Musikalisches "Asyl" in Berlin: Emotionales Konzert des Odessa Philharmonic Orchestra
Von Wladislaw Sankin
Seit Beginn der russischen Militäroperation in der Ukraine ist es bereits zu einer Tradition geworden, dass Berliner Bühnen auch Musiker aus der Ukraine einladen. Am Dienstag war es für das Odessa Philharmonic Orchestra so weit, das im Rahmen des Musikfests in Berlin Einblicke in die Welt der ukrainischen Musik geben durfte. Laut den Veranstaltern sei es für die Odessiten die einzige Möglichkeit, wieder einmal gemeinsam zu spielen. Etwa die Hälfte des 90-köpfigen Orchesters sei vor dem Krieg geflüchtet und sie alle könnten deshalb in der Ukraine derzeit nicht auftreten.
Für ukrainische Flüchtlinge war der Konzertbesuch kostenlos – und sie waren sehr zahlreich erschienen: Gefühlt die Hälfte der Konzertbesucher sprach in den weiträumigen Foyers der Berliner Philharmonie Russisch – oder seltener Ukrainisch. Die übrigen Besucher waren Berliner Musikliebhaber, von denen manche an diesem Abend für sich wohl etwas Neues entdecken konnten.
In der ersten Hälfte des Konzerts wurden die Werke von drei russisch-ukrainischen Komponisten gespielt, Miroslaw Skorik (1938-2020), Nikolai Lyssenko (1852-1912) und Alemdar Karamanow (1934-2007), nach der Pause dann die berühmte Zweite Symphonie von Jean Sibelius. Der Abend begann mit einer emotionalen Ansprache des Dirigenten Hobart Earle. Der in Venezuela geborene und aufgewachsene US-Amerikaner leitet seit 31 Jahren das Odessa Philharmonic Orchestra. Im Laufe dieser Jahre führte er das Orchester zu internationaler Bekanntheit und Anerkennung. Er ist ein leidenschaftlicher Fürsprecher der ukrainischen Musik insgesamt. Den eskalierten Krieg nannte er "schrecklich", die folkloristisch gefärbte "Kindheit" von Skorik widmete er ukrainischen Kindern, deren Leben durch den Krieg "auf den Kopf gestellt" wurde.
Das erste Musikstück, das gespielt wurde, war – in dieser Atmosphäre wenig überraschend – die instrumentalisierte Variante der ukrainischen Nationalhymne. Dabei erhob sich das Publikum, ungeachtet der Herkunft. Dann folgten zwei kurze Stücke von Skorik ("Kindheit") und Lyssenko ("Elegie"), die zusammen nur auf sieben Minuten kamen und ohne Pause gespielt wurden. Den Hauptteil der ersten Hälfte des Konzerts bildete das Dritte Klavierkonzert (1964) von Alemdar Karamanow, bekannt auch als "Ave Maria" – eine meditative, luftige, schwebende Musik ohne Kontraste, dafür aber teilweise magisch an Alexander Skrjabin erinnernd, zumindest in Anlehnung an dessen Sinfonische Dichtung Le Poème de l’Extase (1908), nur viel leiser und inniger (das ganze Programm soll bis zum 17. September kostenlos hier abspielbar verfügbar sein).
Nach der Pause spielte das opulent besetzte Odessa Philharmonic Orchestra seine durchaus energische Interpretation des Meisterwerks von Sibelius, seine Zweite Symphonie und wohl eines der berühmtesten und derzeit meist gespielten Werke dieser Musikgattung. Nach dem letzten Akkord war das Publikum im Saal so bewegt, dass die Ovationen kaum enden wollten.
Earle hatte hierbei natürlich seinen Plan: Als Zugabe wurden wieder Skorik ("Melodie") und Lyssenko gespielt, bei dem Letzteren handelt es sich um die Visitenkarte des Odessa Philharmonic Orchestra, die Ouvertüre aus der wohl bekanntesten ukrainischen Nationaloper "Taras Bulba" als Lyssenkos Vertonung in Anlehnung an die Erzählung von Nikolai Gogol. Damit brachte er das Publikum förmlich in Ekstase, wobei von einem Posaunisten passend zu der frenetischen Stimmung sogar kurz eine ukrainische Fahne geschwenkt wurde. Auch dafür erntete er zustimmende Rufe aus dem Publikum, anschließend hüllte sich der patriotische Musiker in den gelb-blauen Stoff und blieb so die restliche Zeit stehen.
Bei dem Konzert war die Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) anwesend. Im Juni hatte sie auf Einladung des ukrainischen Kulturministers Odessa besucht. Sie ist derzeit die Schirmherrin sämtlicher Programme für den kulturellen Austausch mit der Ukraine. Das Konzert sei wie eine Brücke in das eigene Leben (der Musiker), eine "Brücke zu ihren Liebsten, zu ihren Brüdern, zu ihren Vätern, zu ihren Männern, die in der Ukraine kämpfen", sagte Roth am Rande des Konzerts in der Berliner Philharmonie in einem Gespräch mit dem rbb.
Waren alle gespielte Komponisten Ukrainer?
Das Konzert wurde als Abend mit "kaum bekannten Werken ukrainischer Komponisten" beworben (rbb). Doch die eindeutige Zuordnung aller im ersten Teil des Konzerts gespielten Komponisten als "Ukrainer" bleibt denkbar problematisch. Im Falle von Skorik und Lyssenko trifft das nach allen heutigen Kriterien zu. Vor allem Lyssenko, der einer alten Kosakenfamilie entstammte, gilt als Begründer der modernen ukrainischen Musiktradition in der klassischen Musik, sein ganzes Leben lang sammelte und überarbeitete er ukrainische Volkslieder. Einer glänzenden Karriere in Sankt Petersburg, der damaligen Landeshauptstadt, zog Lyssenko schließlich das Leben als Musiklehrer in Kiew vor.
Alemdar Karamanow ist musikalisch hingegen viel eher in der Tradition der sowjetischen Avantgarde der 1960 und 1970er Jahre zu verorten. Sohn einer Russin und eines türkischstämmigen Vaters, verbrachte er sein ganzes Leben in Simferopol auf der Krim, ausgenommen die Jahre in Moskau zwischen 1953 und 1965. In dieser Zeit schrieb er die Filmmusik zum dokumentarisch-publizistischen Werk des berühmten Filmregisseurs Michail Romm "Der gewöhnliche Faschismus".
Karamanow gilt als herausragender Komponist und war vor allem ein Sinfoniker. Er verkörperte eine Krim-Identität, war der Autor der Hymne der Republik Krim (1992) und Mitglied des ukrainischen wie auch des russischen Komponistenverbandes. Es ist deswegen auch schwer, Karamanow im musikalischen Erbe eines Nationalstaates zu verorten, er selbst betrachtete sich als ein "krim-ukrainisch-russischer" Komponist. Um einen Kompromiss im möglichen "Streit" darüber zu erzielen, schreibt etwa die deutsche Wikipedia, Karamanow war ein "russisch-ukrainischer" Komponist.
Mehr zum Thema - Berliner Kultursommerfestival beginnt mit Puccini und Tschaikowski, aber ohne Netrebko
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.
Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.