Das tragische Schicksal des russischen Volkes. Teil 2: Die Unseren werden nicht kommen
Von Anton Gentzen
Die russische Geschichte kennt zwei triumphale Höhepunkte, in denen Volk und Staat gerade glänzende Siege davongetragen hatten und in den Augen der Welt unschlagbar schienen. Auf beide Triumphe folgten erst Stillstand und Ernüchterung, dann mit zeitlicher Verzögerung jeweils eine Katastrophe existenzieller Tragweite, ein völliger Zusammenbruch. Ob sich das russische Volk nach der zweiten, bis heute fortwirkenden Katastrophe jemals wieder aufrappeln wird, steht in den Sternen.
Das verpennte Jahrhundert
Das 19. Jahrhundert − und damit endete der 1. Teil − hatte für Russland glänzend begonnen: Eine nach wechselvoller Geschichte im Krieg von 1812 unverhofft geeinte Nation hatte den bis dahin immer siegreichen Napoleon in den Weiten Russlands ausgezehrt und anschließend (nicht ohne Hilfe von Alliierten, aber zweifellos die größte Last tragend) in den Schlachten von Leipzig und Paris geschlagen. Russische Kosaken bevölkerten im Frühling und Sommer 1814 die Straßen und Boulevards der mondänen französischen Hauptstadt und hinterließen zumindest mit dem Wort "Bistro" bleibende Spuren.
Erzfeinde, die über Jahrhunderte die Existenz des Landes gefährdeten, waren wie Polen beseitigt, wie Schweden befriedet oder geschwächt wie das Osmanische Reich. Russland war Großmacht, vielleicht DIE Großmacht schlechthin.
Die russische Gesellschaft lebte in jenen Jahren in Erwartung überfälliger Reformen. Russland, sprach man in Petersburger Salons, werde keine Revolutionen erleben, weil der Zar es mit väterlicher Hand in den Fortschritt führen werde. Zar Alexander, der 23-jährig im Jahr 1801 gekrönt wurde, nährte Reformhoffnungen: Kommissionen wurden einberufen, die Minister führte der liberale Jurist Speranski an. Im deutschen Trier war ein gewisser Karl Marx noch nicht geboren und so waren die Reformerwartungen ungetrübt von einer Analyse der Klasseninteressen. Spoiler: Es blieb unter Alexander bei Projekten und Festtagsreden.
Alexanders Vater Paul war 1801 von Gutsbesitzern ermordet worden. Seine Pläne, die bäuerlichen Frondienste auf drei Tage in der Woche zu beschränken, waren den Verschwörern zu sozialistisch-radikal. Wahrscheinlich spielte im Hintergrund auch Großbritannien eine Rolle, da Pauls angebahntes Bündnis mit Napoleon und seine Planungen für Kosakenexpeditionen nach Indien dem britischen Empire gefährlich werden konnten. Heilig gesprochen wurde dieser Romanow − wahrscheinlich der einzige, der es überhaupt verdient − von der russischen Kirche bis heute nicht.
Die Geschichtsschreibung gibt keine Antwort auf die Frage, ob Alexander selbst zu den Verschwörern gehörte. Tatsache ist, dass niemand für den Mord an seinem Vater zur Verantwortung gezogen wurde. Tatsache ist auch, dass weder Alexander noch dessen Bruder Nikolaus, der als Nächster regieren wird, irgendetwas an der Leibeigenschaft in Zentralrussland verändert hat. Die Erwartungen der Bauern, die nach 1812 auf gerechte Teilhabe an dem soeben in einer gemeinsamen Anstrengung aller Klassen und Schichten geretteten Vaterland hofften, wurden bitter enttäuscht. Und auch das Bürgertum bekam nicht, was es erwartet hatte.
Will man ein langes Jahrhundert auf eine kurze Formel bringen, so muss diese lauten: "Die Romanows haben alles vergeigt." Während in Großbritannien und Frankreich der Kapitalismus seine schöpferische Kraft in den ersten Jahrzehnten immer stärker entfaltete, wurde in Zentralrussland die Leibeigenschaft erst 1861 aufgehoben, dazu noch zu Bedingungen, die den Übergang des Landes zu kapitalistischem Wirtschaften noch einmal verzögerten.
Wer zu spät plant, den bestraft das Leben
In Russland führen Anhänger der Monarchie und jene der Bolschewiki verbitterte Debatten. Wenn Letztere etwa auf die vollständige Elektrifizierung des Landes binnen weniger Jahre nach der Revolution hinweisen oder darauf, dass Millionen Familien in Russland nach 1917 innerhalb nur einer Generation den Sprung vom Analphabetentum zur Hochschulbildung schafften, kontern Monarchisten damit, dass es Pläne dafür schon unter Nikolaus II. gegeben hat.
Abgesehen davon, dass nicht die Erstellung von Plänen, sondern ihre Umsetzung zählt − was soll die Auflegung dieser Pläne im zweiten Jahrzehnt des Zwanzigsten Jahrhunderts beweisen, außer dass sie selbst gegenüber Deutschland nahezu 100 Jahre verspätet waren? Deutschland war am Anfang des 19. Jahrhunderts wie Russland durch Absolutismus und Leibeigenschaft gezeichnet, aber zusätzlich noch durch die erst 70 Jahre später überwundene Zersplitterung in Kleinstaaten in seiner Entwicklung gehindert.
Zur Erinnerung: In Preußen erreichte die Quote der Kinder, die der achtjährigen (!) Schulpflicht nachkamen, 82 Prozent im Jahr 1848, in Zentralrussland konnten am Ende des 19. Jahrhunderts 75 Prozent der Bevölkerung immer noch weder lesen noch schreiben. Was hat die Romanows daran gehindert, bei ihren preußischen Cousins abzuschreiben?
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, sagte eines Tages jemand, der siebzig Jahre später den ihm anvertrauten Staat genauso stümperhaft gegen die Wand fuhr wie vor ihm die Romanows. Russland hatte am Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts keinen anderen Ausweg mehr als die Revolution.
Drei demografische Katastrophen im 20. Jahrhundert
Die Oktoberrevolution 1917 schob alles, das jahrhundertelang in Russland den Fortschritt behinderte, unerbittlich beiseite. Hier und jetzt geht es allerdings nicht darum, was sie für die Gerechtigkeit aus proletarischer Sicht und für den Fortschritt der gesamten Welt bedeutete: den Nachweis der prinzipiellen Machbarkeit einer Welt ohne Ausbeutung und Herrschaften. Hier und jetzt geht es darum, was die Revolution für das historische Schicksal des russischen Volkes bedeutete.
Einerseits katapultierte sie Russland an die vorderste Linie des Fortschritts. Das, was zuvor nur Pläne und Projekte waren, wurde in historisch kürzester Zeit Realität: Die schon erwähnte Elektrifizierung und der Durchbruch bei der Bildung, aber auch Industrialisierung und Infrastrukturausbau, Urbanisierung, das Wuchern von Forschungseinrichtungen. Vom Pflug zu Atomwaffen in nur 30 Jahren. Der sowjetische Sieg im Zweiten Weltkrieg war überhaupt nur möglich, weil die Bolschewiki das Land zum Galopp anspornten und 50 Jahre Entwicklung in einem Jahrzehnt durcheilen ließen.
Andererseits forderten Revolution und der revolutionäre Galopp der folgenden zwei Jahrzehnte ihren Preis. Zu fast 800.000 Todesurteilen in der Zeit von 1922 bis 1953 müssen je eine Million Gefallene beider Seiten im Bürgerkrieg, mehrere Millionen an Hunger und Krankheiten im kriegsbedingten Chaos Gestorbene sowie zwei bis drei Millionen in den Hungersnöten der Dreißiger, die indirekt auf die Kollektivierung und dabei begangene Fehler zurückgehen, hinzugerechnet werden. Inklusive der "weißen" Emigrationswelle dürfte das Land im Ergebnis der Wirren über 10 Millionen Einwohner verloren haben. Die demografische Projektion dieser Einbuße auf den jetzigen Zeitpunkt ergibt einen Fehlbestand von 30 bis 40 Millionen Menschen.
Einen noch höheren Preis musste die Sowjetunion für den Sieg gegen den Hitlerfaschismus, den zweiten triumphalen Höhepunkt der russischen Geschichte, zahlen. Die hierzu heute allgemein genannte Zahl von 27 Millionen Todesopfern wurde durch eine demografische Ist-Soll-Vergleichsrechnung ermittelt und enthält deshalb einige Unsicherheiten. Addiert man die sicheren Daten zusammen, ergibt sich diese Rechnung: 6,8 Millionen gefallene und 1,85 Millionen in deutscher Gefangenschaft gestorbene Soldaten, 7,4 Millionen vorsätzlich getötete Zivilisten, 2,2 Millionen verstorbene Zwangsarbeiter sowie geschätzt 4,1 Millionen in den deutsch besetzten Gebieten an Hunger und Krankheiten verstorbene Zivilisten, was insgesamt etwa 22 Millionen Todesopfern entspricht. Die Differenz zu den 27 Millionen ist durch ausgebliebene Geburten sowie durch eine Übersterblichkeit infolge kriegsbedingt schlechter Lebensbedingungen in nicht besetzten Gebieten zu erklären.
Die demografische Projektion dieser Verluste auf die Gegenwart dürfte einem Fehlbestand von 45 bis 55 Millionen Menschen entsprechen.
Die dritte demografische Katastrophe ereignete sich mit dem Zerfall der Sowjetunion. Allein die Russische Föderation hat in den Neunziger Jahren durch Übersterblichkeit, Auswanderung und zurückgehende Geburten einen demografischen Schaden erlitten, der zwischen 15 und 20 Millionen fehlende Einwohner beträgt. Fast alle Republiken haben in unterschiedlichem Ausmaß demografisch ebenfalls Schaden genommen.
Es ist klar, dass in den bislang genannten Zahlen nicht ausschließlich Menschen russischer Ethnie enthalten sind. Doch anders als die westliche Wahrnehmung und die westliche Propaganda, die Russen zu Kolonialherrn britischen Musters umzeichnen, die andere Völker ausbeuten und sich selbst schonen, verhielt es sich in Wahrheit stets genau umgekehrt: Das russische Volk war − auch bei prozentualer Betrachtung im Verhältnis zur Gesamtgröße − mit wenigen Ausnahmen immer der größte Lastenträger, der größte Leidtragende und das größte Opfer historischer Wirren. "Der Russe" war stets Zugpferd und Kuli des "Imperiums", kein Gentleman in roter Uniform und Tropenhelm.
Das gilt für den Zarismus, als die russische Ethnie am längsten von allen die Leibeigenschaft ertragen musste, das gilt für die Revolutionswirren, das gilt für den Stalinismus und das gilt (mit Ausnahme der zivilen Opfer, da hier die Einwohner der am längsten deutsch besetzten Ukraine und Weißrusslands anteilig stärker ins Gewicht fallen) auch für den Zweiten Weltkrieg.
Rechnet man alles zusammen, so hätte ein Land in den Grenzen der Sowjetunion ohne die demografischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts im Jahr 2022 über 420 bis 450 Millionen Einwohner, gut 250 Millionen davon würden auf die Russische Föderation entfallen.
Barclay, der Winter oder unser Gott?
Nach dem demografisch katastrophalen 20. Jahrhundert ist die Befürchtung, dass 145 Millionen nicht ausreichen, um das riesige Territorium Russlands gegen die nicht zu übersehenden Begehrlichkeiten von außen zu verteidigen, nicht von der Hand zu weisen. Darauf wird oft entgegnet, dass die Sowjetunion 1941 mit 180 Millionen demografisch nicht wesentlich stärker gewesen ist. Die Optimisten vergessen jedoch, dass es weniger auf die absoluten Zahlen als auf die relative demografische Stärke ankommt: Die 180 Millionen des Jahres 1941 entsprachen etwa 10 Prozent der Weltbevölkerung, die 145 Millionen heute ergeben einen Anteil von weniger als 2 Prozent. Die Existenz Russlands steht ernsthafter denn je auf dem Spiel.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Heute muss jeder lebende Russe den Platz von dreien ausfüllen. Das erfordert eine außergewöhnliche Motivation.
Zudem ist die Demografie bei weitem nicht das einzige Problem Russlands: Es hat eine herrschende Klasse, deren Klasseninteresse sich auf ein Haus in London fokussiert, eine "Elite", die das eigene Land und das eigene Volk verachtet, und eine wie eh und je impotente Bourgeoisie. Sie alle sind jederzeit zu jedem Verrat bereit und fähig. Dem Westen ist es gelungen, den Volksstamm der Ukrainer gegen Russland aufzuhetzen und ihn in einen Brüder- und Bürgerkrieg zu stürzen, der die äußere Abwehrkraft des Landes auch bei dessen günstigem Ausgang auf Jahrzehnte schwächen wird.
Was bleibt, ist die Hoffnung auf ein neues "russisches Wunder", darauf also, dass sich ein zweiter Atem öffnet. Dass wie aus dem Nichts neue Kräfte auftauchen, die das Blatt in buchstäblich letzter Minute wenden. Mindestens dreimal hat Russland solch ein Wunder erlebt: 1613, 1812 und 1917. Kaum jemand kannte 1917 die Bolschewiki, als sie das zerfallende Land auffingen und zur neuen Größe führten. Mit der Volkswehr des Jahres 1613, die die polnische Armee aus Moskau vertrieb und den russischen Staat neu konstituierte, hat auch niemand gerechnet. Und das Scheitern Napoleons kam Zeitgenossen wie Nachfahren wie ein Wunder vor. Der russische Nationaldichter Alexander Puschkin fragte Jahrzehnte später:
"Wer half uns damals?
Des Volkes Wut, Barclay,
Der Winter oder unser Gott?"
Bei genauerem Hinsehen waren diese drei "Wunder", wie jedes andere in der russischen Geschichte, nichts anderes als Ausdruck des Überlebenswillens des russischen Volkes. Und auch heute ist das die alles entscheidende Frage: Will dieses Volk noch leben? Wird das derzeit immer beliebter werdende Motto "Die Unseren werden nicht kommen. Alle Unseren sind wir" zur Parole einer neuen Volkswehr oder neuer Bolschewiki? Wir werden sehen.
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