von Christian Harde
Die ukrainischen Oligarchen können aus ihrem temporären Exil im Westen nach Kiew zurückkehren. In den nächsten Tagen dürften wieder Dutzende von Chartermaschinen und Privatjets in der Ukraine landen, nachdem gerade erst vor wenigen Tagen ein wahrer Exodus der Schönen und Reichen aus dem Land am Dnjepr stattgefunden hatte.
Denn der vielzitierte und vielfach erwartete "Einmarsch" der Russen in die Ukraine fand doch nicht statt. Wieder einmal nicht. Die russischen Truppen kehren planmäßig in ihre Kasernen zurück. Bis auf die hörbare Enttäuschung in gewissen Kreisen war das Aufatmen darüber in West und Ost deutlich zu spüren. Die Panik, in die man sich vor allem in den NATO-Ländern während der vergangenen Tage hineingeschrieben hatte, ist im Abklingen. Doch inwieweit könnte aus der neuen, vorerst nur temporären Entspannung auch eine dauerhafte werden?
Geht man von dem Eindruck aus, den die Pressekonferenz im Anschluss an das Treffen von Präsident Wladimir Putin und Bundeskanzler Olaf Scholz hinterlassen hat, waren die diplomatischen Bemühungen der letzten Zeit durchaus von Nutzen. Zwar ist keine der über etliche Jahre aufgetürmten Zwistigkeiten auch nur ansatzweise beseitigt, doch scheinen sich Moskau und Berlin immerhin auf Verfahren geeinigt zu haben, mit denen man die leidigen Konflikte – also die Themenkomplexe Ukraine, NATO-Osterweiterung, Nord Stream 2 und Deutsche Welle/RT DE – bearbeiten möchte.
Entspannungssignale aus Moskau
Den Eingangston setzte Präsident Putin mit einer langen Aufzählung der bilateralen Projekte und deutsch-russischen Kooperationsfelder. Der russische Staatschef betonte den Willen zur umfassenden Zusammenarbeit etwa auf den Gebieten Wirtschaft, Energie, Umwelt, aber auch Wissenschaft und Bildung sowie Kultur. Angesichts der Spannungen in jüngster Zeit sollte der offensichtlich trotzdem vorhandene Wille zur Kooperation auf russischer Seite nicht zu gering angesetzt werden. Denn zu oft wurde in den letzten Jahren die ausgestreckte russische Hand von deutscher Seite ausgeschlagen. Im Vorfeld des Antrittsbesuchs von Olaf Scholz war immer wieder die Rede davon, dass Russland sich wegen der ständigen Querelen mit dem Westen – Stichwort Sanktionen – zurückziehen und verstärkt China zuwenden könnte.
Einen wenig beachteten Akzent setzte Putin mit der Feststellung, dass man sich in Bezug auf Iran und das Atomabkommen ziemlich nahe sei – kein schlechtes Signal für den Nahen und Mittleren Osten.
Immerhin strapazierte Scholz nicht über Gebühr die sattsam bekannten, der Selbstbeweihräucherung und Selbstermächtigung dienenden NATO-Floskeln von der angeblich "werte- und regelbasierten Außen- und Sicherheitspolitik". Der Kanzler griff sogar die Formel von der gemeinsamen Sicherheit auf – und dass es in Europa keine nachhaltige Sicherheit gegen, sondern nur mit Russland geben könne. Positiv festzuhalten ist auch das deutsche Bekenntnis, eine Eskalation mit aller Kraft und aller Klugheit zu vermeiden.
Klare russische Forderungen
Bleibt die Frage nach der Dauerhaftigkeit der erzielten Entspannung. Wie Putin erläuterte, wird das weitere Vorgehen Russlands von der realen Lage vor Ort abhängen. Zwar habe man vor, sich mit den westlichen Partnern zu einigen, doch es bleibe eben ungewiss, wie sich die Lage in der Ukraine entwickele. Moskau kann in der jetzigen Lage als De-facto-Schutzmacht der russischsprachigen Bewohner des Donbass – nicht nur derer mit russischem Pass in den beiden abtrünnigen Republiken – keine Versprechen abgeben, unter keinen Umständen nicht militärisch zu reagieren. Dieser Umstand wurde im Westen selbstredend prompt in der Weise ausgelegt, dass Putin doch einen Einmarsch in die Ukraine plane.
Deutlich wurde auch, dass sich die russische Seite nicht mehr mit freundlichen Worten hinsichtlich der NATO-Osterweiterung abspeisen lässt. Moskau möchte zurück zur Situation von 1997, dem Jahr der NATO-Russland-Grundakte. Auch lässt man sich nicht mehr mit vagen Erklärungen vertrösten, eine NATO-Mitgliedschaft stünde derzeit nicht zur Debatte – selbst wenn damit Jahre oder sogar ein Jahrzehnt gemeint sein könnten, wie westliche Vertreter gerne beteuern. Diese Fragen möchte Moskau endlich in einer für alle Seiten, das heißt auch russischen Sicherheitsinteressen entsprechenden Weise lösen und vertraglich festschreiben: in Verhandlungen und mit friedlichen Mitteln, wie Putin unterstrich. Gleiche Sicherheit für alle.
Die Aufforderung der Staatsduma an den Präsidenten, die Donbass-Republiken anzuerkennen, ist als letzte Mahnung an den Westen, vor allem an Paris und Berlin zu verstehen, endlich ernsthaft eine Rolle als Vermittler im Normandie-Format einzunehmen und die Einhaltung der Minsker Vereinbarungen auch von Kiew einzufordern. So, wie Kanzler Scholz in Moskau klang, scheint die Bundesregierung dies verstanden zu haben, will sie nicht jedes Ansehen in Moskau verlieren.
Doch im Laufe der Pressekonferenz blieb es nicht nur bei Freundlichkeiten. Putin hatte seinen deutschen Gast an zwei entscheidenden Stellen zu korrigieren – und zwar in Bezug auf den Jugoslawien-Krieg. Scholz hatte behauptet, dass die heutigen Europäer sich kaum noch einen Krieg vorstellen könnten und dass 1999 ein Völkermord gedroht habe, der den NATO-Krieg gegen Serbien gerechtfertigt hätte.
Dem musste Putin widersprechen: Man sei Augenzeuge gewesen, wie der Jugoslawien-Krieg von den NATO-Staaten vom Zaun gebrochen wurde. Als Scholz sich damit rechtfertigte, damals habe ein Völkermord gedroht, setzte Putin hinzu: Das, was aktuell im Donbass geschieht, sei ein Genozid. Und Putin kann sich dabei auf offizielle UN-Zahlen berufen, wonach von den rund 14.000 Toten des Bürgerkrieges in der Ukraine seit 2014 der weit überwiegende Teil in den Donbass-Republiken zu Tode gekommen ist: durch Beschuss seitens der Kiewer Armee oder paramilitärischer Verbände der ukrainischen Nationalisten und Faschisten.
Alter und neuer Unsicherheitsfaktor
Damit ist der heikle Punkt benannt, von dem eine Fortdauer der Entspannung abhängen wird. Denn es bleibt unklar, inwieweit Kiew diese irregulären Einheiten auf seinem Territorium unter Kontrolle hat. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie den permanent betonten, bedingungslosen Rückhalt Washingtons und Londons für Kiew ausnutzen könnten – für einen Angriff auf die Volksrepubliken von Lugansk und Donezk, um so ein Eingreifen Moskaus zu provozieren. Putin wäre in eine Zwickmühle gelockt: entweder die Glaubwürdigkeit als Schutzpatron russischsprachiger Ukrainer und russischer Staatsbürger auch jenseits der eigenen Staatsgrenzen zu opfern oder Sanktionen und weitere Entfremdung von den Europäern in Kauf zu nehmen.
Es bleibt zu hoffen, dass Moskau nicht vor die Entscheidung in einem solchen Dilemma gestellt wird – allein schon wegen der zu erwartenden Toten, des menschlichen Leids auf allen Seiten, der zu erwartenden Zerstörungen. Dann hätte sich die Pendeldiplomatie für die Europäer und Russland gelohnt. Der Ball liegt nun wieder bei Kiew und seinen westlichen Kuratoren, Wort zu halten und das Vereinbarte umzusetzen.
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