Meinung

Der Philosoph Jürgen Habermas plädiert aus falschen Gründen für richtige Verhandlungen

Jürgen Habermas plädiert für Verhandlungen. In seiner Argumentation wird deutlich, wie wichtig offener Diskurs ist. Durch einen verengten öffentlichen Diskurs fehlen relevante Informationen zur Einschätzung. Weil das in Deutschland so ist, argumentiert Habermas an der Sache vorbei.
Der Philosoph Jürgen Habermas plädiert aus falschen Gründen für richtige VerhandlungenQuelle: www.globallookpress.com © Arne Dedert

Von Gert Ewen Ungar

Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas plädiert in einem Beitrag der Süddeutschen Zeitung für eine Verhandlungslösung zur Beilegung des Ukraine-Konflikts. Er argumentiert über die berechtigten Sicherheitsinteressen der Bürger einerseits und hält dem Krieg das Völkerrecht entgegen. Denn

"Krieg, und der von Putin vom Zaune gebrochene Krieg erst recht, ist das Symptom eines Rückfalls hinter den historischen Stand eines zivilisierten Umgangs der Mächte miteinander."

Habermas nimmt den Begriff des Zivilisationsbruchs auf. Dabei erstaunt, dass Habermas, der die Geduld seiner Leser oft bis an die Grenze des Zumutbaren mit Kontextualisierungen und Einordnungen strapaziert, sich hier der Kontextualisierung und eines Blickes auf die Entwicklung des Konflikts völlig enthält. Wie für deutsche Medien und deutsche Politik hat der Konflikt auch für die deutsche Philosophie anscheinend keine Vorgeschichte ‒ Putin bricht mit der Zivilisation. Das war's.  

Habermas plädiert für Verhandlungen, auch wenn der Westen aus "guten Gründen" Waffen an die Ukraine liefere. Auch diese "guten Gründe" benennt Habermas nicht. Das muss auch so sein, denn diese guten Gründe gibt es schlicht nicht. Es gibt im ethischen Sinne dafür nur schlechte. 

Seine Intention ist, mit Verhandlungen einen langen Krieg zu verhindern und Menschenleben zu schützen. Der löbliche Ansatz kommt reichlich spät. 

"Mir geht es um den vorbeugenden Charakter von rechtzeitigen Verhandlungen, die verhindern, dass ein langer Krieg noch mehr Menschenleben und Zerstörungen fordert und uns am Ende vor eine ausweglose Wahl stellt: entweder aktiv in den Krieg einzugreifen oder, um nicht den ersten Weltkrieg unter nuklear bewaffneten Mächten auszulösen, die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen."

Diese Forderung ist gleich in mehrerlei Hinsicht erstaunlich, weil der Weg hin zum Krieg mit Verhandlungen gepflastert war: Verhandlungen zum Assoziierungsabkommen, Verhandlungen im Rahmen des Maidan, Verhandlungen in Minsk, dann Minsk 2, Treffen im Normandie-Format, zuletzt im Dezember 2021 die russische Forderung an die USA und NATO nach Sicherheitsgarantien. Die Entwicklung hin zum Krieg hätte zu jedem Zeitpunkt verhindert werden können ‒ wenn man denn gewollt hätte. Der Verlauf legt nahe: Man wollte nicht. Äußerungen westlicher Politiker untermauern diese These inzwischen. 

Die Forderung ist aber noch in anderer Weise erstaunlich, da es unmittelbar nach Ausbruch des Krieges ab Ende Februar bis Ende März 2022 Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland gab, in denen ein Ergebnis erzielt wurde, das für die Ukraine ausgesprochen günstig war: Russland zieht sich auf die Linie vom 23. Februar zurück, die Ukraine tritt nicht der NATO bei und kehrt zu ihrem neutralen Status zurück. Diese Vereinbarung lag faktisch unterschriftsreif vor, wurde aber vom Westen hintertrieben. 

Vor diesem Hintergrund wirkt es uninformiert, wenn Habermas schreibt, der Westen hätte deutlich machen sollen, dass "das erklärte Ziel der Wiederherstellung des status quo ante vom 23. Februar 2022 den späteren Weg zu Verhandlungen" erleichtern würde.

Der Verlauf zu Beginn des Krieges zeigt deutlich, dass diese Wiederherstellung der Grenzen vom 23. Februar nicht das Anliegen des Westens war. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass der Krieg selbst das Ziel aller westlichen Bemühungen war und ist. 

Offensichtlich weiß Habermas von diesen Abläufen nichts. Das wirft ein Licht auf den Diskursraum, in dem er sich befindet. Er ist verengt und lässt für die Einschätzung der Situation bedeutende Informationen nicht durchdringen. Niemand sollte darüber mehr alarmiert sein als Habermas selbst, immerhin kreist sein Lebenswerk um genau dieses Thema ‒ den freien, offenen Diskurs als Voraussetzung für eine freie, offene Gesellschaft. 

Es wirkt verloren und realitätsfern, wenn Habermas schreibt:

"Schon dieser Gedanke (an Menschenleben und Ressourcen) müsste uns nahelegen, auf energische Versuche zu drängen, Verhandlungen zu beginnen und nach einer Kompromisslösung zu suchen, die der russischen Seite keinen über die Zeit vor dem Kriegsbeginn hinausreichenden territorialen Gewinn beschert und doch ihr Gesicht zu wahren erlaubt."

Russland hat das im März 2022 selbst als Lösung angeboten. Diese Lösung wurde zurückgewiesen. 

Habermas' Forderung nach einer Verhandlungslösung ist argumentativ schwach unterfüttert. Anlässlich der Geschichte drängt sich zudem die Frage auf, mit wem Russland verhandeln soll. Welche Partei genießt überhaupt noch das Vertrauen Russlands, wer hat sich nach 1990 oder einfach nur nach 2014 für Russland als verlässlicher Partner erwiesen? Deutschland und Frankreich scheiden spätestens mit ihrem Geständnis der Instrumentalisierung des Minsk-Prozesses zur Militarisierung der Ukraine als nicht vertrauenswürdig aus. Habermas widmet sich dieser zentralen Frage nicht. 

Immerhin erkennt Habermas, dass die Ukraine aufgrund ihrer Abhängigkeit nicht allein entscheidet. Die USA sollen in Verhandlungen einbezogen sein. Am Ende soll eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa stehen. Dabei haben die Zerstörung der bestehenden Sicherheitsarchitektur durch die einseitige Aufkündigung von Rüstungskontrollverträgen durch die USA und eine immer weitergehende Ausdehnung der NATO nach Osten die Bedingung für die Möglichkeit des Ukraine-Konflikts erst geschaffen. Habermas ignoriert auch diesen Zusammenhang. Dabei würde dadurch deutlich, dass auch die USA als ernstzunehmender Verhandlungspartner ausfallen. 

Mit dem Westen ist aktuell keine Verhandlungslösung denkbar. Das bedeutet nicht, dass dieser Konflikt bis zur bedingungslosen Kapitulation der Ukraine geführt werden muss, denn es gibt mögliche Verhandlungspartner auf der Suche nach einer diplomatischen Lösung, die Habermas aufgrund seiner eurozentrischen Sicht nicht erkennen kann, schließlich befinden sie sich alle außerhalb des westlichen Bündnisses. Brasilien hat eine Initiative angekündigt, China käme in Frage. Auch die Türkei hat schon viel zu einer möglichen diplomatischen Lösung des Ukraine-Konflikts beigetragen. Indonesien hat sich angeboten. Es gibt die Möglichkeit für Verhandlungen, nur eben nicht mit dem Westen, denn dort hat sich die Vernunft in all ihren Formen längst verabschiedet.

Sollte es zu Verhandlungen kommen, werden sie dem Westen einen neuen Platz in der globalen Ordnung zuweisen. Sollte es keine Verhandlungen geben, wird es Russland tun.

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Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.