Wo ist der Skandal? Über bemerkte und unbemerkte Korruption im EU-Parlament
Von Pierre Lévy
Panik und Bestürzung. Seit bekannt wurde, was die großen Medien nun als "Katargate" bezeichnen, ist die kleine Brüsseler Blase in Aufruhr: Parlamentarische Mitarbeiter und EU-Abgeordnete – Italiener, Griechen, Belgier, hauptsächlich aus der sozialdemokratischen Fraktion – werden beschuldigt und verdächtigt, Vergütungen und Vorteile von Katar erhalten zu haben – im Austausch für die Förderung der Interessen des Emirats. Sechs Personen wurden von der belgischen Polizei festgenommen und vier inhaftiert, darunter eine Vizepräsidentin des Europaparlaments.
Es hagelte Verurteilungen. Die Präsidentin dieser Kammer, Roberta Metsola, denunzierte den Vorgang, ohne zu lachen, als einen "Angriff auf die europäische Demokratie". Ihr Gegenüber in der Kommission, Ursula von der Leyen, zeigte sich alarmiert darüber, dass das "Vertrauen der Europäer in unsere Institutionen" aufs Spiel gesetzt werde. Ohne Witz! Um das EU-Parlament in Verruf zu bringen, hätte es erst einmal einen Ruf haben müssen – in Wirklichkeit ist es der überwältigenden Mehrheit der Bürger in den 27 Ländern völlig egal. Das Einzige, was man der Straßburger Versammlung vorwerfen kann, ist ihre völlige Illegitimität, denn es gibt kein europäisches Volk. Alles andere hat kaum noch Bedeutung.
Der Nervenzusammenbruch der gesamten EU-Fans hat jedoch einige Vorteile. Zunächst einmal ist es eine komische Retourkutsche gegen eine Institution mit einem aufgeblähten Ego, die der ganzen Welt ständig Moralpredigten über Transparenz und Rechtsstaatlichkeit hält. Der ganzen Welt und sogar den Mitgliedsstaaten: Es war genau dieses selbst ernannte "Parlament", das die Feindseligkeiten gegen Ungarn eröffnet hatte, indem es dessen Regierung der Korruption beschuldigte. Premierminister Viktor Orban ließ sich die Freude nicht nehmen: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.
Darüber hinaus gehört der ehemalige Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB), Luca Visentini (heute Präsident des Internationalen Gewerkschaftsbundes), zu den Beschuldigten. Dies wirft ein grelles Licht auf die inzestuöse Verflechtung zwischen diesem Gewerkschaftsbund und den Brüsseler Institutionen.
Außerdem kann man sich den geopolitischen Aufschrei kaum vorstellen, wenn der Bestecher nicht Doha, sondern Moskau gewesen wäre. Was hätte man nicht alles über die Einflusskanäle gesagt, die der Kreml bezahlt, um "unser Europa zu destabilisieren", und über die absolute Notwendigkeit, ein dreihundertneunundfünfzigstes Sanktionspaket zu erlassen. Aber der Emir von Katar hat keine Angst, bestraft zu werden, und sei es nur, weil sein Gas (teilweise) das Gas ersetzt, das früher von Russland geliefert wurde.
Raphaël Glucksmann, der Vorsitzende des "Sonderausschusses zu Einflussnahme aus dem Ausland auf alle demokratischen Prozesse in der Europäischen Union, einschließlich Desinformation" (so heißt dieses Gremium!), bezeichnete die Angelegenheit als "schwerwiegend". Bisher hat er sich allerdings mehr bei der Jagd nach russischer oder chinesischer Einflussnahme aufgeregt; wenn sich das grundlegend ändern sollte, wäre man überrascht. …
Wenn es darum geht, ausländische Einflussnahme zu verfolgen, muss man feststellen, dass der Schatten Washingtons und das Gewicht des Atlantismus absolut immun sind, und ihnen sogar ein permanenter roter Teppich ausgelegt wird. So kann man sich beispielsweise nicht vorstellen, dass das EU-Parlament im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine von der Linie Uncle Sams abweichen könnte: westliche Solidarität verpflichtet. Im Übrigen muss das US-Finanzministerium dafür nicht einmal eine Kopeke ausgeben, denn die pro-US-Verbindungsleute unter den EU-Abgeordneten arbeiten kostenlos für die Förderung der "freien Welt".
Zudem besetzen die Korruptionsaffären die Medienszene und verstärken damit das Schweigen über das Wesentliche: die Verantwortung der EU-Institutionen für das Unglück der Völker, angefangen bei den wirtschaftlichen und sozialen Rückschritten. Aber wer wird in einer Zeit, in der Emmanuel Macron entschlossen scheint, die Rentenreform in Frankreich durchzusetzen, die Rolle Brüssels als Antreiber und Kontrolleur hervorheben? Dennoch erinnert die Kommission in ihrer kürzlich veröffentlichten Analyse der Lage in den einzelnen Mitgliedsstaaten daran, dass der EU-Rat Frankreich am 12. Juli 2022 empfohlen hat, das Rentensystem zu reformieren, um "die Regeln der verschiedenen Systeme zu vereinheitlichen". Und sie lässt eine gewisse Ungeduld durchblicken: "Bisher wurden noch keine konkreten Maßnahmen formuliert".
Im Getöse der katarischen Schandtaten scheint diese diskrete Druckausübung unbemerkt zu bleiben. Bis wann?
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