Gefangene britische Kämpfer und Selenskijs Poker mit Medwedtschuk
von Dagmar Henn
Zwei in der Ukraine als gegnerische Kämpfer gefangen genommene Briten wandten sich in Videos an den britischen Premier Boris Johnson und baten ihn, sie gegen den in Kiew gefangen gehaltenen Wiktor Medwedtschuk auszutauschen. Das wäre eine vernünftige Lösung für eine verfahrene Situation.
Schließlich ist auf der einen Seite das Verlangen eines Staatspräsidenten, einen Bürger des eigenen Staates, der noch dazu zufällig der größten Oppositionspartei vorsitzt, die er praktischerweise verboten hat, zum Austausch anzubieten, ein rechtlich ausgesprochen bizarrer Akt. Denn entweder Medwedtschuk wäre tatsächlich rechtlich begründet inhaftiert worden, dann würde ein Staatspräsident das Recht seines eigenen Staates missachten, oder es handelte sich um eine willkürliche Verhaftung, dann wäre das ein Akt des Staatsterrorismus in Gestalt einer Geiselnahme.
Die Situation der beiden Briten andererseits ist ebenfalls kompliziert. Während die britischen Medien die Haltung der Familien der beiden übernehmen und rundheraus behaupten, es handele sich um reguläre Soldaten, die dem Schutz der Genfer Konvention unterliegen, sind die deutschen in diesem Fall vorsichtiger – die Tagesschau spricht neutral von "Kämpfern," was die Frage offenlässt, ob es sich um reguläre Truppen oder um Söldner handelt. Und das australische Portal news.com.au titelt direkt mit "Russen verhöhnen gefangene britische Söldner grausam".
Versuchen wir einmal, etwas Sinn in die Geschichte zu bringen. Shaun Pinner und Aiden Aslin wurden beide in Mariupol gefangen genommen und geben beide an, in der ukrainischen Marineinfanterie gedient zu haben. Beide kamen bereits vor Jahren in die Ukraine; Pinner (48) war zuvor britischer Berufssoldat gewesen. Offiziell heißt es von britischer Seite hierzu: "Shaun war ein gut angesehener Soldat in der britischen Armee und diente viele Jahre im Royal Anglia Regiment. Er diente bei vielen Einsätzen, darunter in Nordirland, und unter den Vereinten Nationen in Bosnien." Dann war er einige Zeit in Syrien bei kurdischen Einheiten. Im Jahr 2018 beschließt dieser langjährige Soldat plötzlich, in die Ukraine zu gehen. "2018 entschied Shaun, in die Ukraine umzuziehen, um seine vorhergehende Erfahrung und Ausbildung innerhalb des ukrainischen Militärs zu teilen." Im Verlauf dieser vier Jahre heiratet er eine Ukrainerin. Aber der ursprüngliche Auslöser dieses Umzugs war ein angeblich dringender privater Wunsch, die ukrainische Armee auszubilden.
Der zweite Brite, Aiden Aslin (28), kam ebenfalls bereits 2018 in die Ukraine. Auch er hatte zuvor einige Jahre in Syrien bei der kurdischen YPG verbracht, ist aber eigentlich Sozialarbeiter (wobei die Ausbildung hierfür nicht allzu gründlich gewesen sein kann; sein Name wird im Vorwort eines schwedischen Buches über Schweden in der YPG aus dem Jahr 2016 erwähnt; mit 22 Jahren war er also bereits in Syrien). Der Guardian zitiert einen ehemaligen Kameraden von Pinner und Asin aus syrischen Zeiten namens Jayson Pihajlic, selbst ein ehemaliger US-Marine, mit der Aussage, die Männer seien "Bannerträger der Demokratie".
Aslin trägt auf seinem linken Unterarm eine Tätowierung "Happy Days", glückliche Tage, gefolgt von einem Fadenkreuz. Und es gibt ein Video eines Verhörs mit ihm, in dem er explizit gefragt wird, ob er als Scharfschütze tätig war, und in dem seine rechte Hand zu sehen ist, die ausgeprägte Schwielen auf der Handinnenfläche zeigt, die zu einer solchen Tätigkeit passen könnten. Aslin besitzt zwar nach Aussage britischer Medien inzwischen die ukrainische Staatsbürgerschaft, aber auch bei ihm besteht kein Zweifel daran, dass er allein mit der Absicht, sich militärischen Handlungen anzuschließen, überhaupt in die Ukraine kam.
Diese Punkte sind deshalb wichtig, weil die Frage Söldner oder Soldat für den Status in der Gefangenschaft entscheidend sein kann. Das Zusatzprotokoll vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen trifft nämlich folgende Festlegung:
"Artikel 47
Söldner
1. Ein Söldner hat keinen Anspruch auf den Status eines Kombattanten oder eines Kriegsgefangenen.
2 Als Söldner gilt,
a) wer im Inland oder Ausland zu dem besonderen Zweck angeworben ist, in einem bewaffneten Konflikt zu kämpfen,
b) wer tatsächlich unmittelbar an Feindseligkeiten teilnimmt,
c) wer an Feindseligkeiten vor allem aus Streben nach persönlichem Gewinn teilnimmt und wer von oder im Namen einer am Konflikt beteiligten Partei tatsächlich die Zusage einer materiellen Vergütung erhalten hat, die wesentlich höher ist als die den Kombattanten der Streitkräfte dieser Partei in vergleichbarem Rang und mit ähnlichen Aufgaben zugesagte oder gezahlte Vergütung,
d) wer weder Staatsangehöriger einer am Konflikt beteiligten Partei ist noch in einem von einer am Konflikt beteiligten Partei kontrollierten Gebiet ansässig ist,
e) wer nicht Angehöriger der Streitkräfte einer am Konflikt beteiligten Partei ist und
f) wer nicht von einem nicht am Konflikt beteiligten Staat in amtlichem Auftrag als Angehöriger
seiner Streitkräfte entsandt worden ist."
Wie man sehen kann, ist die Festlegung nicht ganz einfach. Denn natürlich wäre auch ein beliebiger Söldner, der in einem bestimmten Gebiet über längere Zeit tätig ist, irgendwann dort "ansässig"; das würde aber vermutlich die Eigenschaft, dass es sich um einen Söldner handelt, nicht aufheben. Die Frage des Solds, die in Punkt 2c dieser Definition erwähnt wird, taucht bisher in den Videos nicht auf, könnte sich aber als kritisch erweisen. Eine sichere Ausnahme wäre Punkt 2f, wenn etwa Pinner im Auftrag des britischen Staates dort gewesen wäre; aber das wäre gleichzeitig ein sehr unangenehmes Eingeständnis für die britische Seite.
Auf jeden Fall lässt sich sagen, dass der Status der beiden unklar ist. Dafür sieht dieselbe Konvention eine gerichtliche Klärung vor; bis zu dieser Klärung genießen sie vorläufigen Schutz wie reguläre Kriegsgefangene. Allerdings läge das Gericht, das die Entscheidung treffen würde, in der Volksrepublik Donezk, auf deren Gebiet sie gefangen genommen wurden und in deren Gewahrsam sie augenblicklich sind.
Erschwerend käme hinzu, dass die Volksrepublik Donezk kein Unterzeichnerstaat der Genfer Konventionen von 1949 und deren Zusatzprotokolle ist, weshalb gesichert im Grunde nur Ansprüche nach der Haager Landkriegsordnung sind, die als "Völkergewohnheitsrecht" gilt, also auch dann zur Anwendung kommt, wenn der beteiligte Staat kein entsprechendes Abkommen unterzeichnet hat.
Kommen wir zur anderen Seite des vorgeschlagenen Austauschs. Um die Tatsache, das Medwedtschuk einer Partei vorsitzt, wird sowohl in der deutschen als auch in der britischen Presse vorsichtig herumnavigiert. Es ist doch irgendwie peinlich für ihren neuen Helden Wladimir Selenskij, konkurrierende Parteien erst zu verbieten, dann deren Führungspersonal zu inhaftieren und schließlich zum Austausch feilzubieten. Es ist zumindest ein Umgang mit der politischen Konkurrenz, den unter der Überschrift "Demokratie" unterzubringen ausgesprochen mühsam wäre. Also wird Medwedtschuk überwiegend "Oligarch" genannt, eine Eigenschaft, die er mit einer ganzen Reihe anderer ukrainischer Politiker teilt, mit Petro Poroschenko, Igor Kolomoiski und Julia Timoschenko beispielsweise. Und während sich die Tagesschau angesichts der Videos mit Pinner und Aslin Sorgen macht, wie frei die beiden sprechen konnten, bezog sie ähnliche Bedenken nicht auf Medwedtschuk und seine von ukrainischer Seite veröffentlichte Bitte, ihn gegen alle noch in Mariupol sitzenden Truppen auszutauschen. Für sie ist Medwedtschuk nur "auch Politiker einer prorussischen Oppositionspartei", aber vor allem Patenonkel von Wladimir Putins jüngster Tochter.
Die britischen Medien sind bezogen auf Medwedtschuk noch deutlich kreativer. Der Mirror nennt ihn "Prince of Darkness", Fürsten der Finsternis, und die Daily Mail zusätzlich noch "Putins graue Eminenz". Weshalb man sich schon gar keine Gedanken machen muss, was das für ein Land ist, in dem man Oppositionspolitiker einfängt und zur Handelsware macht. Gleichzeitig deutet diese Reaktion der britischen Medien bereits an, dass die britische Regierung wahrscheinlich unwillig sein wird, von Selenskij einen solchen Tausch zu fordern.
Es gibt aber noch mehr Details in der Geschichte. Das australische Portal news.com.au fasst ein erstes Video zusammen, das ein von Andrei Rudenko geführtes Interview mit Pinner zeigt. In diesem geht es um die Geschichte der Gefangennahme. Pinner berichtet, sie seien morgens um vier Uhr vom Fabrikgelände (vermutlich die Mariupoler Anlage Iljitsch) aufgebrochen, dann sei alles chaotisch verlaufen, und er wisse nicht, was mit jenen geschehen sei, die bei ihm waren. Der Interviewer sagt dann zu Pinner, die ukrainischen Gefangenen aus seiner Einheit hätten gesagt, der Kommandeur habe sie gezielt in eine Falle geschickt, um aus ihnen Helden zu machen. Und Rudenko sagt zu Pinner: "Ihr hattet keinerlei Chance, diesen Ort Sachatowka zu erreichen, weil überall russische und DVR-Truppen waren."
Ist eine solche Situation denkbar? Das würde bedeuten, dass die beiden einem aus propagandistischen Gründen geplanten Untergang gerade noch in die Gefangenschaft entronnen wären. Leider muss man zugeben, dass das aus mehreren Gründen logisch erscheint. Schließlich hat zumindest Aslin über einen Twitter-Account eine gewisse Bekanntheit, die dafür sorgen könnte, sein heldenhaftes Ende im Dienst für die arme, gequälte Ukraine gut zu vermarkten. Außerdem würde sich für den Fall, dass sie doch nicht aus rein persönlichen Motiven in die Ukraine gekommen sein sollten, ein externer Auftraggeber über die Beseitigung unangenehmer Zeugen freuen. In einem Land, dessen Staatschef Oppositionspolitiker als Geiseln in Ketten vor die Kameras zerrt, würde das jedenfalls nicht überraschen.
Wie das Spiel enden wird? Selenskij unternahm – in Richtung des Westens – einen durchaus geschickten Propagandaschachzug, weil er (oder sein ausländischer Berater) davon ausgehen konnte, dass die politische Perversion seines Angebots in den westlichen Medien nie aufgegriffen werden wird. Stattdessen wird eine private Geschichte daraus werden. Putin wird angeboten, einen Freund aus der Gefangenschaft zu befreien, indem er ukrainische Soldaten aus der Umzingelung abziehen lässt; tut er das nicht, bestätigt das nur, wie kalt und herzlos der russische Diktator ist. Weil die hiesigen Leser weder eine Ahnung von den Regeln eines Austauschs von Kriegsgefangenen haben, der üblicherweise penibelst Kopf für Kopf unter Einbeziehung des Dienstgrads stattfindet, noch wahrnehmen dürfen, dass neben der russischen Föderation auch noch die Volksrepublik Donezk involviert ist, die durchaus gelegentlich einer eigenen Agenda folgt, noch wissen, um welche Art Truppen es sich in Mariupol handelt, funktioniert diese Geschichte als Seifenoper hervorragend.
Auf russischer wie auf Donezker Seite sieht das anders aus. Zum einen wird die politische Bedeutung durchaus gesehen, und es ist klar, dass, sollte Selenskij mit diesem Austauschsangebot Erfolg haben, sämtliche Oppositionellen in der Ukraine noch mehr zu Freiwild werden, als sie es ohnehin schon sind. Damit, die ukrainischen Sicherheitsorgane noch zusätzlich zu motivieren, sie alle einzufangen und schon einmal auf Vorrat wegzusperren, täte man ihnen aber keinen Gefallen. Auf der anderen Seite ist das Wissen um die Spielregeln eines Gefangenenaustausches weit verbreiteter. Und selbst wenn er wollte, könnte Putin keinen derartigen Austausch vornehmen; in Russland würde das sofort als privater Missbrauch des Amtes gesehen, weil eine Person, die de jure gar nicht Objekt eines solchen Austausches sein kann, weil ukrainischer Staatsbürger, aufgrund persönlicher Beziehungen jenen vorgezogen würde, die tatsächlich einen Anspruch darauf hätten, dass sich ein russisches Staatsoberhaupt für sie einsetzt.
Der britischen Regierung wäre es, sollten die beiden Herren tatsächlich nicht nur ihren Privatinteressen gefolgt sein, vermutlich am liebsten, wenn sie irgendwo unauffällig verloren gingen. Gerade der aus der Berichterstattung ersichtliche Unwille, sich auf einen Austausch von Pinner und Aslin gegen Medwedtschuk einzulassen, ist selbst ein starkes Indiz in diese Richtung. Kämen sie nach Großbritannien, würden sie ausführlich durch die Medien gereicht, was bedeuten würde, sie könnten irgendwann etwas Unangenehmes erzählen. Wären sie so privat unterwegs gewesen, wie sie behaupten, wäre das britische Engagement für ihre Freilassung vermutlich größer.
Selenskij wiederum hat, wie sein Vorgänger, direkte Verhandlungen mit der Volksrepublik Donezk immer verweigert. Das war der Punkt, an dem die Minsker Vereinbarungen gescheitert sind, und damit ein zentraler Auslöser des Krieges. Einen Austausch gegen Pinner und Aslin könnte er aber nur mit Donezk verhandeln, nicht mit Moskau.
Die Wahrscheinlichkeit ist also hoch, dass weder Medwedtschuk noch Pinner und Aslin ausgetauscht werden. Das bedeutet, die Letzteren werden irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft in Donezk vor Gericht stehen, das erst entscheiden wird, ob sie als Kriegsgefangene zu gelten haben, und dann so oder so vermutlich in einem Verfahren wegen Kriegsverbrechen landen. Wenn sie Glück haben, als Zeugen.
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