Meinung

Der polnische Raketenvorfall brachte uns kurz an den Rand der nuklearen Vernichtung

Der Eifer, mit dem Polen und andere Länder versuchten, die NATO in einen Krieg mit Russland zu ziehen, sollte bei allen die Alarmglocken schrillen lassen. Wenn es jemals einen Zweifel an der Bedrohung gab, die von der NATO ausgeht, dann gibt es jetzt keinen mehr.
Der polnische Raketenvorfall brachte uns kurz an den Rand der nuklearen VernichtungQuelle: AFP © Wojtek Radwanski, Damien Simonart

Von Scott Ritter

Vergangene Woche konnte die Welt gerade noch einer abgeschossenen Patrone ausweichen, als einige NATO-Mitglieder versuchten, Artikel 4 des NATO-Vertrags auszulösen, um Russland in der Ukraine zu konfrontieren. Diesmal scheiterten sie. Beim nächsten Mal haben wir vielleicht nicht so viel Glück.

Die jüngste Aufregung um eine fehlgeleitete ukrainische Boden-Luft-Rakete, die auf polnischem Boden abstürzte und dabei zwei polnische Bürger tötete, hat eine hässliche Realität über die östlichen Ausläufer der heutigen NATO ans Licht gezerrt: Trotz der Zurückhaltung der alten NATO-Länder wie die USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, scheinen die neuen Emporkömmlinge in Osteuropa darauf versessen zu sein, einen Mechanismus zu finden, der eine Intervention der NATO in der Ukraine rechtfertigt.

Dieser Drang hin zu einer totalen nuklearen Vernichtung  – und niemand sollte Zweifel haben, dass ein Konflikt zwischen der NATO und Russland anders enden würde – sollte in den Hallen der Macht der gesamten NATO und dem Rest der Welt die Alarmglocken läuten lassen. Sich selbst überlassen, benehmen sich die russophoben Elemente, die in den Regierungen in Polen und den baltischen Staaten das Sagen haben, wie die Lemminge, die auf die ukrainische Klippe zurennen, blind für ihr Schicksal, im Glauben, dass die NATO Russland auf dem Schlachtfeld besiegen kann.

Der Eifer, der den Einschlag der ukrainischen Boden-Luft-Rakete auf polnischem Boden begleitete, soll uns eine deutliche Erinnerung daran sein, wie der angeblich defensive Charakter der NATO dafür genutzt werden könnte, um Konflikte anzuheizen, anstatt sie zu verhindern.

Es dürfen keine Zweifel aufkommen: Die NATO wusste, dass es sich bei der Rakete, die in der Nähe des Dorfes Przewodów in Polen einschlug, um eine ukrainische Boden-Luft-Rakete handelte – und zwar von dem Moment an, an dem sie abgefeuert wurde. Der Luftraum über der Ukraine ist einer der weltweit am dichtesten überwachten Lufträume. Ohne jetzt Quellen und Methodiken preiszugeben, genügt es zu sagen, dass in der Ukraine nichts passiert, was nicht in Echtzeit auf einem Bildschirm in den Hauptquartieren der NATO in ganz Europa – einschließlich Polen – sichtbar wird. Und dennoch: Polen hielt es für angebracht, den russischen Botschafter vorzuladen und ihm eine Protestnote zu übergeben.

Überdies erklärte Polen, dass man die eigene militärische Bereitschaft erhöhen werde und gleichzeitig die Aktivierung von Artikel 4 des NATO-Vertrags in Erwägung ziehen wolle. Artikel 4 ist ein Mechanismus, der es dem Bündnis ermöglicht, Sicherheitsbedrohungen für Mitgliedsstaaten zu erörtern, mit Blick auf den möglichen Einsatz militärischer Gewalt der NATO zur Neutralisierung dieser Sicherheitsbedrohungen. Artikel 4 steht hinter jedem Kampfeinsatz der NATO seit ihrer Gründung, von Serbien über Libyen bis Afghanistan.

Wie aufs Stichwort hin twitterte der litauische Präsident Gitanas Nausėda, dessen Land an Polen grenzt, dass "jeder Zentimeter des NATO-Territoriums verteidigt werden muss". Der tschechische Ministerpräsident Petr Fiala begab sich ebenfalls auf Twitter, um zu verkünden: "Wenn Polen bestätigt, dass die Raketen sein Territorium getroffen haben, bedeutet dies eine weitere Eskalation durch Russland. Wir stehen fest hinter unseren Verbündeten in der EU und der NATO." Estland nannte die Situation "besorgniserregend" und sein Außenminister erklärte ebenfalls auf Twitter: "Wir beraten uns eng mit Polen und den anderen Verbündeten. Estland ist bereit, jeden Zentimeter des NATO-Territoriums zu verteidigen."

Während sich alle Beteiligten einig waren, dass es keine Grundlage für die Auslösung von Artikel 5 der NATO – der Klausel über die kollektive Verteidigung – gab, war die Auslösung von Artikel 4 von Anfang an im Spiel. Polen blieb unnachgiebig: Der "Raketenangriff" auf Polen sei eindeutig ein Verbrechen, eines, das nicht ungestraft bleiben könne. Als solches würde Polen gemäß Artikel 4 darauf drängen, "dass sich die NATO-Mitglieder und Polen auf die Bereitstellung zusätzlicher Flugabwehr einigen, einschließlich derer in einem Teil des Territoriums der Ukraine".

Und da haben wir es: "einschließlich eines Teils des Territoriums der Ukraine."

Auftritt Deutschland auf der linken Bühnenseite: "Als unmittelbare Reaktion auf den Vorfall in Polen werden wir anbieten, die Luftüberwachung mittels Patrouillen über polnischem Luftraum mit deutschen Eurofightern zu verstärken", erklärte ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums.

Das war das Stichwort für NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der ein Dringlichkeitstreffen der NATO-Botschafter in Brüssel einberief, um den Vorfall in Polen zu erörtern. Laut dem finnischen Außenminister – obwohl kein NATO-Mitglied, war Finnland zu dem Treffen eingeladen – "wird die Schließung des Luftraums über der Ukraine definitiv diskutiert. Verschiedene Optionen, wie wir die Ukraine schützen können, liegen auf dem Tisch."

Während Berichten zufolge Deutschland die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine ablehnte und anmerkte, dass eine solche Aktion die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der NATO berge, muss man kurz darüber nachdenken, wie eine solche Diskussion überhaupt zustande kommen konnte: Die Ukraine feuerte eine Boden-Luft-Rakete ab, die von den Radaranlagen der NATO verfolgt wurde, bis sie auf polnischem Gebiet einschlug. Infolgedessen diskutieren die NATO-Mitglieder schließlich über die Möglichkeit, sich auf Artikel 4 der NATO-Charta zu berufen, um zu versuchen, die Luftverteidigung der NATO auf den ukrainischen Luftraum auszudehnen, zusammen mit der Einrichtung einer Flugverbotszone, die von Flugzeugen der NATO durchgesetzt werden soll.

"Selbst, wenn es sich um einen 'Blau beschießt Blau"-Vorfall mit einer ukrainischen Rakete gehandelt hat, die in Polen eingeschlagen ist, denke ich, dass Polen immer noch genug Grund hat, sich auf Artikel 4 zu berufen", erklärte ein ehemaliger Direktor für politische Planung der NATO, Fabrice Pothier.

Nur um klarzustellen, was Herr Pothier damit sagte: Weil die Ukraine eine Boden-Luft-Rakete abgefeuert hat, die schließlich auf polnischem Boden einschlug, ist die NATO berechtigt, sich auf Artikel 4 zu berufen und damit die Voraussetzungen für einen möglichen Konflikt zwischen der NATO und Russland in der Ukraine zu schaffen, was zur globalen nuklearen Vernichtung führen könnte. Wenn es jemals einen Zweifel an der Bedrohung gab, die von der NATO für die ganze Welt ausgeht, dann gibt es jetzt keinen mehr.

Dass dies alles im Namen eines ukrainischen Präsidenten verkündet wurde, der bis heute leugnet, dass es sich bei der Rakete um eine ukrainische gehandelt hat – obwohl das jetzt allgemein anerkannt wird – trägt nur zusätzlich zum Wahnsinn in dieser Krise bei.

Während es den Anschein hat, dass die Welt diesmal dem potenziellen Todesurteil durch den NATO-Artikel 4 ausgewichen ist, sollte der haarsträubende Aspekt dieser Pawlowschen Reaktion der NATO bei der Suche nach einer kausalen Rechtfertigung für eine militärische Intervention in der Ukraine uns alle in höchste Alarmbereitschaft versetzen.

Aus dem Englischen.

Scott Ritter ist ein ehemaliger Geheimdienstoffizier des US Marine Corps. Er diente in der Sowjetunion als Inspektor bei der Umsetzung des INF-Vertrags, im Stab von General Schwarzkopf während des Golfkriegs und von 1991 bis 1998 als UN-Waffeninspektor. Man kann ihm auf Telegram folgen.

Mehr zum Thema - Die gefährlichste Frau Deutschlands: Marie-Agnes Strack-Zimmermann

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.

Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.