Ein Kommentar von Geworg Mirsajan
Polen kämpft um den Titel des größten Russenfeinds in Europa. Und es hat alle Chancen, diesen Kampf zu gewinnen, denn Warschau ist auf Moskau wegen der Sonderoperation in der Ukraine tierisch sauer und schaut auch nicht einen Schritt weiter im Voraus als nötig, um seinen eigenen Groll zu stillen.
Der Wettbewerb um den Status der russenfeindlichsten Regierung in der Europäischen Union geht in Osteuropa munter weiter. Und trotz einer Reihe von Erfolgen der werten Konkurrenz (die Slowakei etwa schickte Flugabwehrsysteme S-300 in die Ukraine, die allerdings von der russischen Armee nahe Dnjepropetrowsk bereits erfolgreich zerstört wurden, und die Tschechische Republik verabschiedete ein Gesetz, das die Unterstützung der russischen Sonderoperation in der Ukraine mit Gefängnisstrafen ahndet), verteidigt Polen den Status des Favoriten mit ehernem Entschluss. Der Premierminister des Landes Mateusz Morawiecki fordert ein EU-weites vollständiges Einfuhrverbot für Russlands Energieträger, hat unabhängig davon ein separates seitens Polens selbst angekündigt und den französischen Präsidenten Emmanuel Macron scharf kritisiert, nur weil dieser den Dialog mit Wladimir Putin fortsetzen möchte.
Dann hat man in Warschau auch die Tragödie von Smolensk vor 12 Jahren wieder aus dsen Archiven hervorgeholt und abgestaubt: Den Absturz eines Flugzeugs mit dem polnischen Präsidenten Lech Kaczynski und vielen weiteren polnischen Politikern an Bord. Der Leiter des Ausschusses zur Untersuchung des Absturzes Antoni Macierewicz hat den Bericht des Ausschusses vom 29. Juli 2011 annulliert und erklärt, dass Experten während der Untersuchung angeblich Spuren von Sprengstoff am Wrack des Flugzeugs gefunden haben sollen.
Nach Ansicht von Herrn Macierewicz bedeute dies, dass das Flugzeug gesprengt wurde. Natürlich von den russischen Geheimdiensten, und zwar sei die Sprengladung in der linken Tragfläche angebracht gewesen, die nach vorherigen Daten mit einer Birke kollidierte. (Zur Ehre des polnischen Volkes: Diese Version scheint im Lande nicht gerade populär, zumindest wenn man den beiden Autorinnen dieses Leitartikels in der Wyborcza Glauben schenkt. Anm. d. Red.)
Der jüngste, aber mit Sicherheit nicht der letzte feindselige Akt Warschaus war jedoch die Beschlagnahme russischen diplomatischen Eigentums. Der russische Botschafter in Polen Sergei Andrejew berichtete:
"Heute Morgen erschienen Gerichtsvollzieher am Objekt unseres diplomatischen Eigentums in Warschau in der Sobieski-Straße 100 und verlangten die Zuführung dieses Objekts in die Aktiva des polnischen Staatshaushalts, vertreten durch die Warschauer Stadtverwaltung."
Anschließend schnitten Vertreter der Stadtverwaltung die Schlösser ab und betraten das Gebäude, das die westlichen Medien als "Nest russischer Spione" bezeichneten. Nach Angaben der Warschauer Behörden wird es nun zu einer Aufnahmeeinrichtung für ukrainische Flüchtlinge. "Wir haben [Russland] das sogenannte Nest der Spione weggenommen und wollen es unseren ukrainischen Gästen übergeben", kommentierte der Warschauer Bürgermeister Rafal Trzaskowski. "Ich bin froh, dass wir mit einem solchen symbolischen Schritt zeigen konnten, dass Warschau seinen ukrainischen Freunden hilft."
Die russischen Diplomaten waren verständlicherweise nicht erfreut über diese rechtswidrige Zurschaustellung von Symbolik.
Denn wenn Herr Trzaskowski ein Gebäude für ukrainische Flüchtlinge finden will, die überdies vor allem deshalb zu Flüchtlingen wurden, weil polnische Eliten ihren Teil zum Maidan-Putsch beigetragen haben, hätte er ihnen als Zeichen der Reue ja auch Warschaus eigenes Rathaus zur Verfügung stellen können.
Sergei Andrejew weiter:
"Wir haben das polnische Außenministerium aufgefordert, umfassende Maßnahmen zu ergreifen, um die Rechtsordnung wiederherzustellen und das rechtmäßige diplomatische Eigentum an die russische Seite zurückzugeben."
Und das polnische Außenministerium hat auf diese Aufforderung auch reagiert. Allerdings nicht so, wie es sich die russische Seite erhofft hatte:
"Das Außenministerium unterstützt die zuständigen Behörden und Institutionen, die Maßnahmen ergreifen, um den rechtlichen Status der von der Russischen Föderation illegal auf dem Gebiet der Republik Polen gehaltenen Immobilien zu klären."
Ausgerechnet Polens Außenamt will also weismachen, nichts über das Wiener Übereinkommen zu wissen. Sie wissen nichts davon und wollen es nicht lesen.
Da es aber in Moskau neuerdings Mode wurde, auf derartige Provokationen mit Härte zu reagieren (ob nun symmetrisch oder asymmetrisch), wird Russland zwangsläufig Vergeltung üben. Bis hin zur Ausweisung des Botschafters. Sich geleistet hat Polen dafür bereits mehr als genug.
Die Ukraine als Polens Einflussgebiet ist weggefallen
Ja, man kann die Wut in Warschau verstehen: Polen investiert seit fast 30 Jahren Millionen von US-Dollar in die ukrainische "Zivilgesellschaft". Warschau schulte und bestach die bestehende Elite in der Ukraine und schuf zudem eine neue Elite, die die Interessen Polens in der Ukraine vertrat, die es als seine ausschließliche Einflusszone betrachtete. Die polnischen Machthaber hofften, dass diese Investitionen in die Ukraine sowie ähnliche Investitionen in Weißrussland und den baltischen Staaten zur Entstehung eines Intermariums führen würden – eines politisch und wirtschaftlich zusammenhängenden Raums zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer, der unter polnischer Kontrolle stehen würde.
Dieser Raum hätte nicht nur eine Mauer zwischen Russland und Europa werden sollen, für deren Bau die USA, die kein Interesse an einer Annäherung zwischen der EU und Russland haben, großzügig zahlen würden. Sondern er würde darüberhinaus auch Polens Rolle als einer der führenden Staaten der EU sichern. Und jetzt? Jetzt waren all diese Investitionen umsonst: Moskau befasst sich mit seinem militärischen Sondereinsatz in der Ukraine nun ernsthaft mit der Umgestaltung des ukrainischen Raums, indem es alle Grundlagen des Antirusslands mit der Wurzel entfernt und damit auch die feuchten Träume Warschaus zerstört.
Wie der russische Außenminister Sergei Lawrow zu Recht betonte:
"Die militärische Sonderoperation soll der rücksichtslosen Expansion und dem rücksichtslosen Kurs auf totale Vorherrschaft der USA und unter ihrer Führung der übrigen westlichen Länder auf der internationalen Arena ein Ende setzen."
Wenn dies gelingt, werden sich die westlichen, das heißt die europäischen Länder, von der US-Vorherrschaft lösen. Daraufhin wird Westeuropa in der Lage sein, die Schultern seiner Souveränität etwas zu strecken.
Und auch in dieser Hinsicht ergeben sich im nun abspielenden Szenario ernsthafte Probleme für Warschau. Denn Polen ist vor vielen Jahren als Sieger des US-Castings für das beste trojanische Pferd Washingtons in Europa hervorgegangen. Seitdem verdingt sich die Regierung des Landes damit, im Austausch für Aufmerksamkeit und Geld der USA jeden Versuch einer Konsolidation Europas außerhalb des transatlantischen Vektors zu sabotieren. Wenn diese Rolle plötzlich ihre Aktualität verliert, wird sich damit auch Polens Stand in der EU drastisch verschlechtern.
Überdies sollte man bedenken: Wut sollte kein Motiv außenpolitischer Entscheidungen sein. Doch die Führung Polens ähnelt nun der in der Ukraine. Sie hat denselben – sprich, nicht allzu weiten – Planungshorizont. Warschau versucht hier und jetzt, mit Russophobie zu punkten, von Washington dafür Dividenden zu bekommen, die Stationierung neuer US-Armee-Einheiten auf polnischem Territorium durchzusetzen. US-Präsident Joe Biden hat bereits eine Verstärkung der NATO-Ostflanke angekündigt und ist verständlicherweise bereit, für eine solche Stationierung zu zahlen.
Langfristig gesehen findet sich Polen damit aber auf der falschen Seite der Geschichte wieder. Russlands militärischer Sondereinsatz in der Ukraine wird früher oder später mit Erfolg enden. Mit dem anschließenden Tauwetter in den internationalen Beziehungen, dazu wird die Entwicklung neuer, konstruktiver Spielregeln in Europa gehören, wird sich zeigen, wer, wo und auf wessen Grundstück welche Haufen gelegt hat – und der Verursacher eines jeden Haufens wird seine Strafe erhalten.
Übersetzt aus dem Russischen.
Geworg Mirsajan ist Politikwissenschaftler, Journalist und außerordentlicher Professor für Politikwissenschaft an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation.