Die EU und die Sanktionen. Oder: Vom Mittelstürmer zum Ersatzspieler
von Dagmar Henn
Auf dem Treffen der EU-Finanzminister befassten sich diese wieder einmal mit weiteren Milliardenhilfen für die unersättliche Ukraine. Und ganz nebenbei äußerte der französische Finanzminister Bruno Le Maire, der diesen Ministerrat leitet, er wolle "den Brüsseler Vorschlag prüfen, im Zuge der EU-Sanktionen eingefrorene russische Gelder für den Wiederaufbau der Ukraine zu nutzen". In der Presse wiedergegeben wird nur der Einwand des österreichischen Finanzministers Magnus Brunner, dieser Plan der EU-Kommission sei "politisch nachvollziehbar und verständlich, aber rechtlich sehr schwierig".
Immerhin hatten es die USA jüngst ähnlich getrieben und einen Teil des beschlagnahmten afghanischen Auslandsvermögens an "Opfer des 11. September" weitergeleitet, also schlicht gestohlen und selbst ausgegeben. Das war schon eine besondere Dreistigkeit. Abgesehen davon, dass selbstverständlich auch diese Sanktionen gegen Afghanistan illegal sind, war es zuvor zumindest üblich, zwar den Zugriff auf die Guthaben in anderen Ländern zu verwehren, aber nicht selbst auf diese Mittel zuzugreifen. Es ist ein kleiner, feiner Unterschied dazwischen, dem Eigentümer das Ausüben der Besitzrechte zu verweigern oder sich selbst diese Rechte zu nehmen. Letzteres ist nämlich nach allen denkbaren Kriterien Diebstahl.
Besonders unappetitlich wurde dieser kriminelle Akt durch das kleine Detail, dass die afghanische Regierung diese Mittel gebraucht hätte, um damit dringend benötigte Nahrungsmittellieferungen zu bezahlen, die Vereinigten Staaten ihre Perfidie aber dadurch krönten, dass sie von einem Teil dieses Geldes, das nicht das ihre war, dann Hilfslieferungen finanzierten, die sie unter eigenem Namen verteilten. Das afghanische Volk bekam also sein eigenes Eigentum als Gnade der USA gereicht.
Aber Afghanistan ist ein kleines Land. Mit Russland in der gleichen Weise umzugehen, hat ganz andere Folgen. Denn alle Länder, deren ökonomische Stärke irgendwo zwischen der Afghanistans und der Russlands liegt, müssen fürchten, dass mit ihnen ähnlich verfahren werden könnte, und werden daraus ihre Konsequenzen ziehen.
Um zu illustrieren, dass dieser abstrakt wirkende Verlust an Vertrauen ganz konkrete Folgen zeitigt, zwei Beispiele. Das erste stammt aus jüngerer Zeit – schon ehe es Sanktionen gegen russisches Erdöl gab, hatte sich die Meldung gefunden, dass Charterfirmen, die Öltanker verchartern, kein russisches Öl mehr transportieren würden, weil sie an diversen Stellen Nachteile befürchten würden, unter anderem bei der Möglichkeit, Transporte zu versichern. Diese Wirkung hatten die Verfasser der Sanktionen nicht im Blick gehabt.
Aber um zu erfassen, wie einschneidend ein Verlust an Vertrauen sein kann, wirft man am besten einen Blick auf das Jahr 2008. Die Pleite von Lehman Brothers und der drohende Bankrott vieler weiterer Banken hatte dazu geführt, dass der globale Handel über mehrere Monate hinweg fast völlig stillgestanden hatte. Warum? Eine Ware, die beispielsweise in China für Deutschland bestellt wird, wird üblicherweise mit einem Wechsel bezahlt, weil ein Wechsel die Zahlungsform ist, bei der das Geld zwar erst nach Eintreffen der Ware am Bestimmungsort fließt, die Ware aber trotzdem bereits mit Eintreffen des Wechsels als bezahlt gilt. Diese Wechsel gehen von einer Bank an eine andere; und 2008 trauten sich die Banken wechselseitig so wenig, dass genau das nicht mehr möglich war, weil Bank A nicht länger bereit war, einen Wechsel, der über Bank B ausgestellt wurde, zu akzeptieren.
Man kann sehen, dass zwei Faktoren hier eine Rolle spielen. Zum einen ist es die Zeitspanne, die über der Abwicklung eines solchen Handels verstreicht und die mehrere Monate umfassen kann. Selbst was ich heute gesichert weiß, kann in einigen Monaten längst nicht mehr zutreffen. Genau mit diesem Argument weigerten sich die Versicherer, den Transport russischen Erdöls zu versichern. Was heute nicht sanktioniert ist, kann es ja morgen sein.
Gleichzeitig führt jede Krisensituation dazu, dass das Gegenüber unberechenbarer wird. Selbst wenn Bank B sicher schien, musste das nicht der Wahrheit entsprechen. Das Ergebnis lautete, alle Beteiligten versuchten, für sich das Maximum an Sicherheit zu erreichen; das Resultat war ein völliger Stillstand.
Nun überlegt also die EU-Kommission, "eingefrorene" russische Guthaben an die Ukraine zu übertragen. Also zu stehlen und dann nach Gutdünken zu verschenken. Natürlich wird man sich in Brüssel dabei einreden, dass sich ja niemand Sorgen machen müsse, der nicht gegen die Rechtsvorstellungen der EU verstößt; der Rest des Planeten betrachtet aber die Volatilität dieses Rechts irgendwo zwischen der Toilette für das siebzehnte Geschlecht und mit dem Klima begründeten Schutzzöllen und findet das ziemlich unberechenbar. Es wäre nicht verblüffend, wenn chinesische Unternehmen beispielsweise nur noch Wechsel chinesischer Banken akzeptierten, weil weder Guthaben auf US-amerikanischen noch auf europäischen Banken vor Willkür geschützt sind.
Handel über größere Entfernungen, das lässt sich historisch nachvollziehen, entwickelte sich nur parallel mit einem entsprechenden System aus Krediten und Wechseln. Dieses System funktioniert nur auf der Grundlage wechselseitigen Vertrauens, das hat sich vom 14. Jahrhundert bis heute nicht geändert. Das bedeutet selbstverständlich auch, dass jede Handlung, die diesem Vertrauen größeren Schaden zufügt, den Handel selbst schädigt.
Die Maßnahmen, die die EU und die Vereinigten Staaten in den vergangenen Monaten als "Sanktionen" gegen Russland ergriffen haben, werden dazu führen, dass ganze Finanzströme an diesen westlichen Ländern vorbeigeführt werden. Das gilt gleichermaßen für private wie für staatliche Vermögen, für Wechsel und Kredite. Diese Wirkung wird sich nicht sofort zeigen, weil diese Ströme vergleichsweise langsam sind, aber sie wird sich zeigen.
Schritte wie jener, den die EU-Kommission jetzt plant, beschleunigen diese Entwicklung noch weiter. Und es ist davon auszugehen, dass wieder einmal die eigene Bedeutung überschätzt und die Rechnung ohne den Wirt gemacht wird. Die Sanktionierung russischer Erdgaslieferungen ging auch davon aus, dass Russland ohne die unverzichtbaren westlichen Abnehmer verzweifelt auf seinem Erdgas sitzen bleiben würde und deshalb irgendwann angekrochen käme, um um Vergebung zu betteln. So, wie die Erwartung bestand, ein Ausschluss aus dem SWIFT-System werde wirklich die russische Wirtschaft völlig blockieren. Nur sind die Zeiten vorbei, in denen der Westen als Absatzmarkt oder als Anbieter finanzieller Infrastruktur einzigartig war. Das erbitterte Beharren auf der verblichenen Ausnahmestellung sorgt jetzt nur dafür, dass die Alternativen schneller und stärker gedeihen.
Es ist ohnehin erstaunlich, wie lange der Westen, insbesondere die Vereinigten Staaten, mit schlichtem Raub erfolgreich waren. Beispielsweise dem immer wieder erfolgten Abtransport der Goldreserven, zuletzt in Bolivien. Die Pläne der EU-Kommission erweitern nur das Spielfeld für solche "Maßnahmen". Aber derartige Raubzüge konterkarieren das sorgfältig gepflegte Bild der eigenen Stärke, gerade wenn sie an einem großen Opfer wie Russland vollzogen werden sollen. Sie erwecken vielmehr einen Eindruck von Verzweiflung, der wiederum das – sagte ich das schon? – unverzichtbare Vertrauen untergräbt, das den globalen Handelsstrukturen zugrunde liegt.
Es wird sicher interessant sein zu beobachten, wie sich Finanz- und Handelsströme und letztlich dann auch Produktionsketten um den Westen herum organisieren werden. Es wird eine sehr herbe Erfahrung für jenen Teil der Welt, der all dies über Jahrhunderte unter Kontrolle hatte, auf einmal eine Art weißer Fleck auf der Karte zu werden, der von den Lebensadern der globalen Ökonomie gemieden wird. Aber mit jedem einzelnen Schritt zu weiteren Sanktionen und weiterer Aufhebung eigentlich sakrosankter Regeln (die Beschlagnahmung eines Schiffes, das unter der Flagge eines anderen Landes fährt, ist beispielsweise eigentlich Piraterie) wird dieser Prozess beschleunigt, durch den Westen.
Die unmittelbaren materiellen Folgen etwa der Verringerung der Erdgasimporte sind schlimm genug. Aber die Folgen, die auf der Ebene von Handelsrecht und -sicherheit ausgelöst werden, sorgen nicht nur für ein schnelles Ende westlicher Dominanz, sondern dafür, dass das ehemalige Zentrum weltweiter Güterströme sich plötzlich an der äußeren Peripherie wiederfindet.
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