Was Russland hätte besser machen können: Wirtschaftliche Abhängigkeit vom Westen
Von Bernd Murawski
In diesem vierteiligen Beitrag wird die Frage erörtert, welche alternativen Optionen sich Russland zur Durchsetzung seiner politisch-strategischen Ziele geboten hätten. Dabei ist Moskaus schwache Ausgangsposition Ende der 90er Jahre ebenso zu berücksichtigen wie die Interessen der westlichen Staaten und das globale Kräfteverhältnis. Im Zentrum der folgenden Betrachtungen stehen die russisch-deutschen Beziehungen, die sich besonders im letzten Jahrzehnt massiv verschlechtert haben.
In diesem ersten Teil wird die Bedeutung wirtschaftlicher Abhängigkeiten erörtert, die beidseitig bestehen und den Handlungsspielraum der politischen Akteure limitieren. Der zweite Teil problematisiert die russischen Entscheidungen während des Post-Maidan-Zeitraums. Da die Wertediskussion im russisch-westlichen Verhältnis eine wachsende Rolle spielt, werden im dritten Teil russische Argumentationsschwächen thematisiert. Der vierte und letzte Teil hinterfragt die militärstrategischen Entscheidungen des Kremls im Ukraine-Konflikt.
Deutschland im Schatten der US-Hegemonie
Noch 2008 gelang es Deutschland und Frankreich, die von den USA angestrebte NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens zu verhindern. Doch schon zu diesem Zeitpunkt war eine wachsende Distanz der EU-Staatslenker zur Moskauer Führung wahrnehmbar. Angesichts der Tatsache, dass das "alte Europa" und Russland noch 2003 im Schulterschluss gegen die US-geführte Irak-Invasion opponierten, erscheint dieser Wandel auf den ersten Blick unverständlich.
Die Erklärung liegt in der Erkenntnis der USA, dass ihre globale Führungsrolle ernsthaft gefährdet ist, wenn ein prosperierender Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok zur Realität wird. Ein deutliches Warnsignal war die Vereinbarung über den Bau der Nordstream-Gaspipeline im Jahr 2005. Fortan wurde der Druck auf die europäischen Bündnispartner verstärkt, wobei das Ziel Washingtons die Isolierung und Schwächung Russlands war. Dies blieb Wladimir Putin nicht verborgen, weshalb er sich auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 beklagte, dass russische Kooperationsangebote vom Westen zunehmend zurückgewiesen würden.
Dass deutsche Regierungen nahezu bedingungslos der US-Linie folgen, wird in kritischen Publikationen oft mit der beschränkten Souveränität der BRD und dem Einfluss US-amerikanischer Think Tanks erklärt. Der Hauptgrund dürfte aber in wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen liegen. Deutschland gehört zu den Hauptnutznießern der "Pax Americana", die dem globalen Süden durch finanzielle Knebelung und Drohungen mit der militärischen Karte einen neokolonialen Status aufzwingt. Mithilfe der "regelbasierten Ordnung" kontrollieren die westlichen Führungszentren den internationalen Handel und die Finanzströme und öffnen ihrem Kapital den Zugang zu schwächeren Volkswirtschaften.
Bei der Eroberung von Märkten und der Nutzung globaler Wertschöpfungsketten haben sich deutsche Großkonzerne als besonders erfolgreich erwiesen. In der Folge konnten immense Außenhandelsüberschüsse generiert werden. Im Fahrwasser der aggressiven Außenpolitik des US-Hegemons erlangte Berlin bald eine dominante Position im EU-Machtgefüge, die in den europäischen Hauptstädten allgemein anerkannt bzw. geduldet wird.
Dass Deutschland der amerikanischen Eindämmungsstrategie gegenüber Moskau nicht vorbehaltlos folgte, hatte gleichfalls ökonomische Gründe: Einen zentralen Pfeiler der deutschen Wettbewerbsfähigkeit bildete die preisgünstige und zuverlässige Versorgung mit Energie und anderen Rohstoffen aus Russland. Da die russische Wirtschaft nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf westliche Technologien angewiesen war und ein Großteil davon aus Deutschland geliefert wurde, entwickelte sich eine gegenseitige Abhängigkeit.
In den Zentralen deutscher Medien und Parteien wurde jedoch vornehmlich die Schwäche der russischen Seite wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund glaubte man es sich leisten zu können, angelsächsischem Druck folgend russische Interessen zu ignorieren und den Kreml bei gegebenen Anlässen zu brüskieren.
Russisches Streben nach Autarkie
Russland verdankte seinen wirtschaftlichen Aufstieg während der ersten Dekade dieses Jahrhunderts zu einem erheblichen Teil den hohen Einnahmen aus dem Export von Öl und anderen Rohstoffen. Gleichwohl wurden die Mittel nicht gezielt zur Stärkung der wirtschaftlichen Autarkie eingesetzt. Stattdessen wurden Konsumgüter importiert und schlüsselfertige Produktionsstätten errichtet, deren Betrieb regelmäßige Wartungsleistungen sowie Vorprodukte und Ersatzteile aus dem Westen erforderte.
Eine Korrektur setzte in Russland nach den Ereignissen 2014 in der Ukraine ein. Einerseits wurde sie durch die Sanktionen und Gegensanktionen erzwungen. Andererseits wollte Moskau dem Westen das Potenzial einer Strangulation der russischen Wirtschaft nehmen, um mehr politischen Handlungsspielraum zu gewinnen. Die aktuelle nationale Sicherheitsstrategie erhebt die Stärkung der wirtschaftlichen Autarkie zu einer zentralen Aufgabe. Damit einher geht das Bestreben, die Kooperation mit asiatischen Staaten zu intensivieren – namentlich genannt werden die Volksrepublik China und Indien.
Dass es Moskau in den letzten acht Jahren gelungen ist, externe Abhängigkeiten erheblich zu reduzieren, belegen die begrenzten und überschaubaren Auswirkungen der seit Februar lancierten westlichen Sanktionspakete auf die russische Volkswirtschaft. Derweil hat die deutsche Regierung die in Russland stattgefundene Entwicklung offenbar nicht beachtet und sich weiter in Sicherheit gewiegt. Andernfalls hätte sie auf Demütigungen der Kremlführung – wie zuletzt anlässlich des vermeintlichen Giftanschlags auf Nawalny – verzichtet und im aktuellen Konflikt eine moderatere Haltung eingenommen.
Insbesondere hätte die Bundesregierung die Folgen der Sanktionen besser voraussehen können. Anstatt dass Russland empfindlich getroffen wurde, erweisen sich die Maßnahmen gegenwärtig als Bumerang und belasten die deutsche Wirtschaft massiv. Für die drohende Unterversorgung mit Erdgas und andere Energieträger ist bis heute keine Lösung gefunden worden, und dabei wird es wohl einige Jahre lang bleiben.
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