinen Zentimeter Boden überlassen darf – der Erfolg seiner Kriegspropaganda, die anhaltende militärische Versorgung aus dem Westen und letztendlich der Machterhalt von Selenskij hängen davon ab. Daher setzen die Streitkräfte der Ukraine die – aus militärischer Sicht – sinnlose Verteidigung von Artjomowsk fort.
Da jedoch immer mehr Streitkräfte und Ausrüstung in Artjomowsk zusammengezogen werden, ändert sich die Situation um die Stadt herum – der Sektor ist allein aufgrund seiner Größe strategisch. Wenn die AFU, wie einige Quellen berichten, wirklich Zehntausende von Soldaten in das Gebiet verlegt und eine Gegenoffensive vorbereitet, ist das nicht mehr nur ein Problem für Prigoschin oder die Herausforderung, eine einzelne Stadt zu erobern. Sollte die Wagner Gruppe eingekreist werden, könnte die Frontlinie über Dutzende von Kilometern einbrechen und zu einem tiefen Durchbruch der AFU nach Osten führen.
Russlands Generalstab und das Oberkommando stehen nun vor einer schwierigen Entscheidung: Sollen sie Artjomowsk verstärken und damit die viel bedeutendere Südfront schwächen, oder umgekehrt? Wird die AFU die südliche Offensive zugunsten von Artjomowsk vollständig aufgeben, oder wird sie den russischen Truppentransfer ausnutzen, um zum Asowschen Meer durchzubrechen? Und was ist, wenn der Feind genug Kräfte für zwei strategische Offensiven hat? Schließlich sind sie es, die Zeitpunkt und Ort des Angriffs bestimmen und so die Chance haben, auf engem Raum eine Übermacht zu mobilisieren.
Der Ausgang der Kampagne – und vielleicht des gesamten Konflikts – hängt von derartigen Entscheidungen ab.
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Aus dem Englischen
Sergei Poletajew ist Mitbegründer und Herausgeber des Vatfor Project
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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.