Überleben in einer Stadt, die zu einer Katastrophenkulisse geworden ist – Eine Reportage
von Wladislaw Sankin
Wenn jemand einen apokalyptischen Katastrophenfilm drehen will, braucht er kein teures Filmset zu bauen. Er muss lediglich die Militärbehörden der Russischen Föderation um die Erlaubnis bitten, in Mariupol zu drehen. Eine solche Kulisse der Verwüstung gibt es derzeit nirgendwo sonst auf der Welt. Wenn jemand einen Dokumentarfilm über menschliches Leid, Tragödien oder unglaubliche Rettungsgeschichten drehen will, muss er nur in einem beliebigen Gebiet von Mariupol anhalten, wohin das Leben bereits zurückgekehrt ist, und mit den Einheimischen sprechen.
Das ist nicht so einfach, wie es scheint, wenn man das fertige Videomaterial mit Überlebenden sieht, das in den russischen Medien vielfach geteilt wurde. Nicht jeder ist bereit, vor der Kamera zu sprechen. "Wir sind nicht im passenden Zustand", sagt mir eine hagere Frau mit Zigarette lächelnd über sich und ihren Begleiter und zeigt auf eine Literflasche Bier in ihrer Hand. Etwas abseits steht ein auf die Seite gekippter Wolga, oder vielmehr das, was von dem Wagen nach den Kämpfen und Überfällen der Lumpensammler übrig geblieben ist. Als Tausende und Abertausende von Menschen in einem Augenblick alles verloren haben, ist dieses völlig vergessene Wort wieder aktuell geworden. Von dem Auto bleibt außer der Karosserie fast nichts mehr übrig, aber die beiden Männer haben wohl doch noch etwas gefunden, das ihre Aufmerksamkeit wert ist.
Aus der Ferne kann ich nicht sehen, was sie zusammenschrauben – und ich will nicht näherkommen, ich will sie nicht stören. Es ist ohnehin unwahrscheinlich, dass es klappen wird, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. In der Zwischenzeit taucht ein besserer Kandidat für ein Gespräch auf. Ein Mann zieht eine Schubkarre mit zwei großen Wasserkanistern bergauf, seine Stirn ist nass vor Schweiß. Später erfahre ich, dass in diesem Teil der Altstadt schon seit Mitte Juli wieder eine Stelle für Wasserversorgung in Betrieb ist. Ich mache ein Foto von ihm und biete meine Hilfe an. Aber der Mann ist in Eile und redet nicht mit mir.
Erst jetzt merke ich, dass wir gegenüber von zwei schönen Gebäuden mit Säulen im antiken Stil geparkt haben. In einem von ihnen ist eine Klinik untergebracht – ein griechisches medizinisches Zentrum. Von außen sieht man ihnen die Schäden an: Einige Räume sind zerstört, Glas ist zerbrochen, die Fassade ist durch Granatsplitter deformiert. Wir befinden uns in der Griechischen Straße, und man hört Kinderstimmen, die aus dem Hof des medizinischen Zentrums kommen. Eine Gruppe von Kindern spielt unbekümmert, und als ich sie fotografiere, lächeln sie mir zu.
Aber ich folge dem Mann mit dem Wasser und biege in die Metropolitskaja-Straße ein. Es gibt dort viele Privathäuser und zwei- bis dreistöckige Wohngebäude, von denen jedes zweite zerstört oder stark beschädigt ist.
Ich treffe auf einen hageren, aber immer noch rüstigen alten Mann namens Sergei Nikolajewitsch, in seinen Händen wieder Kanister mit Wasser. Er redet gerne mit mir, und wir vereinbaren, bei ihm zu drehen. Wir kommen zu einem Hof, den sich drei Privathäuser teilen. Das größte gehört dem Sohn von Sergei Nikolajewitsch. Doch alles, was davon übrig geblieben ist, ist ein verbrannter Rohbau, wie mir seine Frau Tamara Wassiljewna später erzählte – die ganze Nachbarschaft war mehrfach von ukrainischen Grad-Raketen getroffen worden, und gleich mehrere Granaten waren mitten in ihrem Hof gelandet. Rostige Bruchstücke der verschossenen Munition liegen immer noch dort.
Nur der winzige Anbau, in dem die beiden Rentner jetzt untergebracht sind, blieb unbeschädigt. Sie waren am 4. Juli hierher zurückgekehrt. Unmittelbar danach wurde die Straße von Müll und Autowracks geräumt, was unsere Gastgeberin sichtlich zufriedenstellt. Aber damit hören die guten Nachrichten für sie auf. Alles andere – die Schwierigkeit, Griwna in Rubel umzutauschen, die mangelhafte humanitäre Hilfe, die halb reparierten elektrischen Leitungen auf der Straße – ist für sie Grund zum Wehklagen. Der Zustand, in dem sich die Bewohner von Mariupol befinden, die im Wesentlichen zu obdachlosen Landstreichern geworden sind, bereitet ihr großen Kummer, und sie schluchzt während des Gesprächs hin und wieder.
Sie und ihr Mann sind Einheimische, und sie wissen noch, wem die Nebengebäude in ihrem Hof zu Beginn des letzten Jahrhunderts gehört hatten. Dazu gehört auch der Keller des gegenüberliegenden Hauses, in dem sie und ihre Nachbarn sich vor dem Beschuss versteckten. Der Keller war mit Wasser gefüllt, und all diese sehr alten Menschen mussten im März lange und kalte Stunden auf improvisierten Podesten aus alten Möbeln sitzen.
Tamara Wassiljewna gab die Höhe ihrer Rente in Rubel an und zählte auf, welche Lebensmittel sie von diesem Geld kaufen kann – es sind nicht viele. Der Rest wird durch humanitäre Hilfe bereitgestellt. "Wir haben überlebt, und das ist die Hauptsache", sagt ihr Mann. Wir treffen seinen zweiten Sohn, der in einem alten Schiguli angekommen ist. Er erzählt uns, dass seine Verwandten in andere Länder gegangen sind, vor allem nach Russland, einige auch nach Polen.
Das Beispiel dieser Familie ist eine weitere Bestätigung dafür, was ich schon in zahlreichen Videoberichten gesehen habe: Die meisten Menschen in Mariupol haben zumindest eine loyale Haltung gegenüber Russland. Sie betonen, dass die Russen und die DVR-Kämpfer nur deshalb auf ihre Häuser geschossen haben, um das ukrainische Militär von dort zu vertreiben. "In acht Jahren haben sie so viele Waffen hierher gebracht", sagt Sergei Nikolajewitsch über die Ukrainer. "Man hätte sie schon im Jahre 2014 von hier bis zu den Karpaten wegjagen sollen. Ich weiß nicht, warum sie dann aufgehört haben. Das ist meine Meinung."
Ich gehe zurück zum griechischen Zentrum. Ich betrete das Gelände seitlich, dann von hinten und sehe die kranzartigen Explosionsspuren auf dem Asphalt – das Gebäude ist doch stärker ramponiert, als ich gedacht hatte, die Fensterscheiben sind herausgesprungen. Wieder höre ich Kinderstimmen. Aus einem dunklen Raum ohne Fenster schleppt ein dünnes Mädchen von zehn oder zwölf Jahren zwei volle Eimer mit Wasser, neben ihr ist ihre zweijährige Schwester. Als sie einen unbekannten Mann sieht, bricht sie in einem Weinkrampf aus.
Ihre Mutter steht vor der Tür. Eine blonde Frau Anfang 40 namens Tatjana, in sommerlich kurzen, legeren Shorts, ist betont unfreundlich. "Ich werde nicht mit Ihnen reden", sagt sie, als sie erfährt, dass ich Reporter bin. "Alle kommen und drehen hier, aber was nützt das?" Wie sich später herausstellt, hat das Gespräch mit den Journalisten für sie einen rein praktischen Zweck – bei den Behörden durchzukommen und endlich eine Unterkunft zu bekommen, "wenigstens ein Zimmer im Wohnheim". Schließlich gelingt es mir, sie zu überreden, mit uns ins Gespräch zu kommen. Als ich betone, dass unser Kamerateam von den russischen Staatsmedien kommt, lenkt sie ein.
Im Korridor, umgeben von ihren sieben Kindern, erzählt mir Tatjana in rasantem Tempo, wie sie während der Kämpfe ihre Wohnung verloren haben. Ihr wortkarger Ehemann Walerian steht in der Nähe. Er ist Georgier und kam 2008 in die Ukraine, um im Baugewerbe zu arbeiten. Später zeigt er mir ein gerahmtes Gruppenfoto mit einem Mitarbeiter des russischen Katastrophenschutzministeriums, der der Familie sehr geholfen habe, als sie schon wohnungslos waren.
Die Gesichter der Kinder sind von einer Mischung aus slawischen und georgischen Zügen gekennzeichnet. Ich erfahre auch, dass Tatjana eine weitere Tochter aus ihrer ersten Ehe hat. Ich hatte den Eindruck, dass Tatjana nicht ganz aufrichtig war, als sie sagte, sie wisse nicht, Soldaten welcher Armee sie aus ihrer Wohnung geworfen hatten – diese Geschichte klingt nur allzu sehr nach dem Verhalten des ukrainischen Militärs oder des berüchtigten Regiments Asow, das bereits wiederholt von anderen Flüchtlingen und Brandgeschädigten aus Mariupol beschrieben worden war. Sie liefen buchstäblich barfuß aus dem Haus, Zuflucht mussten sie bei Bekannten suchen, bis auch ihr Haus zerstört wurde.
Es wäre jedoch seltsam, von einer Familie mit so vielen Kindern eine politische Position zu erwarten. Ganz gleich, in welchem Land sie leben, Tatjana und Walerian erfüllen eine gottgefällige und, wenn man so will, staatsbildende Aufgabe. Ohne Kinder gibt es in keinem Land und keinem Staat dieser Erde eine Zukunft. Deswegen sollten Familien, die Geburt und Erziehung so vieler Kinder auf sich genommen haben, weit oben auf der Prioritätenliste jeder Regierung stehen, vor allem in Krisenzeiten. Eine hohe Kinderzahl ist keine Versicherung mehr für das Alter wie in früheren Zeiten, sondern die Grundlage dafür, dass es jemanden gibt, der in diesem Land leben und arbeiten kann. In Mariupol sollten sie jenem Staat zugute kommen, der bald vor unseren Augen auf diesen Ruinen entstehen wird.
Walerian hat uns ihre Zimmer gezeigt. Sie erwiesen sich als ungewöhnlich aufgeräumt für diese Verhältnisse, und in einem von ihnen hingen Ikonen. Laut Tatjana sind sie im Juni durch einen glücklichen Zufall hierhergezogen, und zwar dank Irakli Michailowitsch (sie erinnert sich nicht an seinen Nachnamen), dem Leiter dieser Klinik.
Aber sollte das Wohlergehen dieser Familie von einigen glücklichen Zufällen abhängen? Muss eine Mutter, die sieben Kinder großzieht, unendliche Behördengänge absolvieren, um ein Zimmer in einem Wohnheim zu bekommen? Der Gedanke, dass der Herbst naht und das ganze Gebäude voller Löcher ist, macht Tatjana Angst. "Wir hatten schon hier einmal einen Mann mit einer Axt stehen", sagte sie. Das sollte natürlich nicht passieren. Aber was kann ein Journalist in dieser Situation tun? Vor- und Nachnamen dieser Personen und ihre Telefonnummer aufschreiben.
Bald schon wird es dämmern, aber unsere Rückfahrt nach Donezk verzögerte sich. Wir holten unsere Reisebegleiterin, ebenfalls Journalistin, in einer Privathaus-Siedlung ab. Das Navi weigerte sich bereits, uns zu helfen, und wir verirrten uns ein wenig. Als wir ankamen, stellte sich heraus, dass eine junge Frau, die Protagonistin unserer Kollegin, uns gebeten hatte, ihre herzkranke Mutter aus dem Krankenhaus abzuholen. Sie wurde vor zwei Stunden mit dem Krankenwagen dorthin gebracht. Kein leichtes Unterfangen in einer Stadt, in der mindestens die Hälfte der Brücken zerstört worden war.
Das Krankenhaus blieb unversehrt und zeigt keinerlei Kriegsschäden. Die Frau, die wir abgeholt haben, sprach mit leiser Stimme. Das Reden fiel ihr sehr schwer. Was sie uns also sagte, hielt sie für wichtig. Die Ärzte nähmen sie auf, aber "wie in der Ukraine", ohne sie zu untersuchen, sondern sie verschrieben ihr einen Haufen Medikamente, die sie ohnehin nicht bezahlen könne, beschwerte sie sich bei uns. Sie konnte sich nur mithilfe ihrer Tochter fortbewegen.
Ihre Tochter, Walerija, eine hübsche junge Frau Anfang dreißig, saß die ganze Fahrt in die Klinik über still und ruhig da. Wie ich später von unserer Begleiterin erfahren habe, war sie im Krieg Witwe geworden. In der Wohnung ihres Lebensgefährten hatte die ukrainische Armee Positionen eingerichtet, ihr Mann und sein Bruder waren dabei erschossen worden. Ihre Leichen hatten die Soldaten in einen Explosionskrater geworfen. Alles war praktisch vor ihren Augen geschehen, später hatte sie vier Tage lang die Toten vor Hunden bewacht, bevor sie beerdigt wurden. Das Haus, in dem sie, ihre drei Kinder und ihre Mutter wohnen, haben ihnen aus der Stadt geflüchtete Bekannte zur Verfügung gestellt.
Der Blitzbesuch in Mariupol hat in mir tiefe Spuren hinterlassen. Die Gefühle schwanken zwischen Erleichterung, dass die Menschen, die ich getroffen habe, am Leben sind, und Unbehagen, dass sie immer noch in Not leben müssen. Die Einwohner sollen sehen, dass ihr Leid nicht umsonst war. Russland muss Tatjana, Walerija und allen anderen in Not geratenen kinderreichen Familien direkt und unbürokratisch helfen. An ihrem Wohlergehen sollte schließlich der ganze Erfolg des Wiederaufbaus gemessen werden.
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