Wagenknechts bevorstehende Parteigründung: Volksaufstände in den Redaktionsstuben

Die Frage, ob Sahra Wagenknecht eine neue Partei gründet, wirft ihre Schatten voraus. Eine solche Neugründung hätte zahlreiche Folgen, für die Wagenknecht und ihre Mitstreiter Nerven wie Drahtseile bräuchten. Doch es stehen auch grundlegende Fragen der Demokratie im Raum. Womöglich bricht diese auf ganzer Linie zusammen.

Von Tom J. Wellbrock

Es ist denkbar, dass die Medien im Falle einer Parteigründung von Sahra Wagenknecht eine Rolle spielen könnten, die zu unkontrollierbaren Prozessen führt. Mehr noch: Es ist sogar sehr wahrscheinlich.

13.000 Journalisten versus 50.000 Demonstranten

Mehr als 700.000 Menschen haben das von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierte Friedensmanifest unterschrieben. Auf der entsprechenden Kundgebung in Berlin waren rund 50.000 Menschen (ca. 13.000 Journalisten sind der Meinung, es seien weniger gewesen). Das ist nicht unbedingt wenig, aber auch keine Massenbewegung.

Dennoch schlug Schwarzer und Wagenknecht teils der pure Hass entgegen. Medienvertreter gaben sich den brennenden Stab in die Hand, um ihn in Öl zu tunken und dann direkt ein Feuer auf ihrer Tastatur zu legen. Bezeichnet man das, was nach der Publikation des Friedensmanifestes zu beobachten war, als Feindseligkeit, muss man sich der Untertreibung schuldig sprechen lassen.

Mehr noch, als es vorher bereits der Fall war, ist seit der Aktion von Wagenknecht und Schwarzer der "Lumpenpazifist" zum Inbegriff aller geworden, die sich demokratiefeindlich und der Ukraine gegenüber unsolidarisch aus der Gemeinschaft der Bürger verabschiedet haben. Gefangene werden nicht gemacht, die in Ungemach gefallenen Feinde der Gesellschaft brauchen auf Gnade nicht zu hoffen. Wer sie in die mediale Mangel nimmt, kann sicher sein, keine unerlaubten Grenzen zu überschreiten, und wenn es doch passieren sollte, war es eigentlich so auch wieder nicht gemeint.

Wie feindselig die Stimmung gegenüber Menschen geworden ist, die sich Frieden wünschen, wird in dem verlinkten Video, das die wichtigsten "Argumente" der Kriegsbefürworter zusammenfasst, deutlich.

Der Zusammenhang mit einer möglichen Parteigründung durch Sahra Wagenknecht zeichnet sich hier bereits ab. Denn was wird passieren, wenn nicht ein paar Tausend Leute nach Berlin zu einer Kundgebung fahren, sondern bei der nächsten Bundestagswahl einer Partei ihre Stimme geben, die man so überhaupt nicht gebrauchen kann?

20 bis 30 Prozent Probleme

Die Parteienlandschaft ist faktisch ihrer Bedeutung nach tot. Alle im Bundestag sitzenden Parteien ergänzen sich entweder in erschreckender Weise durch ihre propagandistische Haltung oder – wie Die LINKE – sie zerfleischen einander durch Karrieristen an der Spitze, die gar nicht mehr wissen, wofür ihre Partei einst stand.

Einzige Ausnahme ist die AfD, die auf Bundesebene bei jeder noch so kleinen Gelegenheit angefeindet und diffamiert wird (auf Kommunalebene ist das freilich anders, dort wird oft eher pragmatisch Politik gemacht, wenngleich Anträge der AfD auch dort wenig Erfolgsaussichten haben). Die AfD kann aber naturgemäß und verständlicherweise nicht alle Wähler abbilden, die regierungskritisch sind. Sie hat eine Zielgruppe, auf die sie sich verlassen kann, doch die "Laufkundschaft" entscheidet sich immer wieder auch gegen diese Partei. Das ist aus demokratischer Sicht nur folgerichtig und im Grunde Sinn der Parteien: Unterscheidbarkeit und für die Wähler die Möglichkeit, sich für die Partei mit dem größten gemeinsamen Nenner zu entscheiden.

Doch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese soeben genannte Wahlmöglichkeit nicht mehr vorhanden ist. Spätestens seit Corona und dem aktuellen Ukraine-Krieg lässt sich nicht mehr leugnen, dass es bei den Parteien keine nennenswerten Unterschiede mehr gibt. Für die Wähler ist das fatal, denn sie verstehen das Schritt für Schritt immer besser. Die Konsequenzen sind auf der einen Seite Wahlergebnisse, die an der Gesamtkonstruktion der Parteienlandschaft nichts ändern, also auf das altbekannte "Weiter so" hinauslaufen. Auf der anderen Seite gehen der Demokratie immer mehr Wähler verloren, weil diese sich entscheiden, gar nicht mehr zu wählen. Dazu ein paar Worte eines politischen Kommentators:

"Ich wähle nicht mehr. Es macht keinen Sinn. Wenn ich heute eine andere Partei wähle als bei der letzten Wahl, erwarte ich, dass im besten Fall daraus eine andere Politik folgt. Doch das ist nicht so. CDU, SPD, Grüne, FDP, LINKE? Mein Kreuz ändert nichts daran, dass am Ende das herauskommt, was vorn steht. Ob wir von einer Koalition aus SPD oder CDU an der Spitze regiert werden, macht keinen Unterschied. 

Das ist schon lange ein systemisches Problem geworden. Wenn ich weiter wähle, unterstütze ich dieses System, ich stimme ihm zu, erkläre mich einverstanden mit einer politischen Praxis, die mit Demokratie gar nichts mehr zu tun hat. Es wäre also geradezu absurd, weiterhin zur Wahl zu gehen."

Man kann dem nur schwer widersprechen. Während es in der historischen Betrachtung noch inhaltliche Unterschiede zwischen den Parteien gab, ist davon nichts mehr übrig. Worin unterscheiden sich etwa die Haltungen von CDU und LINKEN bei den Corona-Maßnahmen oder Waffenlieferungen? Bestenfalls in Nuancen. Das reicht nicht, um eine Parteienlandschaft zu bieten, die wirkliche Wahlmöglichkeiten beinhaltet.

Journalisten, zu den Waffen!

Es gibt Zeitgenossen, die die Heftigkeit der medialen Reaktionen auf das Manifest und die Kundgebung von Schwarzer und Wagenknecht überrascht hat. Und tatsächlich waren die Anfeindungen objektiv betrachtet völlig überzogen. Selbst wer sich gegen das Manifest und die Kundgebung ausspricht, hätte das in einem demokratischen Rahmen machen können, der eine Spur sachlicher ist.

Nun befinden wir uns aber nicht mehr in einer Gesellschaftsform, die demokratisch ist oder Wert auf objektive Perspektiven legt. Genaugenommen haben wir uns aus einer Gesellschaft verabschiedet, in der unterschiedliche Meinungen überhaupt noch zulässig sind. Was früher einmal ein Meinungskorridor war, ist heute ein Faden, auf dem man schlicht nicht mehr stehen kann, er ist reine Makulatur, ein Fake gewissermaßen. Trotzdem übersteigen die hässlichen, persönlichen und zutiefst undemokratischen Reaktionen sogar noch die aus der Corona-Episode, zumindest wenn man bedenkt, um was es geht. Das Trommeln für die Aushebelung der Grundrechte war zwar in der Form nicht weniger aggressiv als die massive Kritik an Wagenknecht und Schwarzer. Doch hier geht es um einen Krieg, in den Deutschland längst hineingezogen wurde und der politisch und medial weiter eskaliert wird. Waren und sind die Grundrechte essenziell, ist die Kriegsgefahr existenziell.

Weite Teile des deutschen Journalismus haben längst zu den Waffen gegriffen. Ihre Tastaturen sind durchgeladen, entsichert und jederzeit zum Schuss bereit. Und sie sind in Lauerstellung ob des nächsten feindlichen Angriffs, den sie erwarten.

Keine Gefangenen

An dieser Stelle nochmals der oben bereits zitierte politische Beobachter:

"Ich denke schon, dass eine Wagenknecht-Partei etwas verändern könnte. Wenn die tatsächlich 20 oder sogar 30 Prozent Stimmenpotenzial hat, ist das keine Kleinigkeit. Zumal vermutlich die meisten Stimmen aus der Ecke der Altparteien kommen würden. Gut möglich, dass sich Wagenknecht und die AfD gegenseitig Stimmen nehmen würden, das würde aber vermutlich keine großen Auswirkungen haben, wenn man bedenkt, dass sie zusammen auf vielleicht 30 oder sogar 40 Prozent kommen könnten. Lass es 25 Prozent sein, und die anderen haben ein Problem.

Das Gute wäre, dass sich Wagenknecht und AfD voneinander abgrenzen könnten und wahrscheinlich auch müssten. Es würde aber an ihrem Potenzial nicht viel ändern. Auf jeden Fall hätten wir hier zwei Parteien, die nicht mit dem Filz der Altparteien verseucht sind. Wagenknecht scheint da nicht gefährdet zu sein, bis jetzt ist sie ja auch nicht in die Korruptionsfalle getappt. Und die AfD musste ohnehin ja seit dem Einzug in den Bundestag und die Landtage immer draußen bleiben. Das könnte den Altparteien noch richtig auf die Füße fallen. Könnte aber auch sein, dass die AfD umgarnt wird von den alten Parteien. Dann wäre die Frage, wie ehrlich sie es mit der politischen Veränderung meint."

Das scheint ein denkbares Szenario zu sein, doch das Problem wird zunächst aus einer anderen Ecke kommen. Und damit machen wir den Schwenk zurück zu Manifest und Kundgebung.

Sollte die Ankündigung einer Parteigründung durch Wagenknecht erfolgen, wird in den Medien kein Stein mehr auf dem anderen bleiben. Gemeinsam mit den Altparteien wird es zu regelrechten Grausamkeiten kommen, darauf dürfte Verlass sein. Wenn 700.000 Unterzeichner des Manifests und 50.000 Teilnehmer der Kundgebung in Berlin ein Gewitter auslösen konnten, wie wir es erlebt haben, muss man kein Genie sein, um das mediale und politische Gewaltpotenzial zu erahnen, das im Falle von Millionen potenzieller Wähler entstehen würde.

Es ist sogar zu vermuten oder zumindest nicht auszuschließen, dass Politik und Medien jedes Maß verlieren, dass regelrecht um sich geschlagen wird und sämtliche Hüllen fallen sowie Grenzen des Anstandes aufgelöst werden. Dass sie das können, zeigen in allerdings erheblich kleinerem Maßstab die Reaktionen auf Schwarzer und Wagenknecht.

Die Folgen könnten gravierend sein. Wenn aus gezielter und geplanter Propaganda so etwas wie blanke Angst wird, sind die Reaktionen entsprechend unkontrolliert. Wir erleben ja bereits seit der Corona-Episode Medien außer Rand und Band, der Ukraine-Krieg führte zu einer neuen Stufe, die vor einigen Jahren in dieser Form wohl kaum denkbar gewesen wäre. Die letzten drei Jahre helfen aber auch dabei, die Medienlandschaft besser einzuordnen. Denn es geht eklatant nicht um irgendwelche Haltungsjournalisten, die zwischen Nachricht und Meinung nicht mehr unterscheiden können. Es geht auch nicht um Überzeugungen, die so tief in den Journalisten verwurzelt sind, dass die Professionalität darunter leidet.

Es geht ausnahmslos um Karrieren und Rollen, die durch Journalisten besetzt wurden. Die wenigsten derer, die diese Rollen ausfüllen, können oder wollen die Perspektive wechseln. Viel zu tief stecken sie in den Zahnrädern des Systems, das sie nicht nur üppig füttert, sondern darüber hinaus massiv unter Druck setzen kann. Je besser es einem Journalisten innerhalb dieses Systems geht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es in seiner Vita Erpressungspotenzial gibt (das gilt selbstverständlich auch für die Politiker), das aus dem Besuch beim teuren Italiener in der City von Berlin den Wechsel an einen Imbisswagen erforderlich werden lässt.

Man könnte sagen, dass Journalisten auf dieser Ebene Gefangene sind, aber keine machen.

Journalisten am Rande des Nervenzusammenbruchs

Eine Wagenknecht-Partei wäre aus den beschriebenen Gründen zunächst einmal wichtig, und nicht nur das, sie wäre vermutlich eine der letzten Möglichkeiten, so etwas wie Demokratie wieder herzustellen oder in deren Nähe zu kommen. Man muss nüchtern feststellen, dass die politische und mediale Landschaft der Sargnagel dieser demokratischen Gesellschaft ist. Allein Corona hat offengelegt, wie unkontrolliert Politik gemacht wird, wenn Mechanismen fehlen, die das verhindern.

Inzwischen sind wir einerseits an einem Punkt, an dem außenpolitisch eine Art "Baerbocksches Desaster" stattfindet, das nur sehr begrenzt für Häme und Amüsement taugt. Denn die Außenministerin Deutschlands trägt nicht nur zu einem deutschen Bild bei, das bei ausländischen Politikern Kopfschütteln verursacht. Sie provoziert –, und das ist entscheidend – mit ihrer aggressiven Haltung regelmäßig andere Staaten, was der Rolle Deutschlands in der Welt schadet. Und Baerbocks intellektuell begrenzten moralischen Missionierungen bewirken international zu Recht, Abneigung und Unverständnis. Entscheidend ist jedoch Baerbocks fehlendes Wissen über die Grundzüge der Diplomatie und der menschlichen Kommunikation. Wenn sich die Wähler ernsthaft die Frage stellen, ob ihre Außenministerin wirklich dumm ist oder etwas anderes dahintersteckt, ist die Zeit überreif für eine Amtsenthebung.

Wir sind andererseits innenpolitisch an dem Punkt, an dem durch einen inkompetenten, ichbezogenen und beratungsresistenten Wirtschaftsminister alles, was wirtschaftlich nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde, in Einzelteile zerstückelt wird. Mit all den verheerenden Folgen für den Wohlstand, den Sozialstaat und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wie bei Baerbock beherrscht auch bei Habeck Inkompetenz und fehlendes Urteilsvermögen sein Handeln, was in beiden Fällen darauf schließen lässt, dass Fachwissen und Demokratieverständnis nicht zu den Eigenschaften gehören, die von den beiden Ministern erwartet werden, die offenkundig sogar komplett unerwünscht sind.

In diesem Klima wäre eine Wagenknecht-Partei womöglich eine der letzten Gelegenheiten, das fast schon zertretene zarte Pflänzchen der Demokratie noch irgendwie zu retten.

Doch eines muss auch klar sein: Wenn es so kommen sollte, wird es hässlich, sehr hässlich. Es wird ein Hauen und Stechen geben, die Wahl der Mittel (Waffen) wird ohne Rücksicht oder humanistische Prämissen erfolgen. Es wird auf eine Schlacht hinauslaufen, die nicht nur die deutsche Parteienlandschaft erheblichen Unwuchten aussetzt, sondern die Gesellschaft als solche in eine brisante und wohl auch gefährliche Lage bringt. Denn der Kampf zwischen einer neuen Partei, gegründet von Sahra Wagenknecht und den Medien und der Politik, wird – auch das ist denkbar – nicht an der Bevölkerung vorbeiziehen, sondern sie mit voller Wucht in ihren Sog ziehen. Das unkontrollierte Verhalten von Journalisten, die von Sinnen sind, wird Teile der Bevölkerung in die Situation bringen, Position zu beziehen.

Wenn wir an einem solchen Punkt angekommen sind, kann niemand sagen, was passieren wird.

Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs "neulandrebellen".

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