Olaf Scholz: Sanierung eines europäischen Hauses
Von Sergej Strokan
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, dem im vergangenen Herbst die historische Mission zuteil wurde, die politische Leere im europäischen Raum zu füllen, die durch das Ausscheiden der langjährigen informellen Chefin der EU, Angela Merkel, entstanden war, entschied sich, all jenen, die an seinen Führungsqualitäten gezweifelt haben, zu beweisen, dass auch er in der Lage ist, ein guter Stratege für die EU zu werden.
In seiner absichtlich inadäquaten Rede an der Karls-Universität in Prag machte Bundeskanzler Scholz einige kühne, wenn nicht gar revolutionäre Vorschläge und Gedanken darüber, wie die Europäische Union, die sich in einer schwierigen Zeit der Auseinandersetzung mit Russland befindet, seiner Meinung nach weiterentwickelt und gestärkt werden sollte.
Klar ist, man sucht nicht das Gute des Guten wegen, und das Bessere ist der Feind des Guten. All diese Vorschläge, die Olaf Scholz den Zuhörern der Karl-Universität unterbreitet hat, sind nicht des guten Lebens wegen gemacht worden. Ohne Witz, die EU durchlebt somatische Störungen. In ihren Beschlüssen auf den Gipfeltreffen und Ministerkonferenzen finden sich immer weniger Vernunft, Pragmatismus und Strategie, und mehr Impulsivität, politischer Ehrgeiz, Doktrinäres sowie Kämpfe der politischen Egos von Nationalstaaten und ihrer Führer.
Darüber hinaus verwandelt sich die EU immer mehr in ein politisches Theater des Absurden, worüber nicht die "Kreml-Propagandisten", sondern ihre eigenen unabhängigen Beobachter und Vertreter der Opposition berichten, welche die europäische Bürokratie in Brüssel scharf kritisieren. Das pan-europäische Haus, so mögen mir meine Kollegen verzeihen, mit denen wir in guten, nicht wiederkehrenden Zeiten mehr als ein Glas des ehrlichen, von Robert Burns verehrten Single Malts getrunken haben, gleicht bereits einer pan-europäischen Irrenanstalt.
Zumindest hätte die Umsetzung der Initiativen von Olaf Scholz die Mechanismen der Entscheidungsfindung innerhalb der EU verändern und ernsthafte Anpassungen in die Verteidigungspolitik einbringen können. Außerdem hätte ein neues Modell der Beziehungen mit den Ländern aufgebaut werden können, die seit vielen Jahren entweder im Portikus der EU herumtrampeln oder im Kreis um das europäische Haus herumtanzen, hoffnungsvoll in die erleuchteten Fenster blickend, hinter denen sich ein fremdes Dasein abspielt. Was also schlägt Olaf Scholz, der selbsternannte neue EU-Reformer, vor? Ziemlich vieles schlägt er vor.
Erstens, die Abschaffung des Prinzips der Einstimmigkeit bei der Entscheidungsfindung, wenn die Stimme eines einzigen Landes zur Ablehnung eines Beschlusses ausreicht und das Land bereit sein sollte, ein Veto auszusprechen. Im Verlauf vieler Jahre ertrug die EU Unannehmlichkeiten aufgrund der Tatsache, dass ein einziges Land den Willen aller anderen Länder aushebeln konnte, indem es in einem entscheidenden Moment sagte: "Wir sind aber dagegen". Die EU tolerierte dies mit der Begründung, dass die Entscheidungen zwar langsam zustande kommen, aber letztendlich zu 100 Prozent den Willen aller ihrer Mitglieder widerspiegeln.
Nun will Olaf Scholz das Veto, die heilige Kuh der EU, unter das Messer legen, um die Überwindung von Differenzen und die Bewältigung externer Herausforderungen zu erleichtern. "Wo heute Einstimmigkeit erforderlich ist, wächst mit jedem weiteren Mitgliedsstaat auch das Risiko, dass ein einzelnes Land mit seinem Veto alle anderen am Vorankommen hindert", erklärte Olaf Scholz in seiner Rede in Prag.
In diesem Zusammenhang wird vorgeschlagen, wichtige Entscheidungen mit der Mehrheit der Stimmen zu treffen. Dem Anschein nach wird es keine mathematische Mehrheit geben. Jede Stimme wird eine unterschiedliche Gewichtung haben, je nachdem, zu welchem Land sie gehört. Das deutsche Votum wird schwerer wiegen als das von Estland und sogar von Polen, das sich als Wegbereiter für neue Trends, einen neuen europäischen Geist und ein europäisches Gewissen positioniert. Ein wichtiges Detail: Laut Scholz kann das Mehrheitsprinzip bei Entscheidungen "im Bereich von Sanktionen oder Menschenrechtsfragen" geprüft werden.
Zweitens hält der deutsche Bundeskanzler die Idee des französischen Präsidenten Emmanuel Macron für sehr vielversprechend, eine Art Vereinigung mit der Bezeichnung "Europäische Politische Gemeinschaft" zu schaffen, die sowohl EU-Mitglieder als auch deren Partner außerhalb der Europäischen Union umfassen würde: die westlichen Balkanstaaten, die Ukraine, Moldawien und Georgien. Die Idee besteht darin, ein- bis zweimal im Jahr einen politischen Dialog mit den EU-Partnerländern über Sicherheit, Energie und den Klimaschutz zu führen. Um die Aufnahme derjenigen Länder zu verhindern, die in absehbarer Zeit sowieso keine Mitgliedschaft in der EU erwarten und somit die Vorteile des gemeinsamen Zollraumes und der Bewegungsfreiheit innerhalb des Schengen-Raums nicht nutzen können, wird den Mitgliedern der neuen politischen Vereinigung die Formulierung "Teil der EU" (anstelle von "EU-Mitglied") angeboten.
Auf diese Weise können sie sich auch ohne Beitritt zur EU im Großen und Ganzen als Teil eines geeinten Europas, wenn auch einer zweiten Stufe, betrachten. Drittens sprach sich Bundeskanzler Scholz in seiner Prager Rede für eine verstärkte Unabhängigkeit des vereinten Europas bei der Rohstoffversorgung aus. "Wir brauchen einen 'game plan', so etwas wie die Strategie 'Made in Europe 2030'", sagte er.
Zuletzt viertens, durch die Umstrukturierung der Entscheidungsmechanismen innerhalb der EU sowie der Beziehungen zu denjenigen, die wie bisher keine Entscheidungen treffen, aber das Privileg haben, in vornehmer Gesellschaft alles zu äußern, was innerhalb der "europäischen politischen Gemeinschaft" auf dem Herzen liegt, hat Olaf Scholz die Schaffung eines einheitlichen Luftverteidigungssystems in der EU anvisiert. Ihm zufolge wäre ein solches System "ein Sicherheitsgewinn für ganz Europa".
Im Allgemeinen hielt Olaf Scholz zum ersten Mal eine kraftvolle Rede, die eindeutig nicht typisch für ihn ist - denn er ist weit davon entfernt, ein schillernder Politiker zu sein - und die man als "Wie wir Europa gestalten können" bezeichnen könnte. Weil er sich bisher so etwas in Deutschland nicht erlaubte, war es die Reise nach Prag wert. Eine Rede ist eine Rede, doch was hat das alles mit der Realität und der Zukunft eines geeinten Europas zu tun? Was ist der praktische Mehrwert dieser großen reformistischen Ambition?
Der erste Euroskeptiker, der sich wenig begeistert zeigte, war der tschechische Premierminister Petr Fiala, der auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Olaf Scholz versuchte, ihn wieder auf den europäischen Boden zurückzuholen. "Die Tschechische Republik steht der Idee, das Einstimmigkeitsprinzip aufzugeben und zum Mehrheitsprinzip überzugehen, zurückhaltend und vorsichtig gegenüber. Besonders in der schwierigen politischen Situation des heutigen Europas müssen wir dies berücksichtigen. Wir waren als Land sehr froh, dass es uns in der Rolle des EU-Ratsvorsitzes gelungen war, einen vollständigen Konsens zwischen allen EU-Mitgliedsstaaten zu den jüngsten Themen zu erzielen. Es ist jetzt besonders wichtig, dass die EU-Länder eine einheitliche Position vertreten und Entscheidungen einstimmig getroffen werden. Ich denke, dass die Diskussion zu diesem Thema in der Europäischen Union nicht einfach sein wird", warnte Fiala.
Insgesamt hinterlassen viele der Vorschläge von Kanzler Scholz ein anhaltendes Déjà-vu-Gefühl. Irgendwo hatten wir das bereits gehört, durchlebt, auch wenn in einer anderen Verpackung. Der Vorschlag der "Europäischen Politischen Gemeinschaft" erinnert an eine modernisierte Version der Östlichen Partnerschaft, von der heute nur noch der Name übrig ist.
Der Plan für ein gesamteuropäisches Raketenabwehrsystem (ABM) erinnert an die Idee einer europäischen Armee vor 20 Jahren und könnte ebenfalls zu einem Phantom werden. Was das Schicksal des Vorschlags, auf ein Veto zu verzichten, in der EU betrifft, so hat der tschechische Ministerpräsident Petr Fiala allgemeinverständlich geantwortet.
Das zuverlässigste Szenario ist, dass Olaf Scholz zurücktreten wird, lange bevor einer seiner Vorschläge umgesetzt wird. Und es ist höchstwahrscheinlich, dass am Ende daraus gar nichts wird. Als sinnlos kann man sie aber auch nicht bezeichnen. Der deutsche Bundeskanzler hatte zumindest Recht, als er im Hörsaal der Universität seinen reformistischen Laserpointer auf die wichtigsten Schwachstellen in Europa richtete.
Er räumte offen ein, dass das europäische Haus einer Generalüberholung bedarf. Jetzt geht es nur noch darum, erfahrene Handwerker und das nötige Budget zu finden, wobei im heutigen Europa alles sehr teuer ist.
Übersetzt aus dem Russischen.
Sergej Strokan ist Dichter, Journalist und Moderator von Talkshows auf staatlichen Fernsehsendern. Er wurde in der Ukraine in der Stadt Nowomoskowsk in der Region Dnjepropetrowsk geboren. Im Jahr 1982 schloss er sein Studium am Institut für Asien- und Afrikastudien der Staatlichen Universität Moskau als Orientalist-Philologe ab. Danach arbeitete er in der Asien-Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften, dann als Sonderkorrespondent für die Wochenzeitung Moscow News und auch als Leiter der Abteilung für auswärtige Angelegenheiten der sozialen und politischen Zeitschrift Itogi. Derzeit ist er Kolumnist bei der Zeitung Kommersant.
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