Polens Regierungschef in Kiew: "Entweder die Ukraine gewinnt den Krieg, oder ganz Europa verliert"
Von Elem Raznochintsky
Am 27. November stattete der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki der ukrainischen Hauptstadt einen Besuch ab. Das Treffen, an dem er teilnahm, war das sogenannte "Lubliner Dreieck", das sich aus den Ländern Litauen, Polen und der Ukraine zusammensetzt. Morawiecki wies auf die Dringlichkeit der Situation in der Ukraine hin und unterstrich, dass es im Ukraine-Krieg nur zwei Möglichkeiten für dessen Ausgang gebe:
"In einem von Russland angezettelten Krieg kann es nur ein Ergebnis geben: entweder gewinnt die Ukraine oder ganz Europa verliert."
Mit dieser Aussage lässt sich auch Polens Pochen auf Eskalation weitaus besser nachvollziehen. Jegliche Töne von Zugeständnissen, wie sie Frankreichs Macron oder Deutschlands Scholz gemeinsam zu äußern begannen – besonders nach dem G20-Treffen –, sind aus der Sicht Polens eine besorgniserregende Liste an bösen Omen. Ein Trend, der innerhalb der EU nicht tolerierbar sei, so das Sentiment des immer anti-deutscher werdenden Warschaus.
Denn wird die Ausrichtung der Ukraine – und ihr nationales Schicksal – doch nochmal geändert, hin zu einer neutralen, Russland gegenüber gemäßigt ausgerichteten Linie, verlieren die EU und die NATO enorm. Jahrzehntelange Arbeit zur Ausdehnung der Grenze des westlichen Liberalismus, tief nach Eurasien hinein, würde einen irreparablen Rückschlag erleiden. Eine zweite Chance gibt es nicht. Jetzt oder nie! Denn die neue politisch-wirtschaftliche Ordnung, die sich nach dem Ukraine-Krieg auf der ganzen Welt etablieren wird – der Prozess selbst läuft bereits – wird dem Wertewesten die bisherige neokolonialistische Vorgehensweise weitestgehend verweigern.
In seiner Ansprache erläuterte der Regierungschef des Weiteren:
"Dieser Krieg ist ein Test für die gesamte internationale Gemeinschaft. Wir können zusehen, wie Menschen verhungern, oder wir können diese Situation beenden. [...] Es lebe eine unabhängige Ukraine und die Freundschaft zwischen Litauen, der Ukraine und Polen! [...] Ich bin sicher, dass unsere solidarische Partnerschaft dazu führen wird, dass die barbarischen russischen Angriffe zurückgeschlagen werden."
Außerdem sprach Morawiecki dort die nachvollziehbare Notwendigkeit an, sich um die Getreidelieferungen nach Afrika zu bemühen, um drohenden Hungersnöten entgegenzuwirken. Zwar sprach er in diesem Zusammenhang von einer international organisierten Bemühung, aber Russland als Teilnehmer solcher Prozesse ignorierte er bewusst.
Der Regierungschef unterstrich, dass für ihn der Ukraine-Krieg erst dann vorbei sei, "wenn jedes Haus, jede Schule, jedes Krankenhaus, jede Straße [in der Ukraine] zurückerlangt wurde."
Der Streit um das Patriot-System
In den letzten Tagen wurde es laut um die Verständigungsprobleme zwischen Berlin und Warschau, im Hinblick auf einen großzügigen Vorschlag: Verteidigungsministerin Christine Lambrecht bot ihre Unterstützung an, und stellte in Aussicht, dass Deutschland ein Patriot-Flugabwehrraketensystem der Bundeswehr an Polen liefern würde.
Die polnische Führung erweiterte diese Geste allerdings um einer Zusatzforderung: Die Lieferung solle direkt an die Ukraine gehen. Warschau würde das Geschäft gern so darstellen, als wenn eine Lieferung des neuen Waffensystems von Berlin direkt an Kiew eine Art "erneuertes Gelübde" an die Ukraine und den Wertewesten bedeutet hätte. Denn dies würde die Behauptung stärken, man sei in Berlin immer noch besorgt um das Schicksal des Selenskij-Regimes. Bekanntermaßen bezweifelt Warschau seit jeher, dass die Bundesregierung ihre Beteuerungen diesbezüglich aufrichtig meint und eigentlich ein anderes, Russland wohlgesonnenes, Spiel im Hintergrund spielt.
Auch der ehemalige Verteidigungsminister Polens, Antoni Macierewicz hat seine Einschätzung zu Deutschlands vermeintlichem Angebot gegeben:
"Nach mehrtägigen Diskussionen über dieses Thema und auch über das Verhalten Deutschlands ist nicht klar, ob es sich um einen echten oder einen Propaganda-Vorschlag handelte. Es ist erwähnenswert, dass die Deutschen selbst – insbesondere die Zeitungen – bezweifeln, dass es sich um einen echten Vorschlag handelt. Sie betrachten es daher eher als eine Art Propaganda, weil sie darauf hinweisen, dass die ganze Angelegenheit vom Minister nicht mit dem Militär abgesprochen worden sei. Es ist also schwer vorstellbar, dass ein echter Vorschlag gemacht wurde, ohne dass die gesamte Infrastruktur, die Logistik, die Absprache mit den Soldaten – vor allem mit dem Generalstab, mit den Kommandeuren – abgestimmt und vorbereitet wurde. Es scheint ein politisches Spiel gewesen zu sein."
Mag sein, dass Macierewicz recht hat. War Ministerin Lambrecht überhaupt auf das Szenario, dass Polen das Angebot überschwänglich und medial wirksam angenommen hätte, vorbereitet? Spekulationen über eine vorher zwischen Berlin und Warschau teils abgesprochene PR-Dramaturgie – die letztlich dann aus den Fugen geraten sein könnte – sind nicht so abwegig. Am Ende nahm eher die Glaubwürdigkeit und die Stringenz des deutschen Verteidigungsministeriums Schaden. Denn scheinbar war die Weitergabe des Patriot-Systems mit niemandem außerhalb des Ressorts Verteidigung abgesprochen worden. Wobei die polnische Führung sich aber gleichzeitig als zu unselbstständig zeigte: Letztlich hätten sie doch auch die wertvolle Gabe erst einmal annehmen können, um sie anschließend im eigenen Ermessen gleitend an Kiew weiterzureichen.
Zumal sogar NATO-Chef Jens Stoltenberg das als zumutbar erachtet hatte – nur sollte Berlin in diese Frage entscheiden. Und diese Aussage lässt daran zweifeln, ob er überhaupt verstand, was er da eigentlich guthieß. Jedem müsste indes klar sein, dass die Deutschen – wie üblich – auf eine pragmatische, dieses Mal aber eher unbeholfene Weise einem direkten Krieg mit der Russischen Föderation gern aus dem Weg gehen würden.
Selbst das geleakte Gespräch, welches die russischen Komiker Wowan und Lexus mit dem zu der Zeit ahnungslosen polnischen Präsidenten Andrzej Duda Mitte November auf Englisch führten, zeigt: Die polnische Staatsspitze will auf gar keinen Fall an einer direkten kriegerischen Konfrontation mit Moskau teilnehmen. Und dieser Annahme ist zusätzliches Gewicht beizumessen, da Duda der Überzeugung war, mit seinem Amtskollegen aus Paris, Emmanuel Macron, ein persönliches Telefonat zu führen.
Die aktuellste Ausgabe (Nr. 49, 1694) des polnischen Presseschau- und Satire-Magazins ANGORA hat sich auf seinem Cover über die Offensichtlichkeit der Situation lustig gemacht – nämlich, dass der französische Akzent bei einem der beiden russischen Scherzbolde fehlte. Das Magazin titelte:
WIE EIN PRÄSIDENT MIT EINEM PRÄSIDENTEN:
"Emmanuel? Ich habe dich sofort am Akzent erkannt!"
Berlin wiederum stellte dieses Angebot an Warschau als Geste der Solidarität mit dem östlichen Nachbarn und NATO-Verbündeten dar, nachdem zwei ukrainische Raketen in Polen gelandet waren und zwei polnische Zivilisten das Leben gekostet hatten. Was für ein nobler Vorwand, der aber von jeglicher Logik befreit ist. Das deutsche Patriot-System sollte also in Polen stationiert werden, um Raketen, die das Kiewer Regime in Zukunft Richtung Polen abschießen würde, abzuwehren. Was hat das alles mit Moskau zu tun?
In der polnischen Führung ist auch ein sehr stures, weißes Rauschen zugange, welches sie davon abhält zu begreifen, dass die Ukraine immer noch kein NATO-Mitglied ist. Ab einer gewissen roten Linie – sobald die Ernsthaftigkeit der gelieferten Waffensysteme eine gewisse Schwelle überschreitet – wird Moskau dies als einen offiziellen Kriegseintritt bewerten. Ob seitens Deutschlands oder Polens, scheint auf den ersten Blick irrelevant, da beide eine NATO-Mitgliedschaft genießen und der Artikel 5 des Nordatlantikpaktes sich dahingehend spiegelt.
Wenngleich Polen ebenfalls etwas mehr an der NATO-Peripherie entlang balanciert – sodass man Warschau noch eher als Ausnahmefall auslegen könnte, in dem Artikel 5 des Vertrages plötzlich doch nicht greift. Zum Beispiel mithilfe einer Express-Reform, die einen Angriff auf ein NATO-Mitglied duldet, sofern es sich durch seine eigene agitatorische Gehässigkeit, schiere Dummheit, blinde Fahrlässigkeit oder eine unmissverständliche Mischung der drei, auszeichnete.
Elem Raznochintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017.
Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Raznochintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, wo man noch mehr von ihm lesen kann.
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