Ein Kommentar von Dagmar Henn
Wann immer irgendwo Krieg ist, ist die Rede von Kriegsverbrechen. Das ist normal. Psychologische Kriegsführung gehört immer mit dazu, und den Gegner möglichst bösartig und sich selbst möglichst blütenweiß zu zeichnen ist Teil des Spiels. Darum ist es wichtig, wann immer dieses Stichwort fällt, nach Beweisen und nicht nach Vermutungen zu suchen. Manchmal, aber nicht immer erfolgt diese Beweisführung in Kriegsverbrecherprozessen.
Kalavrita in Griechenland beispielsweise war eines der großen Kriegsverbrechen der Wehrmacht und Teil der Nürnberger Prozesse. Alle männlichen Einwohner des Ortes wurden auf einen Hang getrieben und erschossen; die Frauen und Kinder wurden in der Schule des Ortes eingesperrt, konnten aber, so die Berichte, entkommen, weil ihnen einer der Soldaten die Türen öffnete.
Meiner Generation kommt zu dem Stichwort Kriegsverbrechen zuerst My Lai in den Sinn, ein vietnamesisches Dorf, das von der US-Armee ausgerottet wurde. Und Agent Orange. Danach kommen Dinge wie die Überfälle der US-finanzierten Contras in Nicaragua oder diverse Vorfälle im Irak-Krieg. Nur zu Nicaragua gab es ein Verfahren, wenn auch keinen Kriegsverbrecherprozess. Der eine Punkt, den all diese Vorfälle gemeinsam haben: Sie geschahen auf Befehl. Das ist ein entscheidendes Merkmal für ein Kriegsverbrechen. Heute gelten zudem Verstöße gegen die Genfer Konventionen als Kriegsverbrechen.
Das ist trickreich, weil beispielsweise der Beschuss eines Wohnhauses, vor dem ein Panzer steht, kein Kriegsverbrechen ist. Es ist auch keines, Spione oder Saboteure zu erschießen. Es ist aber eines, einer Stadt beispielsweise das Wasser zu nehmen, indem man einen Fluss umleitet oder blockiert. Die Blockade der Wasserzufuhr zur Krim, wie Kiew dies im Jahr 2014 praktizierte, könnte also durchaus qualifiziert sein, auch wenn dadurch niemand unmittelbar zu Tode kam.
Manche Fälle sind tatsächlich klar und eindeutig. Der Beschuss von Donezk mit einer Rakete Totschka-U-Rakete vor wenigen Wochen zum Beispiel. Nur die Ukraine hat diese Raketen noch im Arsenal und sie wurde auf die Innenstadt abgefeuert, in der sich keine militärischen Ziele befinden. Rakete und Gefechtskopf sind auf den Aufnahmen klar und deutlich zu erkennen. Der Gefechtskopf trug Clustermunition, die bei Einsätzen in der Nähe von Zivilisten verboten ist. Da kann es also keine Zweifel geben. Allerdings waren es die falschen Opfer, um in deutschen Medien unter einem großen Aufmacher erwähnt zu werden. Oder die falschen Täter. Immerhin schafft man es seit acht Jahren, ähnliche Vorfälle zu verschweigen. Das erste eindeutige ukrainische Kriegsverbrechen ereignete sich gleich zu Beginn, wenn man den ersten Kampf um den Donezker Flughafen als Anfang feststellen will. Die Verwundeten der Kampfhandlungen wurden in einem Lkw vom Flughafen abtransportiert. Dieser Lkw wurde von einem ukrainischen Flugzeug aus beschossen und keiner der Insassen überlebte.
Auch das Video über die Misshandlung russischer Kriegsgefangener ist ein klarer Beleg, weil Täter und Opfer deutlich zu erkennen sind. Auch der Ort, an dem sich dieses Ereignis abspielte, ist identifiziert und einige der Täter sind inzwischen namentlich bekannt. Weil die Misshandlung von Kriegsgefangenen ein klar definiertes Kriegsverbrechen ist, werden dafür nur wenige Informationen benötigt. Die Tatsache, dass es sich um Gefangene handelt, ist durch die gebundenen Hände belegt. Sie tragen reguläre Uniformen, sind also keine Spione, was sie vom Schutzstatus als Kriegsgefangene ausschließen würde. Die Zugehörigkeit der Täter zur gegnerischen Seite ist ebenfalls offensichtlich. Besonders interessant ist, dass die Echtheit dieser Aufnahmen von ukrainischer Seite nie bestritten wurde.
Mit den Bildern aus Butscha ist das anders. Sie besäßen eine höhere Glaubwürdigkeit, wenn sie unmittelbar nach dem Abzug der russischen Truppen aufgetaucht wären. Das wäre im Zeitalter der Handykameras problemlos möglich gewesen. Die Tage, die zwischen dem Abzug und der plötzlichen Entdeckung liegen, lassen doch starke Zweifel aufkommen. In einem Krimi würde man sagen, da war zu viel Gelegenheit, den Tatort zu manipulieren. Und während man im normalen Alltag größere Probleme hätte, irgendwo eine Leiche herzuzaubern, nur um passende Bilder zu erhalten, ist das in einem Kriegsgebiet meist kein Problem, schon gar nicht, wenn es sich um jüngere Männer handelt. Weshalb Tote auf einem Foto erst einmal nur Tote sind und kein Beweis für irgendwas.
Abstoßende Aufnahmen sind glaubwürdiger als solche, die in den Abendnachrichten gesendet werden können. Die berühmten Aufnahmen vom 2. Juni 2014 aus Lugansk beispielsweise. Schreckliche Aufnahmen nach einem Luftangriff, unter anderem von einer Frau, der die Beine abgerissen wurden. Sie lebte noch und fragte den Streamer, der dort war, nach einem Handy, um ihre Familie anzurufen. Aufnahmen dieser Art sind ein Schlag in die Magengrube und schwer zu verdauen, aber ohne jeden Zweifel echt, so wie die Schritte des Streamers durch den der Regionalverwaltung gegenüber liegenden Park, um herauszufinden, was dieses Blutbad angerichtet hat, und die Bilder von Luft-Boden-Raketen, die in der Erde steckten. (Munition gleich welcher Art explodiert selten zu hundert Prozent.)
Wenn eine Aufnahme nichts zeigt, was nicht ganztägig gezeigt werden kann, und das aus bestem Kamerawinkel, wie die berüchtigten Aufnahmen der Weißhelme in Syrien, dann ist sie mit ziemlicher Sicherheit gestellt. Weil in einer echten, arbeitenden Klinik nie optimale Aufnahmen entstehen würden, weil die Arbeit wichtiger ist als die Kamera und weil kaum etwas, das Ergebnis eines Krieges ist, problemlos zum abendlichen Butterbrot konsumiert werden kann.
Die Aufnahmen der Misshandlungen waren ein echtes Problem für den Westen. Während die Bilder aus Donezk ohne das mindeste Zögern als Aufnahmen aus Kiew verkauft wurden, blieb das Video der Misshandlungen das, was es war: Ein gültiger Beleg für ein Kriegsverbrechen durch die Ukraine, welches tatsächlich die Mauer durchbrach, die seit 2014 die westliche und die östliche Informationssphäre voneinander trennen. Eine Mauer, hinter der sogar Verbrechen von menschheitsgeschichtlicher Bedeutung wie jenes von Odessa verborgen werden können. Insofern verwundert es nicht, dass jetzt alle Kanäle mit Bildern aus Butscha geflutet werden. Schließlich braucht es etwas, das zumindest wie ein noch größeres Verbrechen aussieht, um die Scharte auszuwetzen, die die Bilder der Schüsse in die Beine russischer Kriegsgefangener hinterlassen haben. Nichts wäre verheerender als ein großer schmutziger Fleck auf der Weste der Ukraine, wenn man doch sein Sanktionsprogramm weiter abspulen will.
Man hat es schließlich so weit gebracht, dass zumindest Umfragen zu Folge größere Teile der deutschen Bevölkerung bereit sind, für die Ukraine zu hungern und zu frieren. Nicht, dass es dadurch irgendjemand in diesem verarmten Landstrich besser gehen würde. Und wer weiß, ob der Westen nicht doch eine handfeste Einmischung in den Krieg plant? Allein in Deutschland geht es immerhin um hundert Milliarden Euro, die jetzt in die Rüstung fließen sollen statt in vernünftige Dinge. Und es geht um die westliche Vorherrschaft, da muss man für Opferbereitschaft sorgen.
Als Zuschauer fragt man sich unter diesen Umständen bei jeder Gelegenheit, bei der die Zusammenhänge eben nicht so klar und eindeutig sind wie in Donezk, wie hoch die Bereitschaft zur Lüge ist, wenn die untere Kante des möglichen Ertrags hundert Milliarden Euro für den militärisch-industriellen Komplex sind und die obere der Erhalt eines Systems ist, das den Reichtum des ganzen Planeten in ein paar auserwählte westliche Länder schaufelt.
Denn auch das ist ein Kriterium, das bei der Frage Wahrheit oder Lüge weiterhilft. Donezk hätte von einer Lüge keinen Vorteil, denn Unterstützung aus Russland hatte es ohnehin schon und eine westliche würde es nie bekommen – egal, welche Verbrechen nachgewiesen würden. Von der Geschichte eines russischen Kriegsverbrechens in Butscha allerdings haben viele etwas: Die ukrainische Regierung, die auf weiteren Geldsegen hoffen kann, von dem natürlich einiges in Form privater Provisionen verschwinden wird, die Rüstungsindustrie, die europäischen Regierungen mit der Bundesregierung voran, weil Zweifel an Berlins suizidären Sanktionspolitik überwältigt werden, und zuallerletzt die USA, die ein Ruin Russlands und der EU gleichermaßen noch ein wenig vor dem eigenen Bankrott retten könnte.
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