Die syrische Tragödie und das Schweigen des Westens
Von Dr. Anton Friesen
Die humanitäre Lage in Syrien ist dramatisch: 12,4 Millionen Syrer – fast 60 Prozent der Bevölkerung – hatten im Jahr 2021 nicht genug zu essen. Das ist ein erschütternder Anstieg um fast 4,5 Millionen Menschen seit 2019. Inzwischen dürften es Hunderttausende mehr sein.
Syrien bezog einen Großteil seiner Weizenimporte aus Russland und der Ukraine. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung sind unter die Armutsgrenze gerutscht. Auch landesweit nimmt die Armut zu, da die Familien ihre Ersparnisse aufgebraucht haben und gleichzeitig die Preise für Lebensmittel, Heizöl und Güter des täglichen Bedarfs innerhalb von sechs Monaten um 100 Prozent gestiegen sind. Um die Kosten für eine Monatsration Lebensmittel aufwenden zu können, müssten Syrer 11,5 Wochen arbeiten – vorausgesetzt sie finden Arbeit.
2011, als der Bürgerkrieg begann, befand sich Syrien auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung. Die durchschnittliche Lebenserwartung betrug 73,3 Jahre (zum Vergleich 1990: 69,8 Jahre), das BIP pro Kopf lag bei 13.286 US-Dollar. Zum Vergleich: das BIP pro Kopf betrug im Jahr 1990 4.198 US-Dollar. Damit hat sich der syrische Wohlstand innerhalb von gut 20 Jahren verdreifacht. Syrien war ein Land mit einem mittleren Einkommen, für den Nahen und Mittleren Osten mit einem relativ hohen Einkommen. 2011 lag Syrien noch vor Ägypten, was seinen sozio-ökonomischen Entwicklungsstand angeht (HDI, Human Development Index, Rang 109; Ägypten Rang 115). 2021 dagegen liegt Ägypten auf Rang 97 weltweit – und Syrien auf Rang 150 von 191 Staaten. Aus dem damals vom Westen hofierten liberalen Reformer Assad, ein Arzt mit westlicher Bildung, ist in den Augen der Hofpresse der "böse syrische Schlächter" geworden.
Genau das Gleiche – wirtschaftlicher Abstieg und soziale Katastrophe – lässt sich von Staaten wie dem Irak und Libyen sagen, die von den durch die USA zusammen mit Großbritannien und Frankreich durchgeführten Militärinterventionen betroffen waren.
Die kriegszerstörte syrische Wirtschaft, der libanesische Bankenkollaps und die Nachwirkungen von COVID-19 – all das trägt zur syrischen Tragödie bei. Was jedoch entscheidend ist – und das sagen nicht Moskau und Damaskus, sondern westliche humanitäre Hilfsorganisationen wie CSI Deutschland – sind die katastrophalen Folgen vor allem der US-, aber auch der EU-Sanktionen.
In der Theorie sind humanitäre Güter von den Sanktionen ausgenommen. In der Praxis können nicht einmal Medikamente für ein Krankenhaus z. B. in Aleppo bezahlt werden, da die USA seit 2020 sogar die syrische Zentralbank sanktioniert haben, ebenso wie alle geschäftlichen Beziehungen mit Syrien und zwar für alle Unternehmen weltweit. Westliche Banken tätigen – aus Angst vor den US-Sanktionen – keine Geschäfte mehr mit Syrien. Die USA gehen bei der Verfolgung ihrer geopolitischen Ziele buchstäblich über Leichen. Die erklärten Menschenrechtsverteidiger kümmern sich gar nicht um das Wohl der syrischen Zivilbevölkerung. Auch wenn die Vereinigten Staaten gerne weltweit Christen verteidigen – in Syrien scheint dieser Grundsatz nicht zu gelten. Inzwischen lebt im Vergleich mit 2011 nur noch ein Fünftel der Christen in Syrien und der Rest sieht für sich zunehmend keine Zukunft in einem Land, das an der Wiege der Christenheit stand. Vergessen, dass das als Hochburg der Islamisten verschriene Homs ehemals eine Stadt mit einem großen christlichen Viertel war. Vergessen auch, dass die heiligen Petrus und Paulus in Syrien wirkten (auch in Tartus, wo heute die große russische Militärbasis ist).
Im Irak hat es "dank" US-Sanktionen 300.000 bis 500.000 tote Kinder gegeben. Wie viele braucht es in Syrien, damit dieser Wahnsinn aufhört?
Dr. Anton Friesen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag und ehemaliger Bundestagsabgeordneter (Auswärtiger Ausschuss sowie Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe). Der Autor vertritt im Artikel ausschließlich seine eigene Meinung.
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