Meinung

Ukraine: Waffen geliefert in den Abgrund – und was wirklich mit ihnen passiert

Täglich ist die Rede von vielen Waffenlieferungen an die Ukraine. Die USA sowie zahlreiche EU- und NATO-Staaten sind beteiligt. Was passiert aber mit diesen Waffen? Mittlerweile gibt es Indizien, dass große Teile des in die Ukraine gelieferten Kriegsgerätes "verschwinden" – ohne Aufsicht, ohne Rechenschaftspflicht, aber mit global potenziellen Folgen.
Ukraine: Waffen geliefert in den Abgrund – und was wirklich mit ihnen passiertQuelle: www.globallookpress.com © Chad McNeeley

von Elem Raznochintsky

Der US-Präsident Joe Biden hat vor einer Woche angekündigt, eine weitere große Waffenlieferung im Wert von 800 Millionen US-Dollar nach Kiew zu veranlassen. Wobei er in Aussicht stellte, sogar noch mehr militärische Unterstützung im US-Kongress zu beantragen.

Bei allem Elan, der aus der westlichen Berichterstattung über all die enormen und umfangreichen Waffenlieferungen an die Ukraine hervorsprudelt, wird eine offensichtliche Frage kaum vertieft: Erreichen die frisch gelieferten Waffen überhaupt ihre gesetzlich vorgesehenen "Endverbraucher" – die ukrainischen Streitkräfte?

Nun haben US-Geheimdienstquellen kürzlich über den US-amerikanischen Nachrichtensender CNN ziemlich transparent eingestanden, dass es eine extreme Dunkelziffer von abhanden gekommenem Kriegsgerät gibt, welches auf einem florierenden Schwarzmarkt abgefangen, umgewidmet und dann weiterverkauft wird.

Was den Verbleib und die Nutzung der neuen Waffen anbelangt, nachdem sie die Grenze in die Ukraine überschritten haben, erklärt die Geheimdienstquelle so:

"Wir haben eine kurze Zeit lang eine hohe Zuverlässigkeit, aber wenn es in den Nebel des Krieges eindringt, haben wir fast nichts mehr. [...] Es fällt in ein großes schwarzes Loch, und man hat nach kurzer Zeit fast überhaupt keine Ahnung mehr davon."

Die weiteren Ausführungen der US-Vertretung weisen auf die Ratio hin, dass die Alternative einer mangelnden oder ausbleibenden Bewaffnung der Ukraine ein höheres Risiko darstelle, als das grobe Abhandenkommen all der bisherigen Kriegsausrüstung, die gegenwärtig läuft, registriert und in Kauf genommen wird.

Außerdem gebe es eine Kluft, zwischen den optimistischen und zusichernden Äußerungen der ukrainischen Regierung und Präsident Selenskij in der Öffentlichkeit und dem, was die US-Führung hinter den Kulissen bereits vermutet. Dafür habe man in Washington Verständnis, da man dort nachvollziehen könne, wie wichtig die öffentliche Wahrnehmung zu Kriegszeiten sei:

"Alles, was sie öffentlich tun und sagen, soll ihnen helfen, den Krieg zu gewinnen. Jede öffentliche Erklärung ist eine Informationsoperation, jedes Interview, jeder Auftritt von Selenskij ist eine Informationsoperation."

Die beängstigenden Eingeständnisse über den möglichen Missbrauch der Waffenlieferungen werden auch nicht jetzt zum ersten Mal gemacht. Die logistische, organisatorische und – ja, daraus folgend auch – die ethische Problematik von internationalen Waffenlieferungen wird in Expertenpublikationen verhältnismäßig regelmäßig thematisiert. 

Das private Washingtoner US-Forschungsinstitut für internationale Beziehungen The Stimson Center hat in einem Bericht von Februar 2021 ein allgemeines Expertenfazit publiziert:

"Die Umleitung konventioneller Waffen ist ein zentrales internationales Sicherheitsproblem, da ungeregelte Waffen[verbreitung] Konflikte und bewaffnete Gewalt fortsetzen und verschärfen, schwerwiegende Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts erleichtern [...] und zu Unsicherheit und Instabilität beitragen können. Ein großer Teil der Umleitungen steht im Zusammenhang mit dem internationalen Transfer solcher Waffen."

Die Waffentransfers an die Ukraine sind genau das: international. Das bedeutet, sie sind extrem anfällig – geradezu maßgeschneidert – dafür, missbraucht zu werden.

In einem Bericht des Small Arms Survey (SAS) vom Januar 2021 wurden Fallbeispiele aus dem Vorjahr angeführt, in denen zum Beispiel ein Raketenwerfer in einem Müllcontainer in der nordwestukrainischen Stadt Shitomir gefunden wurde. Shitomir ist ein historischer wie auch derzeitiger Dreh- und Angelpunkt für osteuropäische Transport- und Logistikrouten. Die Route verbindet Großstädte, etwa Kiew sowohl mit Warschau als auch mit Minsk.

Was also seit dem Beginn der militärischen Sonderoperation in der Ukraine vor sich geht, müsste nun mit einem noch viel größeren Faktor multipliziert werden.

Wie unter anderem vom ukrainischen Telegram-Kanal "Легитимный" berichtet, kam hier ein regionales Beispiel vor ein paar Tagen ans Licht: 

Plünderer sind in der Ukraine auf dem Vormarsch.

"In Irpin bei Kiew sprengten zwei Plünderer – die von zwei Frauen entdeckt wurden – diese mit einer RGD-5-Granate in die Luft.

Auf die Frage von der Terrorabwehr 'Woher habt ihr die Granate?' kam die lakonische Antwort: 'Von der Straßensperre.'

Das Problem der unkontrollierten Verbreitung von Waffen."

Die RGD-5-Granate ist eine 1954 in der Sowjetunion entwickelte und zugelassene Waffe, die bis heute weltweit im Einsatz ist und zirkuliert. Sie wurde zu Beginn im ganzen "Ostblock" verwendet, so wie bis heute noch in der Ukraine (auch bei der 2014 neu gegründeten Nationalgarde und der 2015 gegründeten Nationalpolizei – beide unterstehen dem ukrainischen Innenministerium).

Es gibt eine US-amerikanische Variante namens M67, die etwas später entwickelt wurde. Anfang März 2022 wurden davon 7.500 Stück von Kanada an die Ukraine geliefert.

Alte Gewohnheiten sterben langsam

Die weit über zwanzig Länder, die der Ukraine bisher Waffen im Wert von mehreren Milliarden US-Dollar geliefert haben, müssen sich der Tatsache bewusst sein, dass ein großer Teil dieser Produkte seinen offiziellen Adressaten überhaupt gar nicht erreicht. Zu lukrativ ist es nämlich, diese Lieferketten anzuzapfen und zu verschleiern, um mehr "unversteuerte" Umsätze und Profite zu generieren.

Selbst wenn jemand bereit ist, heute noch an das Märchen einer – seit dem völkerrechtswidrigen Kiewer Regierungssturz von 2014 – endlich "freien", "unabhängigen" und "demokratischen" Ukraine zu glauben, sollte man nicht den Global Organized Crime Index (zu Deutsch: "Globaler Index der organisierten Kriminalität") unterschätzen. Diesem zufolge heißt es über die heutige Ukraine:

"Mit einem beträchtlichen Waffenarsenal, wenigen Hindernissen für den Zugang zu Waffen und Millionen von Kleinwaffen und leichten Waffen auf dem Schwarzmarkt gilt die Ukraine als einer der größten Märkte für den Waffenschmuggel in Europa. Das Land ist schon seit langem ein wichtiges Bindeglied im weltweiten Waffenhandel, doch seit dem Beginn des Konflikts in der Ostukraine [2014] hat sich seine Rolle noch verstärkt. [...] Innerhalb der Ukraine sind die Städte Odessa, Dnipro, Charkiw und Kiew wichtige logistische Zentren für kriminelle Netzwerke."

Die möglichen Folgen für Europa

Mit der enormen Flüchtlingsbewegung aus der Ukraine, die mittlerweile durch ein großes Hin und Her gekennzeichnet ist, sind laut der UNO bereits 870.000 ukrainische Rückkehrer registriert worden (Stand 14. April 2022).

Das heißt auch, dass noch mehr Dynamik und "Elastizität" beim illegalen Warentransport vorherzusehen ist, darunter auch Waffen. Undurchsichtigkeit und mangelnde Zollarbeit innerhalb der EU und ganz Europas werden auch die innere Sicherheitspolitik auf eine historische Probe stellen. Die unheilige Allianz aus Menschenschmuggel und Waffenschmuggel sollte ernsthafte Sorgen bereiten. Auch an dieser Stelle ist wieder der Global Organized Crime Index zu zitieren:

"Die Ukraine ist Herkunfts-, Transit- und Zielland für den Menschenhandel, der in diesem Land extrem weit verbreitet ist. Berichten zufolge ist die Ukraine eines der größten Herkunftsländer von Menschen, die in Europa Zwangsarbeit leisten müssen. Dieses Problem hat aufgrund wirtschaftlicher Not und politischer Unruhen zugenommen. [...] Die Ukraine ist nach wie vor sowohl ein Transit- als auch ein Herkunftsland im transnationalen Menschenschmuggelmarkt. Sie ist ein Transitland entlang der Migrationsroute aus Südostasien und dem Nahen Osten auf dem Weg in die EU-Länder."

"Moderne Sklaverei" ist ein Wort, dass die westliche Wertegemeinschaft gar nicht gerne hört, besonders in einem Kontext, der besagt, sie selbst wäre an diesem abscheulichen Phänomen mit schuld. Dabei vermuten viele nicht, dass Menschenhandel sehr wohl mit illegalem Waffentransport kombiniert werden kann. Für die verantwortlichen Waffenhändler wird auf diese Weise eine beachtliche Senkung des Eigenrisikos erzielt.

In einem Artikel der Plattform European Eye on Radicalization wird die hohe Wahrscheinlichkeit einer "Wiederholung Afghanistans" in der Ukraine erläutert. Die islamistische Radikalisierung, die nur weiter an Fahrt aufnahm, als die sowjetischen Truppen sich zwischen 1988 und 1989 aus Afghanistan zurückgezogen haben, wuchs zu einem internationalen Problem heran: all die militärisch ausgebildeten Extremisten kamen aus aller Welt, sammelten sich in Afghanistan und verstreuten sich daraufhin wieder auf diverse Krisenherde und in Konfliktzonen weltweit. Heute ist die ultrarechte, neonazistische Radikalisierung der ukrainischen Extremisten auf einem ähnlichen historischen Höhepunkt angelangt, da sie über Dekaden – und speziell über die letzten acht Jahre – mit westlichem Segen und Kapital gedeihen durfte. Sehr ähnlich zu der intensiven und verschwenderischen Unterstützung, die die Islamisten zum Ende des Kalten Krieges von den USA erhielten, um den hegemonialen sowjetischen Gegenpart zu brechen. Auch damals sind Waffen und Militärgerät en masse einfach "verschwunden". Wie das Lebenswerk von Politikern wie Zbigniew Brzeziński, Henry Kissinger oder Hillary R. Clinton (etwas später) allzu klar illustrieren, war das Ziel damals und ist es bis heute, das "Große Spiel" gegen Moskau im Kampf um Asien für sich zu entscheiden.

Über all das im letzten Abschnitt Erwähnte muss nun erneut noch einmal das Ursprungsthema – nämlich die überaus ominöse Verschleierung und Zerstreuung von internationalen Waffenlieferungen – gestülpt werden: Was passiert, wenn diese Waffen anfangen, auf systemischer Ebene in falsche Hände zu gelangen? Die nicht allzu weit entfernte Geschichte hält für uns die Antworten schon parat. Eine Metastase namens "Mit Leichtigkeit modern bewaffneter Terrorismus". Eine, die der militärisch-industrielle Komplex der USA und der NATO bewusst speist und füttert.

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.