Meinung

Der deutsche Souverän in der Defensive – Er sollte seine Stimme erheben

Vom Souverän ist immer weniger übrig. Er wird kleingehalten, soll still sein und den Narrativen folgen, die gerade die Debatten dominieren. Das ist fatal. Es wird Zeit für ein neues Selbstvertrauen des Souveräns, der wir alle sind.
Der deutsche Souverän in der Defensive – Er sollte seine Stimme erhebenQuelle: www.globallookpress.com © Kay Nietfeld / dpa

von Tom J. Wellbrock

Wenn ich Ihnen jetzt vorschlage, an die Namen Lanz, Wagenknecht und Guérot zu denken, stehen die Chancen recht gut, dass Sie vor Ihrem geistigen Auge sehen, wie die Politikerin und die Politikwissenschaftlerin in der Talkshow von Markus Lanz "gegrillt" wurden.

Allerdings gehen schon bei meiner Behauptung die Meinungen auseinander. Insbesondere Sahra Wagenknecht (Die Linke) wird gern als souveräne Politikerin dargestellt, die sich durch heftige Angriffe nicht provozieren oder aus der Ruhe bringen lässt. Selbst Unwahrheiten und massive Angriffe scheinen an ihr abzuprallen, ohne dass sich auch nur das Zucken einer Wimper erkennen ließe. Ich glaube das zwar nicht, lasse es aber im Raum stehen, denn nur Wagenknecht selbst kann sagen, ob es so oder anders ist.

Ich möchte auf etwas anderes hinaus. Menschen wie Wagenknecht oder Ulrike Guérot werden in der täglichen Talkshow-Wirklichkeit (und darüber hinaus) beinahe vogelfrei behandelt. Wer die Sendung mit der Politikwissenschaftlerin gesehen hat, die von Markus Lanz mit den Worten "Wer fängt an?" eröffnet wurde, bevor die Attacken begannen, weiß, was ich meine. Wie gut oder weniger gut Guérot mit diesen Angriffen klargekommen ist, will ich hier ebenfalls nicht thematisieren.

Anders stellte sich die Situation bei Sigmar Gabriel und Ralf Stegner (beide SPD) dar. Der eine verteidigte die diplomatische und auf Handel ausgerichtete Wirtschaftspolitik der Merkel-Zeit. Der andere äußerte Bedenken bezüglich der Lieferung von Waffen und schwerem Gerät an die Ukraine. Beide taten das ebenfalls bei Markus Lanz. Doch "gegrillt" wurde weder der eine noch der andere. Versuchte Attacken, ja, die gab es, aber im Falle der beiden Politiker schienen diese tatsächlich an ihnen abzutropfen. Wie kommt das?

Formen der "guten" und "bösen" Kritik

Die erste Vermutung liegt nahe: Gabriel und Stegner hatten einen besseren Stand, weil sie Männer sind. Das ist zwar nicht auszuschließen, scheint aber eher zweitrangig zu sein. Vielmehr können sich die beiden Genossen ihre Kritik leisten, weil sie ansonsten alles in allem doch sehr auf der Linie sind, die von Lanz und dessen Team gern gesehen wird. Da wird schon mal der eine oder andere kleine "Fehler" verziehen.

Guérot und Wagenknecht dagegen stellen das große Ganze in Frage. Sie wollen darüber sprechen, wie die Vorgeschichte zum Ukraine-Krieg (oder auch anderen Themen) aussieht, wollen die Rolle und die Verantwortung des Westens ins Gespräch bringen und werden nicht müde zu betonen, dass die jetzige Politik nur zu einer Verlängerung des Krieges führt. Damit gehen sie ein paar Schritte weiter als etwa Gabriel und Stegner.

Und das macht sie zu "Feinden". Denn wie in Deutschland mit dem Ukraine-Konflikt, der COVID-19-Pandemie oder dem Klimawandel umzugehen ist, wurde längst in aller Deutlichkeit festgelegt. Nicht vom Souverän, also nicht vom Bürger, sondern von der Politik, den Medien und allen möglichen sogenannten Experten.

Wurden die Bürger danach gefragt, ob sie schwere Waffen in die Ukraine liefern wollen? Ob sie ein Gas-Embargo wollen? Ob sie bereit sind, für die Ukraine zu frieren? Selbstverständlich nicht. Das wurde anderswo entschieden, und wer damit ein Problem hat, der habe eben die repräsentative Demokratie nicht verstanden. Heißt es.

Ich lehne mich weit aus dem Fenster und behaupte, dass Stimmen wie die von Guérot und Wagenknecht zu einem nicht unwesentlichen Teil für die Bevölkerung sprechen, also gewissermaßen den Souverän zumindest teilweise vertreten, selbst wenn sie mit diesem Anspruch nicht angetreten sein sollten. Ich behaupte darüber hinaus, dass die wenigsten Deutschen wissen, was wirklich in der Ukraine los ist, welche politischen Kräfte dort welche undemokratischen Entscheidungen treffen. Ich unterstelle, dass die "Solidarität" mit der Ukraine nichts weiter ist als ein Druckmittel, das – gepaart mit dem unschlagbaren Satz: "Da sterben Menschen!" – genutzt wird, um die eigenen Interessen durchzusetzen und nach außen zu kommunizieren, es sei im Sinne der Bevölkerung Deutschlands und der Ukraine, im Sinne der Demokratie und der Menschenrechte, im Sinne der Völkerverständigung und – natürlich! – im Sinne des Völkerrechts.

Das ist Unsinn, Humbug, Propaganda. Es ist kein halbes Jahr her, da waren die Ukraine und ihr Präsident medial in mehr oder weniger aller Munde – und zwar im Sinne von deutlicher Kritik an den korrupten Strukturen des Landes und des Präsidenten. Das aber nur am Rande.

Leben im "absolutistischen Fürstenstaat"

Die Liste der an Gerhard Schröder (SPD) zu kritisierenden Punkte dürfte lang werden, wenn man erst einmal anfängt, sich Notizen zu machen. Für Deutschland gehört ganz sicher die Agenda 2010 zu den verheerendsten Taten des Ex-Kanzlers. Menschen in anderen Ländern werden andere Punkte finden, die sie an Schröder abstoßend finden.

Doch eines muss man diesem Mann lassen: Er lässt sich nicht unter Druck setzen, nicht von der SPD, nicht von der Bundesregierung, nicht von den Medien. Sein aktueller Plan sieht vor, das Büro, das ihm vom Bundestag entzogen wurde, zurückzubekommen, inklusive Mitarbeiter. Es ist offensichtlich, dass ihm dieses Büro genommen wurde, weil er in Sachen Ukraine nicht auf Linie ist. Doch die Begründung, Schröder komme den "nachwirkenden Dienstpflichten" nicht nach, lässt der Alt-Kanzler nicht gelten. Da gar nicht klar sei, wie genau die eigentlich aussehen.

Tauchen wir hier nicht in juristische Kommentierung ein, sondern konzentrieren uns auf das, was hier geschieht: Schröder gibt nicht klein bei. Er ist nicht bereit, sich in die Defensive zu begeben, und schon gar nicht, weil er die vermeintlich "falsche" Meinung vertritt. Wenn Schröder über seinen Anwalt von einem "absolutistischen Fürstenstaat" spricht, dann ist das nur auf den ersten Blick harter Tobak. Auf den zweiten spricht er eine Wahrheit aus, die sonst niemand ausspricht, und ganz besonders nicht die "Fürsten" selbst oder ihre zu Diensten stehenden Schreiberlinge.

Egal, ob Schröder, Guérot, Wagenknecht oder der Bäckermeister, der in die Talkshow mit Kanzler Schröder eingeblendet wird und der verzweifelt fordert, zu einer Lösung zu kommen, bevor hier alles vor der Wand landet – die "Fürsten" agieren an all diesen Menschen vorbei. Sie agieren auch vorbei an den Menschen auf der Welt, die durch Corona- oder Maßnahmenpolitik um ihre Existenz bangen oder längst wegen der Folgen dieser Politik aufgegeben haben. Sie agieren vorbei an all den Menschen, die ohnehin schon am unteren Limit lebten, wohlgemerkt, wegen der Politik genau derer, die jetzt pathetisch behaupten, sie stünden für das Gute, Edle und Menschliche. Und sie agieren vorbei an allen Menschen, die sich Frieden wünschen, in der Ukraine, im Jemen, Syrien und anderswo. Sie verlängern jeden einzelnen Krieg durch ihr Tun oder Nichtstun, durch Waffen, Geld, Logistik oder das Bereitstellen beispielsweise des Standortes Ramstein, von wo aus unzählige Drohnen starten und ihren tödlichen Job verrichten.

Der Souverän braucht Mut

Hier war die Rede von Guérot, Wagenknecht, Schröder, Stegner, Gabriel und einem Bäckermeister. Wer von diesen Menschen ist der Souverän?

Man könnte antworten: alle. Oder auch: niemand. Am einfachsten wäre die Antwort: der Bäckermeister. Aber das ist letztlich nicht die Frage. Sie lautet eher, wer sich als Souverän fühlen darf, und das ist mit Abstand am wenigsten der Bäckermeister. Er wird nicht gehört, selbst wenn er einen kleinen Talkshow-Auftritt bekommt. Sein Schicksal spielt in den Sprechblasen von Olaf Scholz keine Rolle. Niemand wird sich bei ihm unterhaken und ihm das Lied "You’ll never walk alone" ins Ohr singen. Das sind Phrasen eines "absolutistischen Fürstenstaats".

Auch Guérot und Wagenknecht zählen im Grunde zum Souverän, aber ihre Meinungen sind zu nah dran an den Menschen, die – wie der Bäckermeister – im ursprünglichen Sinne der Vorstellung eines Souverän entsprechen. Beide müssen ebenfalls auf die wohlklingenden Worte des Liedes "You'll never walk alone" verzichten.

Stegner und Gabriel gehören definitiv nicht zum Souverän, sie stehen auf der anderen Seite und dürfen – weil sie dadurch nichts ändern, auch nicht im Bewusstsein der Bevölkerung – hier und da kritische Worte verlieren. Das sieht gut aus, schafft das irrige Gefühl von Meinungsvielfalt und Pluralismus, sodass wir uns entspannt zurücklehnen und genießen können, in einer Demokratie und nicht in einem Fürstenstaat zu leben.

Gerhard Schröder ist ein Ausgestoßener, ausgeschlossen aus dem Narrativ Deutschlands, erklärt zum Putin-Freund, der er nicht sein darf.

Lernen von Gabriel, Stegner und Schröder

Meiner Meinung nach ist die Ausgangssituation der Auftritte von Guérot und Wagenknecht folgende: Sie sind von der ersten Minute an in der Defensive. Während Wagenknecht versucht, Beleidigungen und Angriffe unter der Gürtellinie zu ignorieren, merkt man Guérot oft an, dass sie getroffen wurde.

Trotzdem halten sich beide am Prinzip des Argumentierens fest. Das ist grundsätzlich sinnvoll und der Sache dienlich.

Gabriel und Stegner sind bei ihren Auftritten weiter gegangen. Sie haben so argumentiert, wie es ihnen zustand, doch unangemessene Angriffe haben sie nicht unkommentiert gelassen. Im Gegenteil, sie gingen direkt zum Gegenangriff über und wiesen vehement darauf hin, dass hier die Grundlage des Argumentierens verlassen und die der Beleidigung, Unterstellung und unbewiesenen Behauptung betreten werde. Sie taten das mit einer ausgeprägten Selbstsicherheit und waren dabei so souverän, dass die Angriffe auf sie scheiterten.

Nun ist es natürlich so, dass Gabriel und Stegner als Autoritäten anerkannt sind, erst recht von Markus Lanz, der ziemlich unterwürfig sein kann, wenn die entsprechenden Gäste kommen. Wagenknecht und Guérot haben es da deutlich schwerer. Trotzdem glaube ich, dass ein wenig mehr offene Empörung bei polemischen und provozierenden Angriffen durchaus eine Option sein könnte, die fruchten kann. Und selbst, wenn es nur eine Erwiderung wie diese ist: "Auf Ihre völlig abgehobenen und wahrheitswidrigen Provokationen gehe ich nicht ein. Sie können damit weitermachen, doch letztlich entlarven Sie damit nur, dass sie argumentativ nichts zu bieten haben."

Der Punkt ist, dass jede ignorierte Attacke weitere folgen lassen wird. Wagenknecht könnte davon sicher ein Lied singen, denn je stoischer sie Angriffe über sich ergehen lässt, desto sicherer kann sie sich sein, dass der nächste schon in Vorbereitung ist. Spürt der Angreifer Gegenwehr und steht plötzlich wie der "nackte Kaiser" da, dürfte das psychologisch seine Wirkung nicht verfehlen.

Und dann gibt es noch Gerhard Schröder. Er lebt nicht mehr in Deutschland, er lässt sich weder von seiner Freundschaft zu Putin abbringen, noch sieht er ein, sich in rhetorischer Art und Weise von seinen Überzeugungen zu verabschieden. Mit seiner jetzt eingereichten Klage geht er sogar einen Schritt weiter und signalisiert: "Bis hierher und nicht weiter! Wenn Ihr denkt, Ihr könnt wie die Fürsten machen, was Ihr wollt, habt Ihr euch geschnitten."

Seine Behauptung, Deutschland sei ein "absolutistischer Fürstenstaat", würde Guérot oder Wagenknecht vermutlich in ähnlicher Form nicht über die Lippen kommen. Doch vielleicht wäre ein wenig mehr Polemik und offensive Rhetorik gar keine so schlechte Idee. Nicht zuletzt auch, um deutlich zu machen, dass hier auf Augenhöhe gestritten wird und nicht von oben nach unten.

Denn dort befindet sich der Souverän schon seit Langem: unten. Und es wird Zeit, dass er (wieder) Oberwasser bekommt. Er ist es, der nicht gefragt wird. Und er ist es, der seine Stimme erheben muss, wenn sich etwas ändern soll. 

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Tom J. Wellbrock ist Autor und Texter. Er betreibt den Blog Neulandrebellen.

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