Kommentar von Kirill Benediktow
Beginnen wir mit Geschichte. Mai bis Juni 1999. Die Bundesrepublik Jugoslawien (die zu diesem Zeitpunkt nur aus Serbien und Montenegro bestand) wird auf unmenschliche Weise von der NATO bombardiert. Unter den Bomben sterben nicht nur Soldaten der jugoslawischen Armee, sondern auch Zivilisten: alte Menschen, Frauen und Kinder. Munition mit abgereichertem Uran hagelt auf das Kosovo und die Bucht von Kotor herab. Jeden Tag überfällt die westliche Luftwaffe friedliche Städte und zerschießt Brücken, Fabriken und sogar Personenzüge.
Schließlich kapituliert Slobodan Milošević vor dem Westen. Doch dann, während sich die NATO-Staaten darauf vorbereiten, wichtige Städte im Kosovo zu besetzen, vollziehen russische Fallschirmjäger ihren legendären Vorstoß nach Pristina.
Die Geschichte, wie ein Bataillon von Friedenstruppen an einem Tag von Bosnien aus die halbe Balkanhalbinsel überquerte und Slatina, den Flughafen von Pristina, besetzte, den zuvor russische Spezialkräfte unter Junus-Bek Jewkurow in einem streng geheimen Einsatz von albanischen Terroristen befreiten, wird in einem der besten russischen Filme der letzten Jahre erzählt: "Die Balkan-Linie" (übrigens wärmstens zu empfehlen). Außen vor blieben jedoch die nachfolgenden dramatischen Ereignisse: Nachdem der britische Panzerkommandant General Jackson den Befehl erhalten hatte, "die Russen zu vernichten", antwortete er dem Befehlshaber der NATO-Streitkräfte in Europa US-Amerikaner Wesley Clarke:
"Sir, ich werde für Sie nicht den Dritten Weltkrieg beginnen."
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Dabei hatte der russische Generalstab geplant, nach dem brillanten "Kavallerieangriff" auf den Flugplatz mindestens zwei Regimenter Luftlandetruppen und schwere gepanzerte Fahrzeuge in den Kosovo zu verlegen – damit sich die russische Präsenz in der Region nicht auf ein von allen Seiten von überlegenen NATO-Kräften umgebenes Bataillon Friedenstruppen beschränken würde. Transportflugzeuge der russischen Luftwaffe wärmten bereits die Triebwerke auf, doch im letzten Moment musste die Operation abgesagt werden: Ungarn und Bulgarien, frischgebackene Mitglieder des Nordatlantikbündnisses, hatten ihren Luftraum für die russischen Flugzeuge gesperrt.
Schließlich wurde die Zahl der russischen Friedenstruppen doch noch verdreifacht – aber sie waren über die britischen, amerikanischen und französischen Zuständigkeitsbereiche verstreut und somit nicht in der Lage, die Kosovo-Serben wirksam gegen albanische Banditen und Terroristen zu verteidigen. So halfen Ungarn und Bulgarien dem Westen, auch die Überreste des ehemaligen Jugoslawiens zu besiegen. 23 Jahre sind seitdem vergangen.
Am 5. Juni 2022 verweigerten drei Balkanstaaten – Bulgarien, Nordmazedonien und Montenegro – die diplomatische Freigabe für den Flug nach Belgrad, mit dem der russische Außenminister Sergei Lawrow anreisen sollte, und verschlossen somit den Luftraum für seinen Durchflug in den binnenkontinentalen Staat Serbien. Formal wurde die Entscheidung im Einklang mit den EU-Sanktionen gegen Russland getroffen – Lawrow steht in Bulgarien auf einer Sanktionsliste. Bloß sind weder Nordmazedonien noch Montenegro EU-Mitgliedsstaaten: Sie warten lediglich darauf, dass Brüssel wohlgeruhe, ihren Beitrittsantrag überhaupt zu prüfen – und selbst der herbeigesehnte Tag dieser Prüfung rückt zusehends in immer weitere Ferne. Doch dafür sind beide Balkanländer Mitglieder der NATO – und kaum jemand kann Zweifel daran schöpfen, dass sie ihren Luftraum für das Flugzeug des russischen Chefdiplomaten auf Befehl aus dem Hauptquartier eben dieser Organisation sperrten.
Es ist besonders beschämend, dass sich auf dieser Liste der loyalen Vasallen des Westens auch Montenegro wiederfindet. Im Jahr 1999 war das Land Teil der Bundesrepublik Jugoslawien, und somit riskierten die russischen Friedenstruppen im Kosovo ihr Leben auch für Montenegro.
Am nächsten Tag informierte der russische Botschafter in Serbien Alexander Bozan-Chartschenko den serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić offiziell über die fehlenden Voraussetzungen für den Besuch von Sergei Lawrow. Als Grund gab er wahrheitsgemäß die Weigerung der Regierungen Bulgariens, Nordmazedoniens und Montenegros an, der Iljuschin IL-96 des russischen Außenministers den Überflug zu gewähren.
Dadurch, dass sie sich in eine solche Pose warfen, brachten Serbiens Balkan-Nachbarn auch Vučić in eine unangenehme Lage: Schließlich war das Treffen zwischen dem serbischen "Predsednik" (also "Vorsitzender", wie der Staatschef auf Serbisch genannt wird) und dem russischen Außenminister im Voraus öffentlich angekündigt worden, und sollte die starken und zeitbewährten Beziehungen zwischen Moskau und Belgrad noch einmal ebenso öffentlichkeitswirksam bestätigen. Doch genau das will der Westen Serbien partout nicht gestatten: Es soll gehorsam wie ein Jungbulle am Seil den Strippenziehern in der Europäischen Kommission und im US-Außenministerium folgen. Und die eklatante Demarche von Sofia, Skopje und Podgorica schränkt ihrem Wesen nach die Souveränität Belgrads erheblich ein. Sergei Lawrow selbst kommentierte den Schritt:
"Was geschehen ist, ist im Grunde genommen ein Entzug des Rechts eines souveränen Staates, seine Außenpolitik wirksam zu betreiben."
Auch stellt der Schritt, möchte man betonen, verständlicherweise eine unmittelbare Beleidigung des serbischen Präsidenten dar.
"Ich bin nicht überrascht", machte Vučić gegenüber Journalisten des Fernsehsender RTS deutlich, "ich selbst habe ja schon vor ein paar Tagen gesagt, dass ich Komplikationen erwarte. Tag für Tag haben wir die Lage verfolgt – und die Versuche seitens immer mehr Ländern beobachtet, die den Überflug des Flugzeugs des russischen Ministers verboten haben, die Flugroute zu ändern. Natürlich muss ich meinen Unmut über den Versuch, uns die Verhandlungen zu verbieten, zum Ausdruck bringen."
Nach Angaben des Präsidenten Serbiens war der vom Westen ausgeübte Druck enorm. Zahlreiche Journalisten ausländischer Medien kamen eigens nach Serbien, um Bilder von Lawrow und Vučić zu schießen und damit Beiträge zu untermalen, die den Besuch des russischen Ministers ausschließlich in einem negativen Licht darstellen sollten. Vučić fügte hinzu:
"Eine solche Hysterie und einen solchen organisierten Angriff auf ein kleines Land wie Serbien habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Gegen Russland können sie nichts ausrichten – also haben sie beschlossen, das kleine Serbien zu schikanieren."
Gleichzeitig betonte Vučić, dass Serbien sich zwar weigere, "Teil der Meute" zu werden, die sich auf Russland stürzt, dabei aber "die Invasion der Ukraine durch die russische Armee" verurteile.
Natürlich ist Vučić nicht zu beneiden. Doch es ist auch überhaupt sehr "schwierig, Verbündeter eines weit entfernten Landes zu sein, wenn man von Mitgliedsstaaten eines Blocks umgeben ist, der diesem feindlich gesinnt ist", wie der unabhängige serbische TV-Sender N1 formuliert. Und zu allem Überfluss steht aktuell an der Spitze der Regierung Serbiens auch noch die westlich-globalistisch-liberal orientierte (in jedwedem Sinne) Ana Brnabić, die einem Bündnis mit Russland skeptisch gegenübersteht. Laut Brnabić, der Hauptverfechterin einer EU-gerichteten weiteren Entwicklung Serbiens, bringe der Besuch Lawrows Serbien in eine "extrem schwierige Lage".
Beim Großteil der serbischen Landesführung stieß solch rüpelhaftes Verhalten der Nachbarn (und gerade mit den Mazedoniern und Montenegrinern hatten die Serben ja einen gemeinsamen Staat, was auch noch gar nicht so lang her ist) jedoch auf kein Verständnis.
Der serbische Innenminister Aleksandar Vulin erklärte, er bedauert "die Verhinderung des Besuchs eines großen und bewährten Freundes von Serbien, des russischen Außenministers Sergei Lawrow, zutiefst. Eine Welt, in der Diplomaten keinen Frieden suchen können, ist eine Welt, in der es auch gar keinen Frieden gibt. Diejenigen, die die Ankunft von Sergei Lawrow verhindert haben, wollen keinen Frieden, sie träumen davon, Russland zu besiegen. Serbien ist stolz darauf, dass es nicht an der antirussischen Hysterie beteiligt ist, und die Länder, die daran beteiligt sind, werden nun Zeit haben, sich dafür zu schämen".
Aleksandar Vulin ist in der Regierung Vučić traditionell der wichtigste Befürworter der Partnerschaft mit Moskau, und besonders überraschend kam die von ihm bezogene Position daher nicht. Doch dieses Mal wurde er auch vom serbischen Verteidigungsminister Nebojša Stefanović unterstützt. Dieser erklärte, Serbien behalte sich das Recht vor, seinen eigenen Weg zu bestimmen und unabhängige Entscheidungen zu treffen, die ausschließlich im Interesse seines Volkes liegen. Propagandaangriffe gegen Serbien und Präsident Vučić würden von der Opposition im Land mit gleicher Intensität wie von den anderen Ländern in der Region geführt, und das sei empörend:
"Warum dies geschieht und warum sich so viel Hysterie gegen Serbien richtet, fragt nicht einmal jemand – es ist zu offensichtlich."
Denn, nun ja: Was bleibt da auch zu fragen? Schon jetzt ist klar, dass Washington und Brüssel Moskau und Belgrad entzweien möchten – am liebsten für immer. Serbien ist jedoch das einzige Land, das aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorging und das sich nicht direkt von der US-Botschaft und der EU-Vertretung aus verwalten lässt. Daher sieht sich der Westen gezwungen, andere Hebel in Bewegung setzen, um Druck auf Serbiens Landesführung auszuüben.
Es kann doch kein Zufall sein, dass gerade am 6. Juni, als Vučić sich mit dem russischen Botschafter traf, unter den Mauern seiner Residenz eine spärlich besuchte, aber dafür laute Protestkundgebung der Organisation "Russen, Ukrainer, Weißrussen und Serben gemeinsam gegen den Krieg" stattfand. Am Vortag kursierte in den sozialen Netzwerken ein Aufruf der "Friedensfreunde", Vučić und Bozan-Chartschenko doch einmal persönlich mitzuteilen, "was man von ihnen und auch von dem beschämenden Versuch der serbischen Regierung, den Außenminister des Aggressorstaates zu empfangen, hält".
Zur Residenz fanden sich ein ... na, so an die sieben oder acht Personen. Darunter war etwa der aus Moskau geflohene Nawalny-Jünger Nikitin. Eine wahrhaft komische Figur, die keinen antirussischen Hexensabbat auslässt und es vorzieht, den eigenen Vornamen Pjotr als Peter anzugeben – fast wie nach Majakowski:
"Er war der Monteurgesell Hans.
Doch wie ein Pariser Gourmand
benamst er sich voll Eleganz:
'Elektrotechniker Jean'."
Dabei war auch der montenegrinische Anwalt Čedomir Stojković, der ehrlich seinen Lohn von der USAID abarbeitete. Die Zahl der Polizisten, die diese "Friedensaktivisten" bewachten, war um ein Vielfaches höher als ihre eigene – denn die Passanten hätten ihnen auch versehentlich ein paar Schellen verpassen können. Die serbischen Medien schreiben geradeaus, dass hinter "pro-ukrainischen Organisationen in Serbien bestimmte westliche Botschaften und NATO-Strukturen" stehen.
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Natürlich werden Sie in der westlichen Presse nicht lesen können, dass sich zu jener "Protestkundgebung" nicht einmal zehn Personen bequemten, und auch nicht, dass diejenigen, die kamen, großzügige Förderungsgelder von ihren Betreuern in den Botschaften der USA und der EU erhielten. Der einzige serbische "Politologe", den die westlichen Medien, vertreten von Associated Press, zum verhinderten Besuch von Sergei Lawrow in Belgrad zu befragen geruhten, war der ehemalige BBC-Korrespondent in Serbien Slobodan Stupar. Auch dies ist kaum ein Zufall – ist Stupar doch in Journalistenkreisen für seine extreme Katzbuckelei gegenüber dem Westen und seine Verachtung für die serbische Geschichte und Kultur bekannt. Da vermag auch nicht zu überraschen, dass eine solche Figur genau das sagte, was die AP von ihm erwartete:
"Ich glaube, dass die Russen sich selbst nach Serbien eingeladen haben. (...) Sie sind furchtbar isoliert. (...) Jetzt können sie sagen, dass Europa und die Welt nicht demokratisch sind und sogar einen einfachen Überflug verbieten."
Aber Slobodan Stupar irrt sich. Dass der Westen die eigenen, einst heiligen Gebote von Freiheit und Demokratie begraben hat, ist seit langem nichts Neues – und in diesem Sinne ändert der Vorfall mit der Sperrung des Himmels für das Flugzeug des russischen Chefdiplomaten nichts Grundlegendes. Was der Vorfall jedoch wirklich eindrucksvoll vor Augen führt, ist die Angst der Regierungen Europas und der USA vor Moskaus durchaus friedlichen, partnerschaftlichen Aktivitäten auf dem Balkan.
"Wenn im Westen schon der Besuch eines Außenministers in Serbien als eine Bedrohung von Weltmaßstab empfunden wird, dann läuft es im Westen anscheinend ganz und gar nicht mehr gut", meinte Sergei Lawrow mit Blick auf die Weigerung der "slawischen Brüder", ihm einen Luftkorridor nach Belgrad zu gewähren. Und dem lässt sich nur schwerlich noch etwas hinzufügen.
Übersetzt aus dem Russischen.
Kirill Benediktow ist Politikwissenschaftler und Autor einer Biografie von Donald Trump mit dem Titel "Der schwarze Schwan".