von Sergei Aksjonow
Der Feind fletscht die Zähne, führt manchmal empfindliche Gegenangriffe aus, doch im Allgemeinen zieht sich die Schar zurück, wodurch weite Gebiete des linken Dnjepr-Ufers und der Landkorridor zur Krim bereits unter unserer Kontrolle sind. Hier und da ist über den Gebäuden lokaler Verwaltungen, Schlüsselobjekten und strategischen Anhöhen die russische Staatsflagge gehisst. Die Einheimischen atmen erleichtert auf: "Wenn auch Steine vom Himmel fallen, wir sind jetzt in der Heimat."
Symbole haben eine Bedeutung. Wenn in entspannten Friedenszeiten dies oft nicht für alle offensichtlich ist – insbesondere für junge Menschen, welche die brutalen Ereignisse der Vergangenheit nicht erlebt haben –, so nimmt in Krisenzeiten alles seinen rechten Platz ein. Deshalb erinnert sich die Nachwelt unseres Volkes an diese rote Fahne, die einst auch von Michail Jegorow und Meliton Kantaria über dem Reichstag in Berlin gehisst wurde. Sieg! Und heute dasselbe: Russische Fahnen überall in der Region Donezk oder in Cherson symbolisieren Moskaus unbeugsamen Willen, die eigenen Menschen, die Russen, vor dem Terror vom Kiewer Mob zu schützen, vor jenem Gesindel, das sich für Übermenschen hält.
Interessant ist, dass der Prozess der Kennzeichnung der befreiten Gebiete mit staatlichen und anderen Symbolen einen spontanen Verlauf hat, in der Regel durch Teilnehmer an den gerade beendeten Kämpfen – die daraus ihr unbestreitbares moralisches Recht auf historische Kreativität ziehen. Mit der ersichtlichen Dominanz der offiziellen russischen Trikolore sind auch andere Flaggen weit verbreitet, die den einen oder anderen Teil der umfangreichen Geschichte Russlands symbolisieren. Zum Beispiel wurde in Cherson ein völlig exotisches purpurrotes Banner mit der Ikone nach dem Bildnis des wundersamen "Erlösers nicht von Hand gemacht" [нерукотворный спас] gesichtet. Am häufigsten aber ist es aber das unverwechselbare rote "Banner des Sieges".
Das Phänomen dieser Fahne ist verständlich. Gerade mit ihr hat die UdSSR den Nationalsozialismus samt seiner Herrschaft in Nazi-Deutschland und Europa zerschmettert, und das bedeutet, dass dieses Banner auch jetzt helfen wird – gegen die zweite Auflage dieser menschenverachtenden Ideologie in Kiew.
Auf diese Weise denken und fühlen sie auch, unsere Militärangehörigen, ohne besondere Mühe zur Besinnlichkeit aufwenden zu müssen. Was könnte man diesem heutigen extremen Nationalismus noch entgegensetzen, wenn nicht ein supranationales Symbol? Nicht umsonst griffen die Anhänger von Bandera nach dem Jahr 2014 genau diese Symbole an, sie attackierten deren Veteranen, sie setzten Verbote durch. Und jetzt drohen sie, den Zug des "Unsterblichen Regiments" am 9. Mai in Mariupol mit Totschka-U-Raketen anzugreifen. Das bedeutet, sie haben Angst.
Eine ganz besondere Bedeutung erlangte eine Fahne der Sieger der UdSSR nach der kürzlich berühmt gewordenen Geschichte vom "Großmütterchen des Sieges". Eine ältere Einwohnerin eines ukrainischen Dorfes, ein bescheidenes Kopftuch tragend, ging mit ihrer jahrzehntelang im Familienbesitz gehüteten Fahne hinaus, um die vermeintlichen russischen Befreier zu begrüßen, die sich leider als Kämpfer der Streitkräfte der Ukraine herausstellten. Nachdem sie die alte Frau reichlich verspottet hatten, wollten sie sie mit einer Tüte voller Nahrungsmittel bestechen, damit sie den "Ruhm der Ukraine" verkünden möge. Die stolze Dame lehnte sofort ab und verteidigte ihr rotes Banner, das die vorgeblichen "Befreier" demonstrativ mit Füßen traten: "Meine Eltern riskierten ihr Leben für diese Fahne, und du trittst darauf herum?" Sie nannte die Peiniger "Banderisten" und forderte sie auf, ihr die Fahne zurückzugeben. Diese Videoszene, von einem der Ukrainer selbst aufgenommen, verbreitet sich wie ein Lauffeuer in den sozialen Medien und brachte der alten Frau den Respekt und die Bewunderung all jener ein, die heute hier wie dort für Russland einstehen.
Die Wirkung des plötzlichen Volksempfindens dafür ist verblüffend, in der Popularität vergleichbar mit dem Buchstaben Z. Solches kann keine noch so ausgefeilte PR-Technologie erzielen.
Die Gestalt dieser alten Frau, bildlich verknüpft mit dem Schattenwurf der großartigen Denkmals "Mutter Heimat" in Stalingrad, wurde von Laienkünstlern im Internet viele Male verbreitet, erschien auch als Graffiti an Häusern in Russland und in der befreiten Ukraine. Der Chef von Roskosmos versprach sogar, das entsprechende Bildnis zusammen mit der Flagge der UdSSR auf einem der in naher Zukunft startenden Raumschiffe anzubringen.
Einige wurden allerdings verlegen. Sollten die Helden unserer Zeit nicht auch jung und maliziös sein? Und so antwortete mein Freund, der sich jetzt in der Nähe von Mariupol befindet, darauf: "Es gibt bereits auch Tausende anderer Helden. Junge Männer und Frauen, siegreich, hübsch, stilvoll, fröhlich und munter. Obwohl es nicht immer gelingt sie abzulichten ... Doch die Großmutter ist auch eine Heldin und ein hervorragendes Symbol dieses Krieges, für die Tapferkeit – genau so ist sie. Und die Liebe zur eigenen Heimat hat sie dadurch mutig gezeigt. Obwohl jene "Heimat" lange nicht mehr existiert, so kehrt sie doch allmählich zurück, bildet eine offensive Faust und kehrt zurück. Straße um Straße, Dorf um Dorf."
Tatsächlich gibt es da keinen Widerspruch. Die ältere Generation hatte ihren Kampf und hatte ihn mit Würde vollendet. Alle Ziele der Demilitarisierung und Entnazifizierung des Feindes hatte sie damals erreicht und bewahrt bis heute noch immer die Erinnerung an diese großen Ereignisse, im Rahmen des Möglichen. Die Jugend – mit Waffen in der Hand, an vorderster Front – verrichtet diese Arbeit zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrhunderts. Wir hören von ihnen täglich aus den Berichten des Verteidigungsministeriums. "Heldentum der Massen" hieß es im Großen Vaterländischen Krieg. Unter den bekannten neuen Helden sind auch jene mit den Kampfnamen "Motorola" und "Givi", welche die Last der ersten und schwierigsten Phase des Kampfes auf sich genommen hatten. Ihnen ein ewiges Angedenken.
Warum setzen diejenigen, denen es an wagemutigen und hübschen jungen Helden der Front mangelt, nicht diese Jungs auf das Banner? Ihre Gestalten umfangreicher und entschlossener zu nutzen, zu rühmen und zu popularisieren, sie hätten es verdient. Und natürlich ebenso das alte Mütterchen mit der roten Fahne. Und selbstverständlich auch diejenigen Dutzende und Hunderte von Soldaten und Offizieren, die sich bereits während des Spezialeinsatzes bewährt oder geopfert haben. Etwas mehr Aufmerksamkeit von lokalen Behörden russischer Städte gegenüber ihren heldenhaften Landsleuten, den Lebenden und den Toten, würde die russische Gesellschaft als Ganzes festigen und einen. Gerade gegenwärtig ist das sehr notwendig.
Übersetzt aus dem Russischen
Sergei Aksjonow ist Journalist, Politologe und Schriftsteller.
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