Meinung

Die US-Qual der Wahl: Taiwan, die Ukraine oder der Nahe Osten?

Mit Chinas jüngstem Anspruch auf Taiwan, Irans Aufstieg zur nuklearen Regionalmacht und Russlands Entschluss, seine Sicherheit in der Ukraine erfolgreich einzufordern, kristallisiert sich für die USA ein dreifaltiges Dilemma. Wird das zu viel für den betagten Hegemon?
Die US-Qual der Wahl: Taiwan, die Ukraine oder der Nahe Osten?Quelle: www.globallookpress.com © Rouzbeh Fouladi

Von Elem Raznochintsky

Der jüngste Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas schlägt unaufhörlich Wellen, besonders im zivilisierten Westen. Immerhin geht es um die nächste Dekade und Chinas Platz in ihr.

Die wichtigsten außenpolitischen Botschaften waren für alle klar verständlich: China, als das Land mit der ohnehin größten Armee von über zwei Millionen Bediensteten, hat große Modernisierungs- und Aufrüstungspläne für die nächsten fünf Jahre. Diese betreffen aber auch das Wirtschaftswachstum, das diese Ambitionen erst ermöglichen soll. Denn das Pro-Kopf-BIP soll laut Xi Jinping "bis 2035 einen neuen, großen Sprung machen". Ab 2025 soll China ein Land mit hohem Einkommen werden, gemessen an den derzeitigen Schablonen der Weltbank.

Der Staatspräsident Chinas gedenkt auch, die Notwendigkeit, Taiwan dem chinesischen Einflussgebiet zurückzuführen, mit dieser Zukunftsvision zu verbinden. Den USA war diese Positionierung sichtlich zu steil. Washington versuchte sogar im Vorfeld des Parteitags, die Chinesen etwas zu disziplinieren, indem sie Peking androhten, Exporte von Halbleiterprodukten aus Südkorea und Taiwan zu verbieten. Dass aus dieser Rhetorik nun vollwertige Sanktionen werden könnten, liegt nahe. Aber auch da war die Nachricht Xis unmissverständlich:

"Wir werden uns auf nationale strategische Bedürfnisse konzentrieren, Kräfte für die Spitzenforschung bündeln und den Kampf in Schlüsseltechnologien entscheidend gewinnen. Dies kann als Aufforderung an die Technologieunternehmen verstanden werden, die fehlenden Komponenten für Chinas technologische Sicherheit zu erforschen und zu entwickeln."

Bis 2030 plant die Volksrepublik, 24 Prozent des weltweiten Halbleitermarktes zu umfassen. In diesem Anteil ist Taiwans Beitrag gar nicht mit inbegriffen: von Taipeh wird erwartet, seine eigenen 21 Prozent des Marktanteils unverändert zu halten. Zusammengenommen wäre das nahezu die Hälfte des globalen Gesamtmarktanteils. Ohne Halbleiterprodukte gibt es keine Computer, keine Smartphones und keine Digitalisierung.

Den europäischen Westen haben die Ansagen des Parteitags so aufgewühlt, dass Berlin und Paris eilig Termine mit der chinesischen Führung gemacht haben sollen, wie ein australischer Experte bei Politico letztens stiefmütterlich und bevormundend berichtete. Präsident Emmanuel Macron darf als Erster kommen, Anfang November, während Bundeskanzler Olaf Scholz sich für eine Woche später eingeschrieben hat. Womöglich reisen die beiden EU-Volksvertreter nach Peking, um Xi in der Causa Taiwan zu besänftigen, oder um ihn naiverweise zu bitten, dass er Moskau endlich öffentlich verurteile für die militärische Spezialoperation in der Ukraine. Um ganz ehrlich zu sein, wird davon sicherlich beides unausgesprochen bleiben. Am wahrscheinlichsten wird stattdessen die Bitte sein, die aus China nach Europa gestoppten Flüssigerdgas-Lieferungen wieder zum Laufen zu bringen. Beiden – Macron und Scholz – müssten viel eher bitter nötige Energieträger am Herzen liegen als ein "freies" Taiwan – wenn ihnen ihre Ämter und soziopolitisch ruhige Wintermonate im Herzen Europas lieb sind.

Die Schließung Eurasiens

Sie ist sehr gut verbildlicht in einem der jüngsten Meinungsartikel Bloombergs, in dem der Autor schon im Titel direkt fragt: "Können die USA es mit China, Iran und Russland gleichzeitig aufnehmen?"

Eigentlich eine rhetorische Frage, aber sie könnte wohl leichtgläubige Leser vor ein vierdimensionales Rätsel stellen. Den meisten anderen ist die Antwort klar: natürlich nicht. Die Verausgabung wäre überwältigend, und schmerzhafte Prioritäten müssten gesetzt werden. Washington wird stufenweise seinen Einsatz in der Ukraine zurückdrehen müssen, um in Taiwan volle Präsenz auffahren zu können. Die ökonomische Zukunft der Welt – die Vierte Industrielle Revolution – hat ihr neues Epizentrum in Asien gefunden. Verlieren die USA ihren Stand in Taiwan, verschlechtern sich die Züge, die den US-Amerikanern bleiben, um sich in der kommenden multipolaren Welt eine Position als halbwegs relevanter Teilnehmer zu sichern.

Dementsprechend hat jeder einzelne in dem Bloomberg-Titel genannte Spieler einen sehr persönlichen Einsatz, der überaus hoch ist: Russland mit der Ukraine und China mit Taiwan. Aber auch Iran im Nahen und Mittleren Osten. Die USA hingegen wollen ihre Pax Americana so klug und kontrolliert wie möglich ausklingen lassen.

Das Wall Street Journal legte noch einen drauf und beklagte kürzlich den Fakt, dass die US-Führung viel zu viele Waffenlieferungen an die Ukraine verschwendet habe. Nun seien bei Weitem nicht mehr genügend Waffen übrig für eine militärische Konfrontation mit China über die Geschicke Taiwans, so das Blatt. Allem Anschein nach schleicht sich in die NATO-Massenmedien das Narrativ ein, dass eine stufenweise Einsicht vonnöten sei, die Ukraine "zurückzulassen".

"Die fetten Jahre sind vorbei", hieß einst ein deutsches Kinodrama. So verhält es sich auch mit den Jahren, in denen Washington als primärer Hegemon geopolitische Flashpoints nach Lust und Laune jonglierte und anzündete, während er sich dabei auch eine gewisse verschwenderische Attitüde erlaubt und angeeignet hatte.

Diese Attitüde fand unter anderem Ausdruck im 20-jährigen Aufenthalt der USA in Afghanistan, im zehnjährigen Irakkrieg und einigen anderen "Friedensprojekten", die Milliarden an US-Dollar und weit über eine Million Menschenleben verschlungen haben und auch von der Öffentlichkeitswirksamkeit der USA her von Nachteil gewesen sind.

"Verbündete, die uns schaden"

So titelte vor wenigen Tagen ein leitender Mitarbeiter des libertären CATO Institute seinen Artikel. Doug Bandow, der in der Ronald Reagan-Administration im engsten Kreis der US-Sicherheitspolitik mitarbeitete, ist in einigen außenpolitischen Angelegenheiten überraschend einsichtig: Von NATO-Erweiterungen hält er schon seit mehreren Jahren nicht viel. Die US-Unterstützung der Ukraine sieht er – von der Kosten-Nutzen-Analyse her – seit ein paar Jahren als schädigend für sein Land an. Sein Artikel handelt aber von den US-Verbündeten erster Güteklasse, nicht von denen auf den hinteren Plätzen wie diejenigen, die seit 2014 in Kiew Platz genommen haben. Bandow schreibt aus einer Perspektive der Empörung und Gereiztheit über die ihm offensichtlich erscheinende Undankbarkeit des Königreichs Saudi-Arabien, Südkoreas und der Türkei.

Von diesem Trio ist Seoul in seiner Aufmüpfigkeit noch am harmlosesten. Denn Riad und Ankara haben bereits den USA trotzende energiepolitische Entscheidungen getroffen, die über Symbolik weit hinausgehen. Hier werden die US-Vormachtstellung und Führungsrolle gewichtig infrage gestellt sowie enorme Milliardenprofite verweigert. Zum einen hat Riad innerhalb der OPEC die Erdölförderung um zwei Millionen Barrel pro Tag gedrosselt, nachdem US-Präsident Joe Biden höchstpersönlich und vor Ort beim saudischen Kronprinzen um das genaue Gegenteil gebeten hatte.

Nachdem "unbekannte Partner" die deutsch-russischen Nord-Stream-Pipelines in die Luft gesprengt hatten, entschied sich NATO-Mitglied Ankara, Deutschlands Platz als verlässlicher Partner Russlands einzunehmen. Die neue Herausforderung: russisches Erdgas über die TurkStream-Pipeline zu empfangen und über eine baldige Infrastrukturerweiterung im großen Umfang weiter nach Europa zu verkaufen.

Wie die US-Amerikaner bei den kommenden Zuspitzungen ihre oben gelisteten Partner zur Vernunft bringen wollen, ist unbekannt. Die Hebel gehen ihnen aber fast mit jedem verstreichenden Tag aus.

Feinde und Verbündete der USA bald auf einer Plattform?

Dass sich Iran der Anziehungskraft der BRICS nicht verweigert, während nahezu zeitgleich der Wunsch Saudi-Arabiens ertönt, der BRICS-Gruppe beizutreten, deutet auf eine rare Chance hin, zwei historische Widersacher friedlich an einen Tisch zu bringen: Teheran und Riad. Ein weiterer Hinweis, dass in Saudi-Arabiens jahrzehntelange Zweckbeziehung mit den USA nun potenziell das letzte Kapitel beginnt.

Die muslimische Dichotomie zwischen Schiiten und Sunniten – im modernen Kontrast besonders stark dargestellt im bisherigen Konflikt zwischen Iran und Saudi-Arabien – wurde von den britischen und US-amerikanischen Dynastien außenpolitischer Sicherheitsberater das ganze 20. Jahrhundert entlang meistens erfolgreich instrumentalisiert und genutzt. In dem Sinne war der Regierungssturz 1953 in Iran ein signifikanter angelsächsischer Durchbruch, wohingegen die Islamische Revolution 1978/79 als Misserfolg verbucht werden musste. Des Weiteren bescherte die CIA-Strategie der "islamischen Balkanisierung", wie sie erstmals von Bernard Lewis und später von Robert Dreyfuss in ihren Büchern beschrieben worden war, lange Zeit den USA enorme energiepolitische Erfolge. Dieser Einfluss schwindet indessen rasant.

Im Falle einer dreiseitigen Zuspitzung wären die USA weder imstande, sich auf Saudi-Arabien zu verlassen, um Iran in Schach zu halten, noch ist auf die sich bereits in der Deindustrialisierung befindende EU zu zählen. Mit Letzterem ist die NATO-Osterweiterung in der Ukraine gemeint, die im Winter 2022/23 eine weitere einschneidende Niederlage erleiden wird. Bei der dritten Front in Taiwan gegen China werden die USA versuchen, zumindest ihr Militärbündnis AUKUS zu mobilisieren, wobei Großbritannien hier von geringem Nutzen sein wird und somit strategisch nur das sonnige Australien bleibt. London wird mehr als genug eigene Probleme zu Hause mit dem Nachfolger des Nachfolgers von Liz Truss zu bewältigen haben. Für Tokio gilt Ähnliches, da die Volkswirtschaft sich im freien Fall befindet. Südkorea steht – dank seines nördlichen Nachbarn – verängstigt und entschärft im militärischen Patt und wird in einer kriegerischen Auseinandersetzung um Taiwan nur symbolische Unterstützung für die USA leisten können.

In den militärisch-industriellen Logen der USA hat man sich wohl bereits eingestanden, dass ein vollständiger Sieg auf dem gesamten geopolitischen Spektrum vollkommen unrealistisch ist. Zumal der ganze Bereich der inflationierten, westlichen Finanzsysteme noch einen ganz eigenen, beschleunigten Verfallsprozess erleidet. Ganz zu schweigen von der schieren Symbolik eines verblassenden (aufgeblasenen) Hegemons, die auch dort verankert ist.

Den Anhängern des US-amerikanisch inspirierten Liberalismus, wie sie noch in Europa dominant und starrköpfig vertreten sind, werden diese Einsichten als Letztes präsentiert. Denn im Weißen Haus, an der Wall Street und im Pentagon ist Verlass darauf, dass Europa selbst diese öffentlich zugängliche Information so lange wie möglich meiden wird.

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.