Ukrainische Wirklichkeit schlägt Medien-Wunschdenken
Von Rainer Rupp
Folgt man den angeblichen deutschen "Qualitätsmedien", dann hat der Westen mit seinem Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine immer noch "alles im Griff" und man wundert sich nur, warum die mit tollen westlichen Wunderwaffen üppig ausgestatte ukrainische Armee noch nicht vor den Toren Moskaus steht. Wunschdenken und Wirklichkeit haben selten so weit auseinandergeklafft. Westliche Militärexperten konnten in Fernsehshows und Interviews unhinterfragt über die Schwäche der russischen Streitkräfte Märchen erzählen und lautstark vom dem zu erwartenden sicheren Sieg der Ukraine schwadronieren.
In letzter Zeit ist es diesbezüglich stiller geworden in der deutschen und EU/NATO-weiten Medienlandschaft. Die katastrophale Wirklichkeit, mit der die ukrainische Armee auf dem Schlachtfeld und die Zivilbevölkerung in der Etappe konfrontiert sind, können nicht länger mit Fake-Siegesmeldungen übertüncht werden. So kam es am 24. November 2022, allerdings erst kurz vor Mitternacht, um 23:22 Uhr, zu einem der seltenen Momente, bei denen man im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) bei einem Bericht über die Ukraine eine realitätsnahe Einschätzung bekommen konnte. Der österreichische Militärexperte und Historiker, Oberst Markus Reisner, aktiver Offizier des Bundesheeres und Kommandant der österreichischen Garde, hatte seit Beginn der russischen Militäroperation im Donbass zahllose Medienauftritte. Dabei hatte er die Lage auf dem Schlachtfeld leider meist vollkommen falsch beurteilt.
Oberst Reisners Einschätzungen beruhten nämlich fast ausschließlich auf Propaganda-Mitteilungen aus Kiew, bei deren Abfassung US-Experten der psychologischen Kriegsführung die Feder geführt haben dürften. Die Info-Häppchen die den westlichen Medien und Regierungen auf dem Tablett serviert wurden, waren nämlich einfach zu professionell auf den westlichen Geschmack, bzw. passgenau auf das US/NATO-Narrativ abgestimmt und für die im Westen gepflegten Vorurteile gegen Russland zurechtgeschnitten.
Wenn der österreichische Oberst über die westliche Zensur-Schranke hinweg geschaut hätte und andere Quellen, russische, chinesische, arabische, indische und sogar US-amerikanische Berichte von erfahrenen Kriegsberichterstattern und Militäranalysten, dann wäre ihm die Blamage erspart geblieben. Aber immerhin hatte er den Mut, gegenüber dem ZDF zuzugeben, dass er sich schwer geirrt hatte. Dass nämlich "nach neun Monaten Krieg der Westen feststellen muss, dass die Russen durchaus noch Fähigkeiten haben, die wir bisher unterschätzt haben." Als Beispiel nannte er den jüngsten Einsatz von Marschflugkörpern, ballistischen Raketen und iranischen Drohnen.
"Wir haben uns monatelang eingeredet, dass die russische Luftwaffe kaum Einsätze fliegt" oder russische Raketen eine sehr geringe Trefferwahrscheinlichkeit hätten. "Aber jetzt hat uns die Wirklichkeit eingeholt, nämlich in dem Moment, in dem Russland entschieden hat, das zentrale Nervensystem der Ukraine – die Stromversorgung – anzugreifen. (...) Wenn hier kein leistungsfähiges Luftverteidigungssystem eingesetzt wird, wird die Ukraine in wenigen Wochen in völliger Dunkelheit versinken", so Reisner, diesmal mit einer sehr realistischen Einschätzung, denn seit seinem ZDF-Interview ist das inzwischen bereits die Wirklichkeit in der Ukraine.
Auch der deutsche Oberst a.D. Wolfgang Richter, beratender Militärexperte bei der Stiftung Wissenschaft Politik (SWP), der seit dem Krieg in der Ukraine über verschiedene Nachrichtenformate einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde, hatte ähnliche Probleme wie sein österreichischer Kollege. Diese korrigierte er am 29. November 2022 zumindest teilweise in einer Welt-TV-Sendung unter dem Titel "UKRAINE-KRIEG: Man hat wohl die Fähigkeiten der Russen unterschätzt". Darin erläuterte Oberst a.D. Richter die aktuelle Lage in der Ukraine und erklärte:
"Besonders die immer noch ungebrochene Feuerkraft der Russen erstaunte viele Experten. Zwar kämpfen alle Seiten mit Nachschubproblemen, aber die Fähigkeiten der Russen wurde wohl unterschätzt und nun hat Moskau wieder die strategische Initiative übernommen."
Wie bereits erwähnt, hätte den beiden Obristen ein Blick auf das, was die nicht-westliche Welt so über den Ukraine-Konflikt schreibt, sicher gutgetan. Aus fernöstlicher Sicht, zum Beispiel aus der Perspektive der in Hongkong erscheinenden Internet-Zeitung Asia Times sind "die westlichen Länder in ihrer Herangehensweise an den Konflikt in der Ukraine tief gespalten." Diese Tatsache wird jedoch von westlichen Medien und Polit-Experten vehement bestritten, die mit viel Lobhudelei die stark bröckelnde Solidarität unter den EU- und NATO-Ländern einfach ignorieren.
Schon im Jahre 2006 wurde die Online-Zeitung Asia Times von der New York Times als eine der prominentesten Zeitung Asiens bezeichnet, woran sich bis heute nichts geändert hat. Es folgt ein vom Autor dieser Zeilen übersetzter Beitrag des von Asia Times herausgegebenen "Global Polarity Monitor". Die Analyse ist nicht pro-russisch sondern neutral und dennoch im krassen Gegensatz zu der Art Berichterstattung, die wir über die Ukraine aus westlichen, sogenannten Qualitätsmedien serviert bekommen. An einigen Stellen der Übersetzung habe ich in Klammern gesetzte, kurze Kommentare eingefügt:
"In der Ukraine verfolgt Russland weiterhin eine Verteidigungsstrategie. Hinter der Front befestigt es seine Verteidigungslinie, um die Kosten für eine ukrainischen Militäroffensiven zu erhöhen. Dabei gibt es eine Ausnahme: die Operationen zur Zerstörung der letzten (über 8 Jahre) gut vorbereiteten, stark befestigten ukrainischen Verteidigungsanlagen in der Region Bachmut (in unmittelbarer Nähe zur Hauptstadt der neuen russischen Provinz Donezk) werden fortgesetzt. Das Ziel ist sicherzustellen, dass die Ukrainer keine befestigten Stellungen errichtet haben, um die herum sie eine neue Gegenoffensive entwickeln könnten."
"Moskau bleibt auch zuversichtlich, dass die wachsenden Ausgaben des Westens zur Unterstützung der Ukraine die westlichen Führer, einschließlich Präsident Biden, dazu motivieren werden, die Möglichkeit einer friedlichen Beilegung des Konflikts zu prüfen. Russland glaubt, dass das Halten der Verteidigungslinien dem Westen zeigen wird, dass die Kosten der weiteren Unterstützung der Ukraine zur Erreichung ihrer Ziele (nämlich die Zurückdrängung der Russen auf die Grenzen von vor dem Krieg und die Rückeroberung der Krim) einfach zu hoch sind. Allerdings sind Verhandlungen auf absehbare Zeit unwahrscheinlich."
Aus Sicht der Asia Times "sind die westlichen Länder in ihrer Herangehensweise an den Konflikt tief gespalten. Abgesehen von den baltischen Staaten und Polen, die entschieden anti-russisch sind, gibt es gravierende Differenzen zwischen den führenden EU-/NATO-Mächten."
In diesem Zusammenhang verweist die online-Zeitung auf "eine erstaunliche Erklärung über die Notwendigkeit von Sicherheitsgarantien für Russland, die Anfang vorletzter Woche der französische Präsident Macron trotz der gegenwärtig aufgeladenen anti-russischen Atmosphäre gemacht hatte." Auch geht die Asia Times davon aus, dass Macron indirekt von Bundeskanzler Scholz unterstützt worden sei, weil dieser fast zeitgleich in einer Rede "die Notwendigkeit einer friedlichen Regelung in der Ukraine betont" habe.
"Tags darauf hat dann aber der EU-Chefdiplomat Josep Borrell kategorisch erklärt, es sei 'verfrüht, irgendwelche Garantien für Russland zu erörtern. Stattdessen sollten Sicherheitsgarantien zuerst für die Ukraine diskutiert werden … über Russland sprechen wir dann später‘."
(Hier wäre eine Zwischenfrage angebracht, welche die Asia Times leider nicht stellte, nämlich: Warum lassen sich die demokratisch gewählten Führer der zwei stärksten Nationen der EU diese Zurechtweisung durch den demokratisch nicht gewählten EU-Apparatschick Borrell gefallen, der seine Position lediglich als Ergebnis eines von jeglicher Transparenz abgeschotteten Politgeschachers in einem Brüsseler Hinterzimmer erlangt hat?)
Zurück zu Asia Times, die als nächstes darauf verweist, dass auch die politische Führung in den USA in der Frage gespalten ist, ob Verhandlungen mit Russland über einen Frieden in der Ukraine jetzt begonnen oder erst nach dem vom Westen erhofften Sieg der Ukraine in Angriff genommen werden sollten. Wörtlich heißt es weiter:
"Die gleiche Debatte (wie in Europa) wird in den Vereinigten Staaten geführt. In einer bemerkenswerten Abweichung vom Protokoll sagte der Vorsitzende der Joint Chiefs of Staff, (der oberste Offizier der USA,) General Mark Milley, am 9. November, dass die Winterpause der Kämpfe zu Friedensgesprächen mit Russland führen könnte. Vorletzte Woche sagte Präsident Biden, als er neben Macron stand: 'Lassen Sie mich meine Worte sehr sorgfältig wählen … Ich bin bereit, mit Herrn Putin zu sprechen, wenn seinerseits tatsächlich ein Interesse daran besteht, nach einem Weg zur Beendigung des Krieges sucht.'"
(Aber selbst mit dieser zaghaften Bereitschaftserklärung für einen Verhandlungsfrieden war Biden den schlimmsten Kriegstreibern in seinem Umfeld bereits zu weit gegangen.)
"Bereits einen Tag später korrigierte US-Außenminister Blinken, (der aktuelle Chef der neo-liberalen Falken, seine Präsidentenmarionette) Biden mit den Worten: 'Wir werden nicht ohne die Ukraine über die Ukraine diskutieren.' Zugleich tat Blinken jede Hoffnung auf Verhandlungen ab, weil die amerikanische Seite keine 'Bereitschaft' zu Verhandlungen aufseiten Moskaus sehe." Dies deute, so die Asia Times "auf eine wachsende Kluft innerhalb der Biden-Administration in der Frage des Ukraine-Konfliktes hin, was aber auch zugleich bedeutet, dass Verhandlungen (für die amerikanische Seite) auf absehbare Zeit nicht in Frage kommen."
Weiter im O-Ton der Asia Times:
"Selenskij ist ebenfalls nicht zu Verhandlungen bereit. Er braucht dringend einen Sieg, um sich gegenüber seinen westlichen Sponsoren zu beweisen und um aus der Position der Stärke heraus verhandeln zu können, wenn auch nur sehr relativ. Auch die Russen haben es nicht eilig zu verhandeln. Sie hoffen, dass der Westen seine Kapazitäten zur effektiven Unterstützung Kiews bald ausgeschöpft hat."
"Es gibt noch eine weitere wichtige Überlegung: Der Kreml traut westlichen Führern nicht. Moskau versuchte im vergangenen Jahr, Sicherheitsgarantien für sich selbst auszuhandeln, und wurde von den USA und führenden europäischen Mächten rundweg abgelehnt. Warum sollte Russland jetzt Macron oder Scholz vertrauen?"
(Hier wäre die ergänzende Frage abgebracht: Kann Moskau dem Westen überhaupt noch vertrauen? Ex-Kanzlerin Merkel hat gerade in zwei Interviews – im Spiegel und in der Zeit – sich damit gebrüstet, mit dem Minsk-2-Vertrag Putin erfolgreich hinters Licht geführt zu haben. Dass sie den Vertrag nie ernst gemeint habe, sondern mit Minsk 2 nur Zeit gewonnen werden sollte, um die Ukraine militärisch gegen Russland hochzurüsten. Dabei war Minsk 2 sogar von den Mächten des UN-Sicherheitsrates in einem besonderen Akt auf das Niveau internationalen Rechts gehoben worden. Und mit einem derart hohen diplomatischen Wert haben Merkel und die anderen westlichen Beteiligten wie gemeine Trickbetrüger agiert um geo-politische Vorteile zu erlangen.
Mit diesem skandalösen Eingeständnis hat die deutsche Außenpolitik in Russland noch das letzte verblieben Jota an Vertrauen verspielt, aber nicht nur dort. Kommentare von rund um die Welt zeigen, dass dieses Merkel-Eingeständnis sehr wohl wahrgenommen wurde und der Glaube an die Verlässlichkeit deutscher Außenpolitik und Ihrer Versprechen scheint gegen Null zu gehen. Zumal die aktuelle deutsche Außenministerin Baerbock alles dafür tut, dass das auch so bleibt.)
Aber weiter mit der Asia Times und der US/EU-Öl-Preis-Deckelung:
"Mit der Einführung der Ölpreisobergrenze-Sanktion durch die EU plant Russland, den direkten Energieverkauf an die G-7-Staaten zu beenden, ebenso wie an alle anderen Staaten, die versuchen, die EU-Obergrenze durchzusetzen. Sekundärverkäufe werden sehr wahrscheinlich fortgesetzt werden, insbesondere über die Türkei und Ungarn (oder über Indien und China). Dabei geht es nicht nur darum, den Fluss der Einnahmen zu erhalten, sondern auch gegen US-Pläne der Öl-Preisdeckelung vorzugehen."
"Selbst wenn der effektive Preis, den China für russisches Öl zahlt, in der Nähe des Höchstpreises liegt, hat China angesichts der Rabatte für die Zahlung in Nicht-Dollar-Währung keine Pläne, sich an die westliche Obergrenze zu halten. Seine großen Unternehmen werden nicht unbedingt gegen die Versicherungssanktionen verstoßen, aber es wird wahrscheinlich mehr russisches Öl über Landpipelines kaufen und es dann an andere Kunden re-exportieren. Dabei hat Russland die volle Unterstützung von Saudi-Arabien, das sich jeglichen Bemühungen der westlichen Kunden widersetzt, eine Obergrenze für den Ölpreis festzulegen. Es wird keine Produktionssteigerung durch andere OPEC+-Mitglieder geben, um den Rückgang von russischem Öl auf dem Weltmarkt auszugleichen." – Ende des Artikels der Asia Times.
Ergänzend wäre hier zu sagen, dass auch die letzte EU-Sanktionsrunde gegen Russland ein Schuss ins Knie der eigenen EU-Volkswirtschaften ist, denn die Umstellung macht das Öl für die EU-Abnehmer teurer, wovon hauptsächlich die Zwischenhändler von russischem Öl in der Türkei, Indien und China profitieren. Bei gleichbleibender Ölnachfrage bei verringertem Angebot, wird der Preis auf dem Ölmarkt insgesamt steigen. Wovon OPEC+ insgesamt profitieren wird, also auch Russland, das in diesem Fall – wie schon bei Gas – bei weniger Verkäufen höhere Einnahmen erzielen könnte. Hoffnung auf über längere Zeit fallende Ölpreise gäbe es nur, wenn eine globale Rezession einsetzen und die Nachfrage nach Öl maßgeblich zurückgehen würde. Aber auch das wäre keine schöne Aussicht.
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