Sisyphusarbeit im polnischen Sejm: Russland endlich "Terrorsponsor"
Von Elem Chintsky
Dieses Mal waren die polnischen Parlamentarier lediglich Nachahmer im Kodifizieren "europäischer" Russophobie – nicht die Koryphäen. Denn das Europäische Parlament kam mit der Ausrufung Russlands als "staatlichen Sponsor des Terrorismus" dem polnischen Sejm einige Wochen zuvor. In Warschau traute man sich das erst am 14. Dezember. Und das nicht ohne sichtlichen innenpolitischen Zank: Denn an der finalen Abstimmung nahm die Opposition gar nicht mehr teil – also waren 223 von insgesamt 460 Sejm-Sitzen nicht besetzt.
Die Regierungspartei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) und die Opposition waren sich die längste Zeit der parlamentarischen Debatte um das zu verabschiedende Gesetz einig – bis PiS kurzfristig noch einen Zusatz einbrachte:
Die Behauptung, dass Russland an der Flugzeugkatastrophe von Smolensk 2010 alleinig schuld sein soll. Im Jahr 2010 ist der polnische Präsident Lech Kaczyński, samt Ehefrau und weiterer 95 Mit-Passagiere, auf der Flugroute von Warschau zum Militärflugplatz "Smolensk-Nord" tragisch umgekommen.
Die plötzliche Kluft, die dieser Zusatz verursachen würde, hätten Jarosław Kaczyńskis Spin-Doktoren auf dem Schirm haben müssen. Handelte es sich um ein leichtes Verkalkulieren der politischen Strategie? Oder galt es dazu, das polnische Volk vorsorglich schon für den spaltenden Wahlkampf 2023 einzustimmen? Beide volkspolitischen Kräfte fechten innerhalb der polnischen Gesellschaft seit 2010 einen Deutungskampf darüber aus, ob es sich bei dem Flugzeugabsturz um eine Katastrophe durch menschliches Versagen oder ein vorsätzliches Attentat handelte.
Letztere These hat mehrere Varianten, aber die am meisten benutze ist die des ehemaligen Außenministers Antoni Macierewicz – nämlich, dass vermeintlich russische Geheimdienste einen Bombenanschlag an Bord der Flugmaschine durchgeführt haben sollen. Bei unvoreingenommener Betrachtung aber wird klar, dass dem russischen Geheimdienst die galaktischen Ressourcen gefehlt hätten, eine solche Operation auf polnischem Hoheitsgebiet erfolgreich zu organisieren. Auf diese Erklärung kontert Macierewiczs Umfeld, dass die Tupolew-Maschine wenige Zeit vor der Flugreise bei einer "technischen Wartung" in Russland gewesen sein soll. Des Weiteren ist das genannte Motiv viel zu bequem: Man wollte Präsident Lech Kaczyński für seine konträre, antirussische Politik im Hinblick auf den Georgienkrieg 2008 "bestrafen".
Den Wald vor lauter … Birken nicht sehen können
Eine der am wenigsten behandelten Theorien innerhalb der Attentats-Hypothese, von der kaum ein polnischer Politiker jemals öffentlich gesprochen hat, ist die Annahme, dass westliche Geheimdienste – hier für viele überraschend, der Jesuitenorden – in das Geschehen aktiv involviert war. Da hier jedoch, wie so oft, mehr an historischem Kontext verlangt ist, verweht diese Erklärungsschablone zu Unrecht rasch im Winde. Dabei ist die Tatsache, dass ein ehemaliger polnischer Doppel- und Dreifach-Agent namens Tomasz Turowski am schicksalhaften Tag bei Smolensk geradezu augenblicklich vor Ort zugegen war, nicht so einfach von der Hand zu weisen. Es sei denn, man kann die schiere Erwähnung dieser Tatsache umgehen, was letzten Endes auch bisher die Medien-Taktik gewesen war – in dem ablenkenden Diskurs, "ob es die böse Birke oder der böse Russe" war.
Die jetzige Geschichtsschreibung hält offiziell fest, dass Turowskis Loyalität als extrem einflussreiche "graue Eminenz" im Kalten Krieg in letzter Instanz dem sowjetischen KGB und dem kommunistischen Geheimdienst der Volksrepublik Polen galt. Vermeintlich aber nicht dem Jesuitenorden, bei dem er sich im Jahr 1975 bewarb, enthusiastisch aufgenommen wurde und bis 1984 zum "Geistlichen" und deren Agenten hat ausbilden lassen. Eine seiner Tarnungen war die Tätigkeit bei der polnischen Abteilung des Auslandsrundfunks des Heiligen Stuhles, beim "Radio Vatikan".
Ob er sich nicht auch andersherum, nämlich erfolgreich und vollends vom Jesuitenorden anwerben ließ und die Seiten wechselte, wurde nirgends offiziell nachgewiesen oder dokumentiert, seine Pro-forma-Abdankung kurz vor Ernennung zum Priester schon. Turowskis Spur wurde in den 1990er Jahren sehr zweigleisig: einerseits in der außerordentlichen Gunst der NATO- und EU-nahen Kreise polnischer Politik, andererseits weiterhin ein tiefes Vertrauen in Moskau genießend. Falls es für den Kreml stichhaltige Beweise gegeben hätte, dass ihr ehemaliger, hoher Agent tatsächlich Dienstverrat begann und sich dem ideologischen Feind anschloss, wäre zumindest Vorsicht geboten. Es wäre aber auch nicht das erste Mal gewesen, dass der Kreml hinters Licht geführt worden wäre. Die Chronik des Kalten Krieges ist voll mit Überläufern in beide Richtungen. Viele davon sind unerwähnt oder behalten und wahren bis heute ihre Tarnung.
Turowski selbst wurde wegen seiner kommunistischen Geheimdiensttätigkeit vom polnischen Institut für Nationales Gedenken (IPN) beschuldigt, 2009 gelogen zu haben, als er behauptet habe, nie für einen solchen Geheimdienst gearbeitet zu haben. Der Mann wurde 2011 gerichtlich dessen für schuldig gesprochen, aber ein Jahr später vom Obersten Gericht wieder freigesprochen. Hohe Kräfte innerhalb Polens bekämpften einander, um das kontroverse Schicksal Turowskis – an dem allen Anschein nach viele andere Schicksale hängen – weiter mitbestimmen zu können.
Wie schon angesprochen, wurde Turowskis Lebenslauf diversifizierter mit dem Beginn der unipolaren US-Hegemonie ab 1990: Der sowjetisch-jesuitische Agent etablierte sich in der "unabhängigen" Dritten Polnischen Republik als erhabener Diplomat, der parteiübergreifend sehr geschätzt wurde. Unter anderem nannte ihn der amtlich zertifizierte Russophobiker und damalige Verteidigungsminister Radosław Sikorski seinen "vertrautesten Mitarbeiter". In den Jahren 1996 bis 2001 war er bevollmächtigter Berater und Minister der polnischen Botschaft in Moskau – was heißt, dass er die zweite Kadenz vom russischen Präsidenten Boris Jelzin sowie den Beginn von Wladimir Putins Präsidentschaft hautnah miterleben konnte. Etwas später folgte für ihn eine ähnliche Position, an selber Stelle, im Übergangsjahr von 2009 auf 2010. Am 10. April 2010 war er am Militärflugplatz Smolensk-Nord anwesend, wodurch es geografisch plausibel ist, dass er die Möglichkeit hatte, als einer der Allerersten an den Absturzort zu gelangen. Es wurde berichtet, er habe bei den unmittelbar darauffolgenden Ermittlungen "geholfen". Im Februar 2011 verließ er Russland endgültig.
Plötzlich sind also Indizien zwar da, dass am 10. April 2010 bei Smolensk tatsächlich nicht alles mit rechten Dingen zuging, aber die Signifikanz dessen – falls nachgewiesen – was das "Cui bono" anbelangt, wäre viel tiefgreifender und komplexer. "Alle Wege führen nach Rom". Und das nicht widerrufbare Zerstreiten zwischen der römisch-katholischen Peripherie in Osteuropa und dem Russisch-orthodoxen Osten ist als langjähriges geostrategisches Projekt endlich geglückt. Die Abstimmung letzte Woche im polnischen Sejm hat das – grob gesehen – nur erneut bestätigt.
Der nachrichtendienstliche Zweig der römisch-katholischen Kirche ist der älteste bekannte Geheimdienst der Welt, sogar so alt, dass er genügend Zeit hatte, sich durch kluge Öffentlichkeitsarbeit von diesem "Stigma" vollends zu befreien. Unter anderem etwa mit der Behauptung, der Jesuitenorden sei die letzten 300 Jahre ausschließlich mit Astronomie, Kunst, Mathematik, Armutsbekämpfung und dergleichen beschäftigt gewesen. Die Geschichtsbücher über die Rolle der Jesuiten in der Gegenreformation und Aufklärung sind aber noch weiterhin zugänglich. Wen es interessiert, kann bei der nächsten Lektüre auf die Beschreibung der Jesuiten durch Dostojewskis Helden, Fürst Myschkin, in "Der Idiot" achten – Teil 4, Kapitel 7. Meistens projiziert Dostojewski durch seine Protagonisten ihm persönlich gegensätzliche Weltanschauungen und somit eine reiche, psychologische Landschaft an Charakteren. Die Literaturwissenschaft vermutet aber in diesem Fall eine andere Auslegung, als Fürst Myschkin seine leidenschaftlich-emotionale Tirade hält, die in einem Anfall mündet und begleitet wird von dem distanzierten Mitleid der Beistehenden: Ausgerechnet hier soll der russische Autor seine eigene, private Position zur römisch-katholischen Institution und ihrem Jesuitenorden, wie sie im russischen Reich wirkten, eingeschleust und veräußert haben.
Nachträgliche Gedanken
PiS-Leute hätten einen überwältigenden und parteiübergreifenden Erdrutschsieg bei dieser Abstimmung arrangieren können. Stattdessen haben sie mit dem gierigen, populistischen und beleglosen Zusatz eine Spaltung im Sejm verursacht, die sich nach außen hin ambivalenter projiziert. Die Absichtserklärungen Polens im Hinblick auf ihre russische Außenpolitik sind demnach nun etwas uneiniger als üblich. Dafür aber wurde die nötige, nämlich spaltende Stimmung für das Wahljahr 2023 im polnischen "Populus" generiert.
Für viele stellt das nur knapp mehrheitlich abgestimmte Gesetz "eine leichte Beule oder Asphaltverfärbung auf der deutschen Autobahn" dar, denn weiterhin ist klar, wohin die 250km-Einbahn-Reise grundsätzlich gehen soll: zu einem bewaffneten Konflikt mit der Russischen Föderation. Sowohl die Aufrüstungsstatistiken als auch das außenpolitische Handeln Warschaus sprechen klare Töne. Seit einer Dekade rüstet Polen sein Militärarsenal unentwegt auf. Für das kommende Jahr 2023 sind weitere 100 Milliarden polnische Złoty an militärischen Ausgaben geplant – umgerechnet 21,3 Milliarden Euro.
Ja, das Gesetz ist knapp durchgekommen, da die absolute Mehrheit von PiS so ziemlich jedes Hirngespinst der Legislative noch bis Mitte 2023 Realität werden lassen kann. Die kommenden Parlamentswahlen in Polen gehören zu den entscheidendsten im EU-Pantheon. Davon wird die weitere, genaue Positionierung Warschaus im Ukrainekrieg, im revisionistischen Reparationsstreit mit Berlin, aber auch beim inneren Kräftemessen mit der EU-Kommission in Brüssel abhängen.
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Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017.
Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, wo man noch mehr von ihm lesen kann.
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