Meinung

Olympische Spiele 2024: Russland kann sich keine Defensive mehr leisten

Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat Ende März Bedingungen formuliert, unter denen russische und weißrussische Sportler wieder an internationalen Wettbewerben teilnehmen können. In Russland wird die Debatte darüber, ob man sich dem fügen sollte, kontrovers geführt.
Olympische Spiele 2024: Russland kann sich keine Defensive mehr leistenQuelle: Sputnik © Grigorij Sysoew / RIA Nowosti

Von Maxim Sokolow, RIA Nowosti

Auf der Sitzung des IOC-Exekutivkomitees in Lausanne (Schweiz) gaben die Sportfunktionäre eine Formel bekannt, nach der die weißrussischen und russischen Athleten, die derzeit generell vom internationalen Sportministerium ausgeschlossen sind, künftig daran teilnehmen können. Die Empfehlung bezog sich zwar nicht ausdrücklich auf die Olympischen Spiele 2024 in Paris, sondern nur auf die Qualifikationsturniere, aber ohne die Zulassung zu den Qualifikationsveranstaltungen ist eine Teilnahme an den Spielen unmöglich. Das Gleiche gilt für die Winterspiele 2026 und darüber hinaus. 

Die vom IOC angekündigten Bedingungen stellten sich als recht streng heraus. Eine Teilnahme ist nur ohne Flagge und Hymne erlaubt. In dieser Frage hat sich inzwischen eine Art Routine eingestellt. An Wettbewerben teilnehmen können russische Sportler nur als Vertreter von irgendetwas, nicht als Vertreter von Russland.  

Dies ist jedoch nur der Anfang der Liste der Einschränkungen. Als Nächstes folgt das Verbot der Teilnahme von Mannschaften: Russische Basketballspieler, Volleyballspieler und andere Mannschaftssportler bleiben außen vor. Dies hätte entsprechende Auswirkungen auf die Medaillenausbeute, sollten sich Russland und Weißrussland unter diesen Bedingungen überhaupt für eine Teilnahme entscheiden. Wenn man in einer ganzen Reihe von Sportarten einfach nicht antreten darf, hat man automatisch weniger Chancen auf Medaillen als die Konkurrenten. 

Was das "moralische und politische Image" der Athleten angeht, so steht fest, dass sie die Politik ihres Landes in der Ukraine-Frage in keiner Weise unterstützen dürfen. Offen bleibt, wie die Sportfunktionäre apolitisches Schweigen interpretieren wollen. Wird man sich mit Schweigen zufriedengeben oder eine ausdrückliche Erklärung des Dissenses – in schriftlicher Form gar – vom teilnahmebereiten Athleten verlangen?

Vergessen wurden auch nicht die Sportvereine in unserem Land, in denen die Mitgliedschaft lange Zeit als reine Formalität galt. Wer hatte zu Sowjetzeiten etwa daran gedacht, dass ein Sportler, der beispielsweise für Dynamo Kiew spielt, in einem Club des Ministeriums des Inneren "dient"? Jetzt drehen sie (die Sportfunktionäre des IOC) den Sportlern aus ihrer Vereinszugehörigkeit einen Strick: Mitglieder des ZSKA (Sportverein der Armee - Anm. d. Red.) und Dynamo sind laut Lausanne Angehörige von Armee und Geheimdienst, auch wenn sie lediglich Turner oder Eiskunstläufer sind, und müssen dem internationalen Sport fernbleiben.

Das alles bedeutet, dass die Regeln, nach denen unser Land in den Jahren 1952 (Debüt der UdSSR bei den Olympischen Spielen) bis einschließlich 2014 (Olympische Winterspiele in Sotschi) an den Spielen teilgenommen hat, nicht mehr existieren. Die vom IOC vorgeschlagene neue "regelbasierte Ordnung" sieht einen ganzen Strauß diskriminierender Maßnahmen vor, sowohl symbolisch als auch praktisch. Aus Sicht des IOC-Exekutivkomitees ist dies jedoch ein Fortschritt und eine Gnade. Früher gab es Sportler aus Russland und Weißrussland überhaupt nicht, jetzt aber können sie mit Biegen und Brechen sowie vielen Einschränkungen an Wettkämpfen teilnehmen – sportlich, unparteilich, nach den Prinzipien von Baron de Coubertin.

Betrachten wir die Frage einmal von der anderen Seite. Bachs Empathie für Russen und Weißrussen wird von einigen Ländern wie Polen, das Russland am liebsten ganz verbieten und für immer einzäunen würde, als inakzeptable Weichheit und fauler Liberalismus gesehen. Der IOC-Chef Bach könnte darauf verweisen und sagen: "Ich habe alles für die Russen getan, was ich konnte, bin aber nicht allmächtig".

Und das würde sogar stimmen, größtenteils. Das IOC scheint kein doppeltes Spiel zu spielen, es befindet sich tatsächlich in einer Zwickmühle. Viele im Komitee werden vielleicht erkennen, dass der Wahnsinn unserer Zeit (nicht nur der antirussische, sondern auch der Gender-Wahn) der olympischen Bewegung den Todesstoß geben wird, die dann für die Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr interessant ist und nebenbei auch den Sportbossen kein gutes Einkommen mehr bringt. Doch dann spricht die Politik im Befehlston: "Wir sparen nicht an der Ideologie, und euren olympischen Baron-Blödsinn könnt ihr euch sonst wohin stecken." Dem fügt sich Bach – er ist kein Held, der für die (olympische) Fahne sterben will.

Doch die Probleme des IOC-Exekutivkomitees sollen nicht unsere Sorge sein, wir haben eigene. Müssen wir uns nun für alle Zukunft dem Diktat der internationalen Sportbürokratie unterwerfen? Schließlich laufen wir schon seit Langem unter diesem Joch und verzichten auf nationalen Stolz und Ehre. Oder ist es jetzt, wo das IOC die endgültigen Bedingungen formuliert hat, Zeit zu sagen: "Genug ist genug!"?

Die heimische Bürokraten- und Trainerlobby tendiert zum Ersteren. Ein offener Konflikt mit dem IOC bedeutete schließlich das Ende vieler glänzender Sportkarrieren und noch glänzenderer Bürokratiekarrieren. Man muss sich also zusammenreißen und geduldig sein. Ganz wie in Saltykow-Schtschedrins Fabel "Der selbstlose Hase", in der "Genosse Wolf" zum besagten Langohr sagt: "Vielleicht werde ich dich tatsächlich – ha! ha! – begnadigen".

Oder aber man geht davon aus, dass "Genosse Wolf" – nicht nur in sportlichen Fragen – bereits einen solchen Grad der Verrohung erreicht hat, dass eine Begnadigung gänzlich unwahrscheinlich ist. Dann bleibt nichts anderes übrig, als sich gegen die "regelbasierte Ordnung" zu stemmen, wie schwierig das auch werden mag. Schließlich war auch die Entscheidung, am 24. Februar 2022 eine Militäraktion zu starten, keineswegs leicht, aber es gibt nun mal Dinge, die man nicht länger hinnehmen kann, ohne selbst zu verrohen.

Die militärische Sonderoperation habe ich nicht als bloßen Spruch erwähnt. Nach dem 24. Februar (2022) haben viele scheinbar unumstrittene Argumente viel von ihrer Überzeugungskraft verloren, etwa das Argument, dass das Zeitfenster für die aktive Sportlerkarriere kurz ist und man deshalb einem Athleten, der sich von Kindesbeinen an auf den wichtigsten Start seines Lebens vorbereitet hat, selbst um den Preis der Demütigung nicht die Möglichkeit nehmen darf, an Wettkämpfen teilzunehmen. Bis zum 24. Februar mag dieses Argument valide gewesen sein. Jetzt aber, da Soldaten an der Front ihr Blut und sogar ihr Leben für die nationale Ehre opfern, wird es kaum noch Verständnis für einen Sportler geben, der für seine Medaillenambitionen bereit ist, die Fahne des Vaterlandes beiseitezulegen – ganz gleich, wie überzeugend Sportfunktionäre und verdiente Trainer das "Recht auf Ehrlosigkeit" auch verteidigen mögen.

Gäbe es den großen Sport in einem völlig isolierten Raum (allerdings mit öffentlichen Geldern finanziert, das ist doch heilig!), in dem die Meinung der Öffentlichkeit überhaupt keine Rolle spielt, würde das Ultimatum des IOC wahrscheinlich akzeptiert werden, und den Fans und Zuschauern wäre gesagt worden: "Friss oder stirb!" Aber die öffentliche Stimmung scheint sich dieses Mal nicht verbiegen zu lassen, sie ist dagegen, und zwar sehr dagegen. Und das "großzügige" IOC, das dies nicht berücksichtigt hat, scheint den Bogen dieses Mal überspannt zu haben.

Übersetzung aus dem Russischen. Der Artikel ist am 2. April 2023 auf ria.ru erschienen. 

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