Meinung

Erdoğans Prüfungen 2023 – Teil 1: Katastrophenhilfe für die Türkei vs. Militärhilfe für die Ukraine

Es gibt langfristige Investitionen und humanitäre Schenkungen. In der Ukraine kämpft der Westen buchstäblich um sein ideologisches Überleben – in der Türkei noch nicht. Deshalb bekommt Kiew 460-mal mehr Geld als Ankara. Obendrein hat Erdoğan mit einer Wiederwahl zu kämpfen.
Erdoğans Prüfungen 2023 – Teil 1: Katastrophenhilfe für die Türkei vs. Militärhilfe für die UkraineQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Turkish presidency apaima

Von Elem Chintsky

Es gibt kaum einen anschaulicheren Vergleich der westlichen Prioritätensetzung, als die Hilfsgelder zu begutachten, die einerseits aus dem Westen nach Kiew flossen und weiter fließen werden und andererseits die, welche Ankara oder Damaskus bisher erreichten.

Ja, das Erdbeben in der Türkei und in Syrien ereignete sich Anfang Februar 2023, wohingegen der Krieg in der Ukraine dem gegenüber einen Vorsprung von einem ganzen Jahr innehat.

Dennoch, die monetäre Katastrophenhilfe aus dem Westen für die Türkei, und in viel kleinerem Maße für Syrien, ist, im direkten Vergleich zur Fütterung der Kriegsmaschine in der Ukraine, überwältigend.

Allein am Beispiel Großbritanniens – laut Selenskij der wichtigste Verbündete Kiews, nach den USA – könnten die beiden Hilfsbudgets kaum unterschiedlicher sein. London vermachte dem Kiewer Regime im Laufe des Jahres 2022 ganze 2,3 Milliarden Pfund (2,6 Milliarden Euro). Laut den Aussagen des britischen Premierministers Rishi Sunak, als er vom ukrainischen Präsidenten jüngst besucht wurde, soll die neue Summe für 2023 mindestens gleich hoch sein. Das macht London, nach Washington D.C., zum zweitgrößten Geldgeber der Ukraine.

Für Ankara und Damaskus hingegen wurden 5 Millionen Pfund (5,65 Millionen Euro) von London liquide gemacht. Das stellt zum einen das 460-fache dar, zum anderen eine klare politische Bevorzugung. 

Die Europäische Kommission stellte Damaskus 3,5 Millionen Euro zur Verfügung, wie viel Ankara im Vergleich bekam, ist aus derselben Quelle nicht ersichtlich. Für das Jahr 2022 schickte die Europäische Kommission 19,7 Milliarden Euro an Kiew – also ein Monatsdurchschnitt von fast 2 Milliarden Euro. Für 2023 sind bereits weitere 18 Milliarden Euro angelegt. Dies sind offiziell "Darlehen zu sehr günstigen Konditionen", was eigentlich Investitionen des Westens darstellen, in der Hoffnung, die Ukraine nach eigenem Ebenbild zu formen, und die Kapitalrenditen und andere Formen der "Rückzahlung" aus dem Mediendiskurs fernzuhalten.

Muslimische Länder aus der Region haben in der Hinsicht in einer ganz anderen Liga gewirkt: Katar sandte Hilfsgelder in Höhe von 1,6 Milliarden US-Dollar (1,5 Milliarden Euro) an die Türkei. Pakistan schickte 117 Millionen US-Dollar (109 Millionen Euro). Kuwait entsendete 85 Millionen US-Dollar (79,5 Millionen Euro). Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate haben an Hilfsgeldern jeweils ungefähr das 10-fache von Großbritannien oder der EU bereitgestellt – 58 Millionen US-Dollar (54 Millionen Euro) und 53 Millionen US-Dollar (49,5 Millionen Euro). Der Fairness halber sei hier erwähnt, dass die Summen, die vom Kreml bisher an Ankara versendet wurden, nicht öffentlich sind. Die türkischen und syrischen Führungen haben sich aber für die bisherige Hilfe Vorort, vor allem geleistet durch zahlreiche russische Experten der Katastrophenhilfe, die zügig aufgetaucht sind und signifikante materielle Hilfe mitbrachten, bedankt. 

Der Westen hat einen signifikanten Propagandavorteil, mit dem es mit dieser Unausgeglichenheit der Hilfsgelder-Leistungen bisher davonkommen konnte. Die Menschen der Türkei und Syriens sind "lediglich" Opfer einer Naturkatastrophe geworden. Ein Naturdesaster, das bisher schon über 42.000 Menschenleben eingefordert hat und von dem die Leben von über 7 Millionen Kindern in beiden Ländern betroffen sind. 

Die Menschen der Ukraine sind laut offizieller Narrative Opfer einer "unprovozierten", plötzlichen und vermeintlich vollkommen unangekündigten Invasion Russlands geworden. Letzteres wirkt sich in der britischen Zivilgesellschaft so aus, dass die Bürger der Inseln bisher die Ukrainepolitik Londons weitestgehend unterstützt haben.

Wobei die Opferzahlen innerhalb der Zivilbevölkerung in der Ukraine, als auch innerhalb der vom Erdbeben betroffenen Gebiete in der Türkei und in Syrien mittlerweile fast auf Gleichstand sind. 

Die Zahlen der gefallenen ukrainischen und russischen Soldaten in der Ukraine sind selbstverständlich andere, viel höhere Zahlen, die bei solchen Vergleichen separat berücksichtigt werden müssten.

Mehr noch, mit solchen direkten Vergleichen fährt man journalistisch entlang der Pietätsgrenze. Aber man kommt nicht umher, die Zahl der zivilen Opfer gegenüberzustellen, um so die starken Unterschiede in der Hilfeleistung und die Art der Hilfeleistung hervorheben zu können. Die Geld-Darlehen für die Ukraine, zum Beispiel, kommen oft in Form von fertigem Kriegsgerät Vorort an und erstellen das mittlerweile bekannte Paradoxon der "Panzer, die Leben retten".

Der EU-Opportunismus kann schnell nach hinten losgehen

Was die Brüsseler Entscheider anscheinend nicht genügend realisieren wollen, ist, was für eine organisatorische Pufferrolle die Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan in den letzten Jahren beim Verkehr von Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak einnahm. Die Türkei ist das weltweit größte Aufnahmeland für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten geworden.

Alleine letztes Jahr gab Ankara 5,22 Milliarden Euro für humanitäre Flüchtlingshilfe aus. Diese Summe stellt fast 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Türkei dar und macht die Nation zum Anführer dieser Art Hilfe weltweit. Zum Vergleich: die bisherigen wirtschaftlichen Schäden für die Türkei, die das Erdbeben verursacht hat, belaufen sich mittlerweile auf 10 Prozent des eigenen Bruttoinlandsprodukts. Die Überbelastung des Staates ist klar vorhanden.

Der politische Wille Brüssels, nicht mit glänzendem Beispiel voranzugehen und großzügige Ressourcen in die Türkei und Syrien als Unterstützung zu übermitteln, wird einen verheerenden langfristigen Effekt haben, an dem am Ende die EU nur verlieren wird. Die Türkei wird in ihrer Rolle als Aufnahmeland für Flüchtlinge so geschwächt sein, dass Länder der EU – als kontinentale Nachbarn der Türkei – notgedrungen in die Position gedrängt werden, vieles, was Ankara nun nicht schafft zu bewerkstelligen, direkter auf sich nehmen zu müssen. Im Klartext heißt das, noch mehr Geflüchtete, Flüchtlinge und Migranten bei sich aufzunehmen.

Dies wird zu weiteren innereuropäischen Konflikten über "faire Flüchtlingsquoten" führen, wie sie mittlerweile zwischen Italiens rechtskonservativer Premierministerin Giorgia Meloni und dem liberalen Staatspräsidenten Frankreichs, Emmanuel Macron, aufgeflammt sind. 

Wer aufmerksam ist, weiß, dass innenpolitisch in Deutschland auch bereits die Zeichen der Zeit klar ausgerufen wurden. Bundesländer und Kommunen appellieren an Berlin um Führungskraft, Hilfen, Lösungen und sprechen klar von einer sich bereits im vollen Gange befindenden, großen Migrations- und Flüchtlingskrise. Jüngste Aussagen des Bundeskanzlers, die von Ratlosigkeit zeugen, lassen dahingehend nur noch Schlimmeres antizipieren. Anderen EU-Ländern geht es nicht anders.

Hinzu kommen die ukrainischen Flüchtlingsströme und die Staatskassenbelastung, die sie verursachen, welche Polen zum Beispiel plant, mit den EU-Haushaltsgeldern zu kompensieren, statt mit dem eigenen Haushaltsbudget. EU-Haushaltsgelder aber, deren größter Nettozahler bisher die Bundesrepublik Deutschland war. Hier schließt sich der Kreis, beziehungsweise:  hier droht der sich selbst verzehrende Kreis aus den Fugen zu geraten.

Der EU ist es wichtiger, Erdoğan mit der Naturkatastrophe kontrolliert auf Distanz zu halten, hoffend auf einen politischen Wechsel in Ankara. Dieser mag womöglich auch kommen. Aber das Zögern der Europäer hier wird den erdrückenden Katalog an bisherigen selbstverschuldeten Versäumnissen –, die ohnehin schon zu unerwünschten, weitreichenden politischen Wechseln in der EU selbst beitragen werden – nur noch erweitern.

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, wo man noch mehr von ihm lesen kann.

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