Ein Kommentar von Wladislaw Sankin
Die deutsch-rumänische Schriftstellerin Herta Müller schrieb über das stalinistische Lagersystem und bekam im Jahre 2006 den Literaturnobelpreis. Die ukrainisch-weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch bekam den Literaturnobelpreis im Jahre 2015 für ihre Dokumentar-Prosa. Ihr Schwerpunkt war ähnlich gelagert, deutschen Medien zufolge lag er in der Aufarbeitung von "Traumata der Sowjetdiktatur".
Nun sind die beiden Autorinnen seit Jahren befreundet und sind für die deutschsprachigen Mainstream-Medien willkommene Interviewpartner, wenn es um Thema Russland (als der angeblich "ewigen" Diktatur), um Putin oder die Ukraine geht. Da sie notorische Anhängerinnen der westlichen "Werte" sind, werden die beiden von den Medien immer wieder gern als politische Stichwortgeberinnen für einen antirussischen Kurs ausgespielt.
Anlässe gibt es ja genug – mal ist das die "Krim-Annexion", mal der Umgang Putins mit der Opposition oder dann wieder der "demokratische" Umsturzversuch in Weißrussland. Jetzt steht die Debatte über die geforderten deutschen Waffenlieferungen in die Ukraine auf der Themenliste. Das Flaggschiff des deutschen medialen Mainstreams, Der Spiegel, nimmt gleich ein mobiles Foto-Studio mit und eilt zu jener Berliner Wohnung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, die das deutsche Auswärtige Amt Swetlana Alexijewitsch zur Verfügung gestellt hat.
Nach dem Scheitern der Protestbewegung in Weißrussland im Jahr 2020 wohnt sie nun dort im Exil auf bundesdeutsche Staatkosten. Der Vorwurf der weißrussischen Behörden gegen Alexijewitsch lautet Putschversuch. Im September 2020 wurde sie zum Mitglied des Koordinationsrates der Opposition und leitete damit das geplante Prozedere einer "Machtübergabe" vom dem – in ihren Augen nicht legitimen – Präsidenten an die Opposition ein.
Doch diese Ereignisse sind heute nicht mehr das Hauptthema. Die Spiegel-Journalistin kommt bei dem Gespräch sofort zur Sache:
"Frau Alexijewitsch, Frau Müller, rechnen Sie mit einem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine?"
In diesem Teil des Gesprächs erweist sich Alexijewitsch als nicht eindeutig genug. Sie verweist auf ihre Verwandten in der Ukraine und sagt, dass die meisten dort das Gefühl haben, dass es dort keinen Krieg geben werde. Als erfahrene "Putinologin" sagt sie zur Motivation des russischen Präsidenten: "Er will in aller Munde sein."
Hier ergreift Herta Müller das Wort. Damit ist sie nicht einverstanden. Sie empfinde vielmehr Angst, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Putin habe die Ukraine zerstückelt und sorge seit Jahren dafür, dass alle Osteuropäer Angst haben müssten. Auf die Unterstützung russischer Wähler für den Präsidenten angesprochen, erklärt sie: "In allen Diktaturen liebt das Volk den Diktator", obwohl er gegen das Volk regiere. Und sie präzisiert dann noch:
"Putin ist kriminell sozialisiert und kennt keine anderen Mittel als zu lügen, zu fälschen, zu erpressen."
Der Spiegel hebt dankbar diese Aussage als Kernzitat des Artikels hervor. In diesem Teil des Interviews dominiert Herta Müller. Auf die Zweifel der Spiegel-Journalistin, ob es denn angemessen sei, Putin ein Diktator zu nennen, sagt sie:
"Stalins Lagersystem wirkt in Russland bis heute. Gerade wurde die Menschenrechtsorganisation Memorial aufgelöst, weil die Erinnerungen an die Verbrechen im Gulag tabu sind."
An anderer Stelle des Interviews urteilt sie über den russisch-weißrussischen Unionsstaat:
"Es ist ein Fluch, mit Russland benachbart zu sein."
Das ist ok. Eine Nobelpreisträgerin für Literatur darf ja hetzen. Wenn sie als moralischer Kompass etwas schlimm findet, dann muss das wohl tatsächlich so sein. Und Der Spiegel hält solche Sprüche offenbar für einen schönen Erfolg. Denn sie sind erwünscht. Sonst müsste der Redakteurin die offenkundige Lüge der Schriftstellerin auffallen, die Erinnerungen an die Verbrechen im Gulag seien in Russland angeblich tabu.
Das ist schlicht und einfach nicht der Fall. Das zeigen Museen, und es wurden Gedenkstätten eröffnet, Fernsehserien über die Opfer des Stalinismus im Fernsehen zur besten Sendezeit ausgestrahlt. Und eine Vielzahl von Büchern darüber geschrieben. Müller wird von ihrer Freundin mitten im Gespräch beiläufig widerlegt, als diese erwähnt, dass manche Leute in Russland trotz des erdrückenden informationellen Angebots wenig eigenes Interesse an dem Thema haben:
"Die Menschen, die jetzt arm sind, interessieren sich nicht so sehr für die Verbrechen der Sowjetzeit, sie gehen an den Bergen von Büchern zu diesem Thema gleichgültig vorbei. Ich habe das einmal erlebt, als ich während einer Lesung in Russland über den Gulag gesprochen habe."
Diese Peinlichkeit, die für einen aufmerksamen Leser sofort zum Zeichen der extremen Voreingenommenheit von Müller und ihrer Unglaubwürdigkeit wird, fällt dem Spiegel gar nicht auf. Sonst hätte die Redakteurin entweder an dieser Stelle bei Müller nachgefragt oder ihre fragwürdige Äußerung besser gestrichen. Das gehört sich im Journalismus, wenn ein Medium nicht selbst als Quelle von Falschinformationen dastehen will. Es sei denn, Der Spiegel wollte heimlich, aber mit Absicht Müller soeben vorführen und als eine radikale Schwätzerin bloßstellen. Aber das ist natürlich leider Quatsch.
Nach einer Reihe von Fragen zur Vergangenheit vor und nach dem sogenannten "Mauerfall", kehrt die Spiegel-Journalistin zum eigentlichen Thema und Anliegen des Gesprächs zurück: zu den Waffenlieferungen in die Ukraine. Sie ahnt sicher schon, dass die beiden Autorinnen allzu gern ihr "Ja" dafür aussprechen würden. Aber sicherheitshalber stellt sie gleich die einleitende Frage so suggestiv, dass jedem neutralen Leser sofort klar werden kann, welche Antwort gewünscht ist:
"Nazi-Deutschland hat fürchterliches Leid über die Länder des Ostens gebracht. Können Sie verstehen, warum die deutsche Regierung auf Diplomatie setzt und keine Waffen in die Ukraine schicken möchte?"
Mit dieser Fragestellung greift sie direkt auf die Argumentation des ukrainischen Botschafters in Deutschland zurück, die von ihm seit Langem in allen Medien landauf, landab zu vernehmen ist. Deutschland müsse sich zur Ukraine wie schon zu Israel verhalten und allein schon aus historischer Verantwortung die Ukraine vor Russland auch mit Waffen schützen. Andrej Melnyk ist seit vielen Jahren ein fester Bestandteil des deutschen Politik-Betriebes und eloquentes Sprachrohr aller antirussischer Falken, die selbst öffentlich nur ungern als solche bezeichnet werden wollen. Mit dieser Frage hat Der Spiegel nun noch eine weitere Prominente an seine Seite gehievt – die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. Das zögerliche Berlin bekommt von der "Meisterin der poetisch exakten Sprachbilder" (ihre Charakterisierung im Spiegel) eine richtige Abfuhr:
"Das (Diplomatie) ist doch eine Ausrede, mit der man jetzt nicht kommen sollte. Was haben wir denn in den Neunzigerjahren in Ex-Jugoslawien gemacht, aus guten Gründen? Wir haben militärisch ausgeholfen. Gerade die Deutschen mit ihrer Geschichte müssen der Ukraine helfen. Was wollen die deutschen Politiker jetzt der Ukraine schicken? Helme? Das ist doch eine Blamage vor der ganzen Welt! Wollen sie vielleicht als Nächstes Fencheltee schicken? (Müller zeigt auf die Packung auf dem Tisch). Oder Särge für die gefallenen ukrainischen Soldaten?"
Die Äußerung der neuen Bundesaußenministerin Annalena Baerbock "Wer redet, schießt nicht", hält die Schriftstellerin für einen "dummen, abgenutzten" Satz:
"Geredet wird immer, auch wenn geschossen wird."
Damit hat die Nobelpreisträgerin, die eine völkerrechtswidrige NATO-Bombardierung Jugoslawiens als "militärische Aushilfe" verharmloste, eindrücklich bekannt, dass für sie das "Schießen" eher ein Zustand der Normalität sei.
"Alle (wer?!) schauen besorgt auf Deutschland. Die Ukrainer müssen sich verteidigen können."
In diesem Moment scheint der Spiegel-Redakteurin offenbar auch die bis dahin eher zurückhaltende Alexijewitsch genug vorgeheizt zu sein. Die Frage richtet sich nun direkt an sie: "Frau Alexijewitsch, wie sehen Sie das? Sollte Deutschland der Ukraine mit Waffen zur Selbstverteidigung aushelfen?"
"Ja, natürlich. Die Ukraine sollte aus diesem Konflikt als Sieger hervorgehen, das ist wichtig für die Demokratie in der Ukraine und auch in Belarus. Ich war mal in der Ukraine, zu einem Zeitpunkt, als durch die Straßen des Landes diese Kühllastwagen gefahren sind mit den Leichnamen der ukrainischen Soldaten, die im Donbass gekämpft haben. (...) Es war ein erschütternder Anblick. Diese Jungs waren einfach von den russischen Söldnern direkt erschossen worden. Ich denke, die deutschen Politiker, die die Jungs damals schon nicht mit Waffen ausgestattet haben, sollten solche Szenen kennen, um zu verstehen, was jetzt zu tun ist."
Offenbar übertrifft diese gelungene Antwort alle Erwartungen. Solch eine beherzte Unterstützung von einer moralischen Größe wie Frau Alexijewitsch! Von der Frau, die einmal das Buch schrieb "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht". Eine bessere Begründung für Waffenlieferungen in die Ukraine hätte man sich kaum wünschen können. Der Spiegel hebt diese Hauptaussage in einem Schriftkasten hervor und titelt: "Die deutschen Politiker blamieren uns vor der ganzen Welt"
Waffen für den Kampf gegen wen? Gegen böse "Separatisten"? Gegen Russland? Gegen Terroristen vielleicht? Alles in einem, alles ist Böse! Auch Lukaschenkos Weißrussland nennt Alexijewitsch "einen Terrorherd" und betont: "Ohne die Unterstützung des Westens können wir nicht gewinnen." Diese beiden "humanistische" Ikonen des Westens nennen jene von Nationalismus getriebene ukrainische Kämpfer, die den faschistisches Mordaufruf "Tod den Feinden" nun als ihre offizielle Parole skandieren dürfen, diese "Jungs, die unsere Waffen brauchen".
Es ist schauderhaft, wie Menschen, die von ihrem Beruf und ihrer gesellschaftlicher Stellung her eigentlich der Suche nach Wahrheit verpflichtet sind, die Realität verdrehen und offensichtliche Tatsachen leugnen. Sie legen primitives Schwarz-Weiß-Denken an den Tag und stacheln auf, anstatt zu vermitteln, zu beschwichtigen. Als ob es in der Welt noch nicht genug Hitzköpfe gibt!
Am besten sollten sie gar eine gewisse Überparteilichkeit verkörpern, natürlich nur, wenn sie keine "Parteikunst" erzeugen wollen. Doch diese haben ihre "Partei" bereits gewählt – und diese ist die Partei der Kindermörder. Nach einem verfassungswidrigen Befehl des "Interimspräsidenten" Alexander Turtschinow kamen ihre "Jungs" in die aufständische Region in der Ostukraine mit Panzern und töteten seit April 2014 knapp 3.000 Zivilisten, darunter bis zu 150 Kinder und Jugendliche, und mehr als 6.000 freiwillige Kämpfer der Volksmiliz durch Luftangriffe, Minen, Artillerie und Handfeuerwaffen.
Das haben sie praktisch vor den Augen der OSZE getan. Genauso haben sie vor den Augen der OSZE auch tausende Häuser und Objekte der Infrastruktur zerstört oder schwer beschädigt. Es ist nicht so, dass diese Verbrechen unbekannt sind. Die Behörden in den abtrünnigen Gebieten sammeln die Beweise dafür und schicken sie an internationale Organisationen.
Doch Alexijewitsch trauert ausschließlich um ukrainische Soldaten – und jene Zivilisten, denen diese Soldaten möglicherweise das Leben nahmen, sind ihr egal. Etwa weil sie zu einer von der Diktatur "traumatisierten" Menschengattung gehören? In ihren Interviews wird sie nicht müde zu betonen, dass die Leute in den postsowjetischen Ländern mit der Freiheit gar nicht umgehen können. Das macht sie offenbar in ihren Augen nicht zu vollwertigen Mitmenschen. Aus dieser Perspektive gesehen, sind die ukrainischen Soldaten diejenigen "Übermenschen", die sich über ihre vermeintliche "Traumata" entwickelt haben und ihren "rückständigen" Zeitgenossen die wahre Freiheit und Demokratie mit Waffen in der Hand beibringen.
Und diese Menschen hatten die Chuzpe diese Leistung nicht schätzen gelernt zu haben. Im tragischen Frühling des Jahres 2014 haben Hunderte von ihnen vielerorts in der Ostukraine versucht, mit bloßen Händen auf sie zurollende ukrainische Panzer aufzuhalten. Deren Bilder hätten alle Chance zu ikonischen Bildern des Widerstands gegen Militanz und Nationalismus zu werden, ähnlich wie das Bild jenen tschechischen Studenten, der sich während des "Prager Frühlings" 1968 vor sowjetische Panzer stellte. Doch das Gegenteil ist passiert. Der Westen schaut nicht nur weg von diesen Bildern. Accounts bei Youtube und Facebook, die diese Bilder verbreiten, werden systematisch gelöscht, ausgelöscht.
Und so wird eine Orwellsche Blase der vorgegebenen "Wahrheit" geschaffen, wo Frieden Krieg ist und umgekehrt. In der zynischen Welt des Westens, wo der vom Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees zitierte Antikriegs-Song John Lennons "Give Peace a Chance – Gib dem Frieden eine Chance" sofort verhöhnt wird, ist das kein Wunder. Die Träger der wohl höchsten Literaturauszeichnung weltweit werden in dieser verkehrten Welt von den Medien als militante Hetzer hofiert und als Aushängeschild für Waffenlieferungen missbraucht.
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