Ein zweiter Tönnies-Skandal? Eher ein Maßnahmenskandal

Beim Fleischhersteller Tönnies durften Beschäftigte mit positivem Corona-Testergebnis unter bestimmten Bedingungen bereits nach zwei Tagen aus der Quarantäne. Ein Privileg für Tönnies. Aber nicht das ist der Skandal. Skandalös ist das, was Normalität ist.

von Dagmar Henn

Tönnies, das war dieser Fleischhersteller, der im Sommer 2020 Schlagzeilen machte. Weil im Zuge einer Welle von Corona-Infektionen unter den Beschäftigten die elenden Bedingungen ans Licht kamen, unter denen sie arbeiten mussten. Schlecht bezahlte Werkverträge, Massenunterkünfte, Arbeitszeiten bis zu 16 Stunden am Tag – sprich, die allerunterste Stufe der Ausbeutung. Eine Zeit lang befassten sich dann auch deutsche Medien damit, wie die Lage der importierten Arbeitskräfte im Lebensmittelsektor allgemein aussieht, und es stellte sich heraus, dass beim Spargelstechen oder Erdbeerpflücken das Gleiche galt wie bei der Firma Tönnies.

Das ist der einzige Punkt, an dem Corona tatsächlich zumindest teilweise für Verbesserungen gesorgt hat. Presseberichten zufolge wird inzwischen zumindest bei Tönnies die Arbeitszeit kontrolliert, ein Tariflohn gezahlt, der über dem Mindestlohn liegt und die Wohnbedingungen sollen sich auch verbessert haben. Über andere Unternehmen dieser Branche besagt das natürlich nichts.

Jetzt gibt es einen neuen Skandal um Tönnies, aber eigentlich liegt der genau andersherum, als er erzählt wird. Empört wird berichtet, Mitarbeiter von Tönnies, die einen positiven Corona-Test hatten, könnten sich bereits nach zwei Tagen "freitesten" und an die Arbeit zurückkehren. Der zuständige Landrat erklärte gegenüber dem WDR, diese Regelung sei "in völliger Übereinstimmung mit dem Ministerium in Düsseldorf passiert." Diesem gegenüber erklärte auch das Gesundheitsministerium von NRW, man habe keine Bedenken gehabt.

Die Opposition in NRW, SPD und Grüne, sehen darin einen Skandal, weil die Firma Tönnies, so der Grüne Mehrdad Mostofizadeh, "wieder einmal eine Extrawurst gebraten bekommt." Und der SPD-Politiker Josef Neumann klagt: "Keine Erzieherin keine Lehrerin, kein Mitarbeiter bei Werkstätten angepasster Arbeit wird nach zwei Tagen aus der Quarantäne entlassen."

Das stimmt, aber hier kommen wir zu der Frage, wo der Skandal eigentlich liegt. Tatsächlich werden bei Tönnies, auch das Teil der Vorwürfe, keine Schnelltests durchgeführt, sondern nur PCR-Tests, und die frühere Entlassung aus der Quarantäne ist dann möglich, wenn ein zweiter PCR-Test nach 48 Stunden negativ ausfiel oder eine geringe Viruslast zeigte.

Geringe Viruslast? Ja, tatsächlich, und Maßstab für diese geringe Viruslast ist der Ct-Wert, also die Zahl der Vermehrungszyklen, denen die Probe unterworfen wurde.

Anfang Januar seien alle Tönnies-Mitarbeiter getestet worden, auch geimpfte oder genesene. Und im Fall eines positiven Ergebnisses habe der zweite Test entweder eine zunehmende Viruslast und damit eine reale Infektionsgefahr ergeben, oder eine gleichbleibende oder abnehmende, und nur im letzteren Fall sei die Quarantäne aufgehoben worden.

RP online findet das vor allem skandalös, weil zu diesem Zeitpunkt PCR-Tests bereits nur noch begrenzt zur Verfügung gestanden hätten. Die Firma Tönnies habe also einen bevorzugten Zugriff auf knappe Ressourcen erhalten. Aber warum ist es kein Skandal, dass diese Tests überhaupt knapp sind? Warum ist es keiner, dass sie hier in Deutschland ein Vielfaches dessen kosten, was unser Nachbar Österreich dafür bezahlt?

Der Tagesspiegel liefert in seiner Berichterstattung sogar einen neuen Beitrag zum Corona-Wörterbuch: "Restpositivität." Dieses Wort soll eine Viruslast bezeichnen, die nicht mehr hoch genug ist, um ansteckend zu sein, aber immer noch per PCR-Test nachweisbar ist.

Nun ist der Ct-Wert nichts Neues. Es gibt eigentlich international gültige Vorgaben, bis zu wie vielen Vermehrungszyklen ein positives Ergebnis tatsächlich etwas aussagt; die Schwelle liegt bei maximal 30. In China, das noch dazu einen sichereren PCR-Test gebraucht, werden höhere Ct-Werte, die ja im Umkehrschluss eine niedrigere Ausgangsmenge des gesuchten Materials bedeuten, nicht mehr als positiv gezählt. Nur in Deutschland beharrte auch das Robert Koch-Institut immer darauf, den Ct-Wert völlig zu ignorieren; er wird nicht einmal aufgenommen.

Und plötzlich geht es doch. Bei Tönnies. Das mag damit zu tun haben, dass die Fleischverarbeitung auch Teil der Versorgungssicherheit ist; es mag darauf hindeuten, dass Tönnies eine enge Beziehung zur Landesregierung hat; aber vor allem besagt es eines: Man kann. Auch in Deutschland.

Eine Gesundheitsgefährdung ist bei diesem Vorgehen höchst unwahrscheinlich. Allerdings wäre das auch beiden oben angeführten Erzieherinnen, Lehrerinnen und Mitarbeitern angepasster Werkstätten nicht anders. Auch sie könnten eigentlich nach einem entsprechend unter Berücksichtigung des Ct-Werts durchgeführten zweiten Test ihre Arbeit früher wieder aufnehmen.

Nur zieht in der beginnenden politischen Debatte über diesen Fall Tönnies niemand diese Schlussfolgerung. Bei SPD und Grünen zeichnet sich nur eine leise Ahnung ab: Die Glaubwürdigkeit der Corona-Politik insgesamt stehe auf dem Spiel, fürchten die beiden Landtagsfraktionen laut WDR.

Ja, ein Tönnies-Privileg ist Unfug. Aber das, was da bei Tönnies eingeführt wurde, ist es nicht. Eine Einbeziehung des Ct-Werts in alle PCR-Tests ist schon lange überfällig; der Mangel an PCR-Tests und ihr Preis in Deutschland sind ein weiterer Skandal, nach Masken und Klinikbetten, und eine Anwendung der Regeln, die für die Beschäftigten bei Tönnies galten, wäre tatsächlich ein Schritt in Richtung auf Rationalität im Umgang mit Corona. Oder andersherum: dass in diesem Einzelfall ein solches Vorgehen möglich war, spricht eben für die Irrationalität der sonstigen Handlungsweise.

Es wäre jetzt natürlich interessant, zu wissen, ob noch in anderen Bereichen heimlich vernünftig agiert wurde, bei der Sicherung der Stromversorgung beispielsweise. Dass das Verfahren bei Tönnies vom Üblichen abwich, kam ja nur durch einen anonymen Hinweis ans Licht. Auch da wäre dann nicht dieses Vorgehen der Skandal; es handelte sich eher um einen erfreulichen Hinweis auf Restvernunft.

Aber da die Sache nun schon einmal das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat – warum nicht Tönnies für alle?

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