Das tragische Schicksal des russischen Volkes. Teil 1: Auf den Straßen von Paris
Von Anton Gentzen
Die russische Geschichte kennt zwei triumphale Höhepunkte, in denen Volk und Staat gerade glänzende Siege davongetragen hatten und in den Augen der Welt unschlagbar schienen. Auf beide Triumphe folgten erst Stillstand und Ernüchterung, dann mit zeitlicher Verzögerung jeweils eine Katastrophe existenzieller Tragweite, ein völliger Zusammenbruch. Ob sich das russische Volk nach der zweiten, bis heute fortwirkenden Katastrophe jemals wieder aufrappeln wird, steht in den Sternen.
Staatsgründung per Subunternehmer
Darüber, wie entwickelt ostslawische und finno-ugrische Stämme, aus denen später das russische Volk hervorging, vor dem Jahr 900 nach Christus waren, streiten sich Historiker. Eine Zivilisation muss es schon im frühen ersten Jahrtausend gegeben haben, davon legen archäologische Funde Zeugnis ab. Auch erscheint es unwahrscheinlich, dass die Waräger, die gemeinhin als Gründer des russischen Staates gelten, die Gründung ohne jedes Fundament inmitten einer unterentwickelten Stammesgesellschaft vornehmen konnten.
Durch alle Chroniken zieht sich ein schwieriges, geradezu dialektisches Verhältnis zwischen den Volksversammlungen, die es offenbar in jeder Stadt des alten Russischen Reiches gegeben hat, auf der einen und den Fürsten, die sich aus den Warägern rekrutierten, auf der anderen Seite. Keinen Feldzug konnten die Fürsten ohne die Zustimmung der Volksversammlung und der Stammeseliten antreten, keine Armee sammeln, keine Steuern erheben. Kaum auszudenken, dass die "Staatsgründer" sich diese Art von Beschränkungen freiwillig auferlegt hatten. Wahrscheinlicher ist, dass sie sie bereits vorgefunden haben.
Die russische Gründungslegende spricht nicht von einem Unterwerfungsakt. Herbeigerufen habe man die Waräger: "Unser Land ist reich und groß, doch es herrscht keine Ordnung darin. Kommt, und herrscht nach Recht und Vertrag." Klingt eher nach der Bestellung der Leistungen einer Privatarmee, die für Ordnung sorgt. Erst allmählich wurden aus den Dienstleistern Herrscher und selbst da (noch) keine absoluten.
Wir reden hier keineswegs von "ukrainischer Geschichte", wir reden nicht einmal von Kiew. Die Ukraine hat mit alledem in etwa so viel zu tun, wie die Türkei mit Troja. Kiew war eine späte Ausdehnung des im russischen Norden, in Nowgorod, Pskow, Rostow (Weliki) und Polozk längst bestehenden ostslawischen Staates. Dass Kiew als territoriale Erweiterung letztlich Hauptstadt des Reiches wurde, lag an klimatischen Vorzügen und daran, dass hier Handelswege zusammenliefen und sich besser kontrollieren ließen. Aus ähnlichen Erwägungen wird Peter der Große acht Jahrhunderte später die Hauptstadt aus Moskau an die soeben eroberte Küste des Finnischen Meerbusens, in die Stadt verlegen, die heute seinen Namen trägt.
Die älteste Erwähnung Nowgorods datiert auf das Jahr 862 − hier befand sich auch die erste Basis des "Sicherheitsdienstes Rjurik GmbH und Co. KG", die Festung Rjurikowo Gorodischtsche. Kiew wurde erst 911 zum Zentrum des Russischen Reiches.
Die Vorzüge asiatischer Eroberer
Ein weiteres Mal zog die Hauptstadt im 13. Jahrhundert um, nun in umgekehrter Richtung. Sicherheit vor regelmäßigen Plünderungen durch die Steppenvölker, denen der Süden der Rus permanent ausgesetzt war, wog dieses Mal schwerer als klimatische Vorteile. 1240 wurde Kiew im Zuge der mongolischen Invasion nach zehnwöchiger Belagerung von den Truppen Batu Khans erobert. Fast alle Einwohner wurden getötet und nahezu alle Gebäude niedergebrannt. Danach war es kein politisches Zentrum des sich auflösenden Reiches mehr. 1299 zog auch der orthodoxe Metropolit nach Wladimir (und später nach Moskau) und mit ihm wanderte das geistliche und kulturelle Zentrum in die nördlichen Landesteile. Kiew war fortan mehrere Jahrhunderte lang ein unbedeutendes Dorf auf sandverwehten Ruinen.
Man muss den "mongolisch-tatarischen Eroberern" Gerechtigkeit angedeihen lassen: So blutig und opferreich ihre Feldzüge und Strafaktionen für die Eroberten auch waren, sie verzichteten − anders als polnische, deutsche und weitere europäische "Zivilisatoren" − darauf, die unterworfenen Völker zu assimilieren oder ihnen Lebensart, Kultur und Religion aufzuzwingen. Es kam ihnen auch nie in den Sinn, in den eroberten Gebieten zu siedeln. Das 240 Jahre andauernde "mongolische Joch" bestand für die russischen Fürstentümer im Wesentlichen in der Pflicht, Steuern an die Horde zu zahlen. Zahlreiche Lehnwörter türkischen, mongolischen und persischen Ursprungs im modernen Russisch zeugen von einem regen kulturellen Austausch und intensiven Handelsbeziehungen. Ihre Religion, Kultur, Sprache und Eigenverwaltung haben die russischen Stämme indes behalten dürfen und damit ihre Identität.
Dennoch trug das Land eine schwere Hypothek, auch nachdem das "mongolische Joch" um 1480 endgültig abgeschüttelt werden konnte. Politisch war Russland in mehrere kleine Fürstentümer gespalten (insoweit ähnelt die russische Geschichte der deutschen). Wirtschaftlich war es in größeren Rückstand gegenüber West- und Zentraleuropa geraten, als allein durch die schwierigen klimatischen Bedingungen zu erklären ist. Es existierte im europäischen Bewusstsein allenfalls als ein mysteriöser, weit entfernter Lieferant exotischer Waren, als unerforschte Wildnis. Umgekehrt war Europa für Russland terra incognita. Entwicklungen wie Renaissance und Aufklärung gingen am eurasischen Riesenreich weitgehend vorbei. Kulturell und politisch fußte Russland weiter auf der byzantinischen Spätantike.
Von diesem Tiefpunkt aus dauerte der Aufstieg Russlands zur Großmacht und zum (Angst-)Faktor der europäischen Geopolitik mehrere Jahrhunderte. Moskau war als Zentrum des wiedergeborenen Reiches vorbestimmt durch die schon erwähnte Verlagerung des religiösen, geistigen und kulturellen Zentrums an die Moskwa. Anders als im Falle Preußens war es nicht allein eine evolutionäre Auslese, die den Stärksten bestimmte und zum Kristallisationspunkt der nationalen Einheit werden ließ. Als Sitz des Metropoliten (und später des Patriarchen) verfügte Moskau über eine ideelle Rechtfertigung seiner Bestrebungen, die Armeen aufwog. "Moskau ist das dritte Rom", sagte die Kirche, und Nowgorod, Twer, Pskow, Murom und Rjasan hatten dem nichts entgegenzusetzen.
Zu Moskaus Glück hatten die Mongolen nicht vom antiken Rom gelernt: "Teile und herrsche" war nicht ihr Motto und sie segneten schon zu ihren Herrschaftszeiten Landakquisitionen ihres geschickt agierenden Moskauer Vasallen ab. Nicht weniger als 37-mal wurde das Moskauer Fürstentum vor 1480 erweitert und war zum Ende des "Jochs" der mächtigste und bevölkerungsreichste der russischen Teilstaaten.
Von nun an war der ständige Konflikt mit Europa vorprogrammiert: Alle Regionen der alten Rus, die nach 1240 unter mongolische Herrschaft geraten waren oder denen (Nowgorod und Pskow) es gelungen war, unabhängig zu bleiben, waren bis 1537 unter Moskaus Führung vereinigt. Doch andere Teile waren inzwischen unter litauischer Herrschaft und mit ihr Teile des russischen Volkes. Das Großfürstentum Litauen wiederum befand sich seit 1385 in Personalunion mit Polen, seit 1569 zu einem konföderativen Staat vereinigt.
Drei Deutsche teilen Polen untereinander auf. Wer ist schuld?
Der Konflikt mit Polen wird die folgenden drei Jahrhunderte russischer Geschichte bestimmen. Der zweite Antagonismus des russischen Staates, nämlich derjenige mit der türkisch-islamischen Welt im Süden − so wichtig seine Überwindung auch war −, stand dagegen stets an zweiter Stelle auf der Agenda russischer Zaren. Der Weg wird Russland über bittere Niederlagen, die Besetzung Moskaus durch die polnische Armee im Jahr 1612, eine wundersame Rettung auf Initiative des Volkes in buchstäblich letzter Minute ein Jahr später, einen Dynastiewechsel, überfällige Reformen und den Durchbruch in die europäische Neuzeit unter Peter dem Großen führen. Schritt für Schritt wird sich Russland nahezu alle Gebiete der alten Rus zurückholen. 1667 kaufte der Zar Kiew von Polen zurück.
Ausgerechnet eine Deutsche war es dann, die dem westlichen Erbfeind Russlands ein Ende setzte und das russische Reich auf den Höhepunkt der imperialen Macht, wenn auch noch nicht seiner Ausdehnung, führte: Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst, bekannt als Katharina die Große. Ja, es waren drei Deutsche, die Polen dreimal und 1795 endgültig untereinander aufteilten und damit für mehr als ein Jahrhundert von der politischen Karte Europas tilgten − dem polnischen Vorurteil zufolge sind es aber Russen, die schuld sind.
Katharina war es auch, die dem südlichen Gegner den Knockout-Schlag versetzte und das Reich um Neurussland und die Krim erweiterte. Inzwischen hatten Prozesse der Binnenkolonialisierung, ähnlich denen, die etwas später in Nordamerika verliefen, Russland über Sibirien in den Fernen Osten bis an die Küsten des Pazifischen Ozeans wachsen lassen. Russland war endgültig in den Reihen europäischer Großmächte angekommen.
Ein Vaterland, das mehr zählt als die Freiheit
Das einfache Volk hatte von alledem wenig. Es gab Schichten, die von neuen Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten profitierten. Gerade die neu angegliederten Gebiete im Westen genossen Privilegien und Freiheiten, die Russen selbst vorerst verschlossen blieben. Für die große Masse bedeuteten die Gesetzesänderungen unter Katharina der Großen − Briefwechsel mit Voltaire hin oder her − dagegen sogar eine Verschärfung des Regimes der Leibeigenschaft und der Last der Frondienste. Ein zaghafter Versuch ihres Sohnes Paul, die Willkür der Gutsherren wenigstens auf drei Tage in der Woche zu beschränken, kostete ihm das Leben. Dabei hatten die Privilegien der Gutsherren und des Adels inzwischen jede Berechtigung verloren: Die Armee war zur Rekrutenarmee geworden, das Eigentum am Boden und den darauf siedelnden Bauern war nicht mehr mit der Pflicht zum militärischen und zivilen Dienst des Inhabers für den Staat verbunden. Aufgehoben hatte diese Verknüpfung 1762 Katharinas Ehemann, Peter der Dritte.
Trotz alledem wog das Nationalgefühl die Unzufriedenheit über die sozialen Ungerechtigkeiten auf, als der französische Kaiser Napoleon seinen Feldzug gegen Russland antrat. Zweihundert Jahre nach der Besetzung durch die Polen fiel Moskau erneut in die Hände einer fremden Armee. Und wie zweihundert Jahre zuvor stand das gesamte Volk, von Stamm und Stand unabhängig, gegen die Invasoren auf. Der Krieg von 1812 wird in der russischen Geschichtsschreibung nicht umsonst "Der Erste Vaterländische" genannt: Der Anteil der Partisanen in Weißrussland und der Stadtguerilla in Moskau an dem ohne jede sichtbare militärische Niederlage erzwungenen grandiosen Scheitern des bis dahin nur Triumphe gewohnten Franzosen war zumindest nicht geringer als derjenige von Kutusows Armee.
Die Armee führte der weitere Weg über Leipzig nach Paris. Am 31. März 1814 betraten russische Soldaten die französische Hauptstadt. Am Tag zuvor hatten sie in der Schlacht auf dem Montmartre sechstausend Kameraden an Gefallenen verloren und damit wie schon in den vorherigen Schlachten den größten Blutzoll unter den Verbündeten der Anti-Napoleon-Koalition bezahlt.
Russische Kosaken auf dem Montmartre und auf den Champs Élysées: Die Geschichte hatte Russland auf den ersten der eingangs genannten Höhepunkte geführt. Der Aufstieg Russlands war vollendet, den Russen lag Europa zu Füßen, selbst die Frauenherzen. Die Zukunft schien licht und leicht.
Der Imperator war jung, gütig und sprach fast nur über Reformen. Was könnte da noch schief gehen?
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