Meinung

Deutscher Führungsanspruch – Wunsch und Wirklichkeit

Deutschland fühlt sich aufgefordert, zu führen, hält sich dazu für fähig und bereit. Dieser Führungsanspruch kollidiert mit der Wirklichkeit. Im Ausland hat man eine deutlich andere Einschätzung deutscher Politik. In Russland gilt sie als blutleer und schwach.
Deutscher Führungsanspruch – Wunsch und WirklichkeitQuelle: www.globallookpress.com © Michael Kappeler

Von Gert Ewen Ungar

Bei einem Besuch in meinem Sportstudio hier in Moskau wurde ich nach dem Training in ein Gespräch verwickelt. Ich sei doch Deutscher, wie ist die Situation in Deutschland aktuell, wollte mein Gesprächspartner, der sich als Sergei vorstellte, von mir wissen. Ich schnitt das Thema Energiekrise und Inflation an, dann die Sprengung von Nord Stream. Wir waren uns schnell darin einig, dass Deutschland gerade dabei ist, ökonomischen Selbstmord zu begehen. In der deutschen Politik ist das kein Konsens, da glaubt man, Putin habe Schuld. Der Blick von außen ist da deutlich klarer.

Die Außenpolitik der jetzigen deutschen Regierung sei unglaublich schwach und blass, ohne jeden eigenen Akzent, meinte Sergei. Mit dieser Meinung ist er in Russland nicht allein. Ich hatte das inzwischen schon häufiger gehört. Sergei wünscht sich Angela Merkel zurück. Die hatte seiner Meinung nach wenigstens Eier in der Hose. So übersetzt sich der von Sergei gebrauchte Ausdruck wohl am besten. Auch das ist eine hier in Russland weitverbreitete Ansicht und ein vielfach gehegter Wunsch. Merkel war toll! Wer ist eigentlich dieser Olaf Scholz?

Das steht natürlich in krassem Widerspruch zur Selbstwahrnehmung der deutschen Politik. Da ist von Zeitenwende die Rede. In Deutschland glaubt man, man sei wieder wer und würde Geopolitik aktiv mitgestalten. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Die Grünen) will eine Führungspartnerschaft mit den USA. Deutschland muss auch militärisch führen, meint die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD). Man macht jetzt feministische Außenpolitik, liefert Waffen in Krisengebiete, legt sich auch mit den ganz Großen an und übt sich nahezu täglich in moralischer Hybris. Es ist der ganz große Wumms, um es mal im Jargon der Bundesregierung auszudrücken.

Die deutsche Sehnsucht nach Größe wird medial gut unterfüttert. Allerdings nur in Deutschland, denn weiter reichen deutsche Medien nun einmal nicht. Die Lobhudelei deutscher Medien anlässlich von Besuchen deutscher Politiker in Kiew, angeblich deutlicher Worte der Außenministerin mal gegen China, mal gegen Russland, mal gegen die Türkei oder seit Neuestem gegen den Iran, erreichen nur das deutsche Publikum. Sie täuschen daher auch nur das deutsche Publikum über die Bedeutung Deutschlands in der Welt. Für Konsumenten deutscher Medien mag daher folgender Satz Widerspruch hervorrufen, aber deutsche Außenpolitik ist insgesamt bedeutungslos. Selbst in einem kleinen Moskauer Fitness-Studio weiß man, dass deutsche Außenpolitik in Washington und nicht in Berlin gemacht wird. In der deutschen Hauptstadt werden die Vorgaben aus Übersee lediglich in eine für Deutschland passende Rhetorik verpackt. Dass man das in Russland so sieht, liegt nicht an der russischen Propaganda, sondern daran, dass man durch russische Medien über deutsche Außenpolitik und deutsches Wirken in der Welt deutlich besser informiert wird als in Deutschland.+

Von außen betrachtet ist deutlich erkennbar, wie wenig es Deutschland gelingt, in der aktuellen Krise eigene Akzente zu setzen. Das Hinauszögern von Waffenlieferungen an Kiew scheint aktuell das Maximum an deutscher Souveränität zu sein, zu der die Bundesregierung fähig ist. Ansonsten trägt die Bundesregierung alles mit, was vom transatlantischen Partner vorgegeben wurde. Selbst dann, wenn es deutsche Interessen massiv verletzt: die Sanktionen beispielsweise, die die deutsche Wirtschaft absehbar nachhaltig beschädigen. Der deutsche Wirtschaftsminister weiß das und tut nichts dagegen. Er versucht, die Folgen mit Subventionen à la Doppel-Wumms zuzukleistern. Das lässt sich innenpolitisch gut verkaufen. An der Situation an sich ändert es nichts. An den Sanktionen selbst, die all diese wirtschaftlichen Verwerfungen auslösen, will Wirtschaftsminister Robert Habeck nicht rütteln. 

Das würde Rückgrat erfordern, denn der Minister müsste sich mit den USA anlegen. Dazu fehlt offenkundig der Mut. Vielleicht fehlt aber auch einfach nur der Einblick in makroökonomische Zusammenhänge. Habeck überraschte in einem Interview mit einer Kritik an "Mondpreisen" für Gas auch aus befreundeten Ländern. Tja, so läuft das. Wenn man das Angebot künstlich verknappt, laut und deutlich verkündet, man wolle künftig auf russisches Erdgas verzichten, dann treibt man damit den Preis. Wenn das eine Person in einem Land wissen sollte, dann der Wirtschaftsminister, ansonsten wäre er für den Posten absolut ungeeignet. Dachte Habeck wirklich, "befreundete" Länder würden ihnen zuträgliche Marktmechanismen außer Kraft setzen und aus Solidarität auf Einnahmen verzichten? So weit geht die Solidarität weder in der EU noch durch die USA. 

Deutschland ist kein großer Player, sondern hat sich ins Aus gesetzt. Aller Welt deutlich vor Augen geführt wird das auch durch die wiederholten Bittsteller-Besuche politischer Prominenz am Persischen Golf. Im März holte sich der Wirtschaftsminister eine Absage, ein halbes Jahr später der Kanzler persönlich. Habeck gelang es zwar, der deutschen Presse etwas vorzuflunkern und so zu tun, als hätte er Deutschlands Energieproblem gelöst. Es flog einige Tage später auf. Es gab im Gegensatz zu den Behauptungen Habecks aus Katar keinerlei Zusagen für Gaslieferungen. Kanzler Scholz hat es mit dem Flunkern gleich ganz gelassen. Auch er kam mit faktisch leeren Händen zurück. Es gibt keine Alternative zu russischem Erdgas. Je schneller man das einsieht und entsprechend handelt, desto geringer ist der Schaden. 

Ein bisschen näher an diese Einsicht gelang man durch den Anschlag auf Nord Stream. Dieser Anschlag galt Deutschland. Alles deutet darauf hin, dass ein, wie Habeck es nennen würde, "befreundetes Land" hinter dem Anschlag steckt. Der Kanzler konnte sich bisher noch nicht zu einer Stellungnahme durchringen. Der Anschlag auf eins der wichtigsten und teuersten deutschen Infrastrukturprojekte ist dem Kanzler kein Wort wert. Das ist ein Zeichen von Schwäche, nicht eins von neuer deutscher Stärke und Führung. Das Schweigen des Kanzlers ist laut und deutlich hörbar in der Welt. Deutschland mit seinem Führungsanspruch wurde vor aller Welt gedemütigt. 

Im Gegensatz zum Schweigen des Bundeskanzlers agiert die Außenministerin gern lautstark. Aber auch die deutsche Außenministerin beschränkt ihre gestalterische Kraft auf große Töne spucken. Deutschland leistet keinerlei Beitrag zu Stabilität und Konfliktvermeidung irgendwo in der Welt. Im Gegenteil heizt die deutsche Außenministerin Konflikte an, wie in der Westsahara und legitimiert erneut Verstöße gegen das Völkerrecht, wie schon in der Ukraine. In ihrer politischen Naivität ist sie bloßer Erfüllungsgehilfe transatlantischer Politik ohne eigenen Gestaltungswillen. Es fehlt der deutschen Außenministerin an allem, vor allem an Einblick in systemische Zusammenhänge und an Verständnis von Komplexität. Baerbock folgt ohne jede eigene Idee ausschließlich den Vorgaben ihrer Berater, wie dem transatlantischen Thinktank Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Faktisch wird dort die deutsche Außenpolitik gemacht – in feiner Abstimmung mit den USA, versteht sich. 

Die großen deutschen Medien, die sich in der gleichen Abhängigkeit befinden wie Baerbock, bauschen ihre Auftritte medial auf – letztlich sind sie aber banal und bedeutungslos. Bei ihrem Antrittsbesuch in Moskau hat sie sich von ihrem Amtskollegen Lawrow eine Abfuhr nach allen Regeln der diplomatischen Kunst eingeholt. Sie wurde empfangen, es gab seitens Russlands kein falsches Wort und keine kritischen Anmerkungen. Baerbock durfte "Fressefreiheit" fordern, sie wurde verabschiedet, und auf weitere Treffen wird seitdem verzichtet. Baerbock versteht den Wink mit dem Zaunpfahl nicht, und die deutschen Medien haben die Abfuhr ebenfalls nicht zur Kenntnis genommen.

Beim Treffen der Außenminister der G20 jedenfalls lässt Baerbock vor laufender Kamera ihrer Empörung über Russland freien Lauf. Russland verweigere sich Gesprächen über die Lösung des Getreideproblems in der Ukraine und begünstige damit eine Hungerkatastrophe. Fakt ist, dass Russland gemeinsam mit der Türkei und unter Einbezug der Ukraine, aber unter Ausschluss der EU und Deutschlands, das Problem gelöst hat. Getreide wird aus der Ukraine exportiert. Allerdings nicht in die Länder des Südens, die es dringend bräuchten, sondern vor allem in die EU. Der Westen greift den für Afrika bestimmten Weizen ab. Man sollte sich vor diesem Hintergrund Baerbocks Aussagen von damals noch einmal anschauen. Alles, was sie sagt, ist falsch.

Deutsche Politik, Wirtschafts-, Verteidigungs- und insbesondere Außenpolitik wird als nicht eigenständig wahrgenommen. Warum sollte sich der russische Außenminister mit seiner deutschen Amtskollegin treffen, wenn er weiß, dass alles, was sie ihm zu sagen hätte, ihr zuvor von Washington in den Block diktiert wurde. Eigenständig entscheiden kann sie ohnehin nichts. Es wäre reine Zeitverschwendung.

Ich weiß, in Berlin nimmt man sich anders wahr. Man glaubt wieder an sich. Glaubt, wieder führen zu können, und fühlt sich auch aufgefordert zu führen. Doch faktisch fehlt es Deutschland dazu an allem. An Personal mit einer entsprechenden kognitiven Potenz, an Unabhängigkeit und Souveränität als Land und immer mehr auch an wirtschaftlicher Stärke. Man hat das selbst in einem kleinen Moskauer Fitnessstudio verstanden. In Berlin ist man von dieser Erkenntnis noch sehr weit entfernt. Sie wäre aber notwendig, um überhaupt die Grundlage für eine zumindest in Teilen souveräne Außenpolitik in den für Deutschland von seinen Partnern zugelassenen Grenzen zu machen.

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