Von Konstanten und Variablen in der Russlandfrage
Ein Kommentar von Dr. Karin Kneissl
Als ich vor bald 40 Jahren in der Schule einst im Geschichtsunterricht lernte, dass im Ersten Weltkrieg der deutsche Generalstab eine Geheimoperation organisiert hatte, um den Kommunisten Lenin aus seinem Genfer Exil in einem plombierten Zug nach Sankt Petersburg zu bringen, war ich von diesem Kapitel des Ersten Weltkriegs fasziniert. Seither stand ich stets unter dem Eindruck, dass es sich um eine spontane Operation zwecks Befriedung der sogenannten Ostfront gehandelt hatte. Die tatsächlichen Folgen waren die Oktoberrevolution und der Zusammenbruch Russlands.
Das kriegerische Schachbrett des Helphand alias Parvus
Erst bei der Lektüre des Buches "Geheimakte Parvus – Die gekaufte Revolution" der Wiener Historikerin Elisabeth Heresch aus dem Jahr 2000 wurde mir klar, wie lange ein Umsturz in Russland bereits vorbereitet worden war. Es handelte sich geradezu um eine feste Agenda der Außenministerien in Wien und Berlin. Den Habsburgern ging es in ihrer traditionellen Rivalität mit den russischen Zaren vor allem um ihre Macht auf dem Balkan. Der ausschlaggebende Lobbyist für diese ausländische Einmischung in Russland war der Minsker Israil Lasarewitsch Helphand, der sich später Alexander Parvus nannte. Als Publizist und vor allem als Financier diverser revolutionärer Zirkel in Europa, aber auch im Osmanischen Reich zog er ab den 1890er-Jahren viele Fäden. Auf seinem Schachbrett bewegte er die Figuren Lenin und Trotzki, aber auch die revolutionären Jungtürken.
Heresch beschreibt anhand profund recherchierter Dokumente die Intrigen der europäischen Diplomatie, die zum Ziel hatte, Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Anarchie zu stoppen und das Land und dessen Bevölkerung abzuservieren. Es handelte sich also nicht um eine Ad-hoc-Entscheidung, den ins Abseits geratenen extremen Bolschewiken Lenin nach Russland zu verfrachten, wo an sich die pragmatischen Menschewiki die Oberhand hatten. Vielmehr handelte sich um den letzten Stein eines seit langem aufgebauten Geröllhaufens, der Europa erst gehörig aufwirbeln und später unter sich begraben sollte. Der deutsche General Erich Ludendorff schrieb 1917: "Lenins Eintritt in Russland geglückt. Er arbeitet völlig nach Wunsch." Parvus mischte hierbei stets mit. Er zog nicht nur die Fäden und platzierte seine Figuren auf dem politischen Schachbrett, sondern verdiente damit auch noch Millionen von Geldern. Sein Plan, später dem revolutionären Kabinett Lenins als Minister anzugehören, ging allerdings nicht auf.
Einmischung einst und jetzt
"Es wird nur durch innere Unruhen gelingen, den russischen Koloss ins Wanken zu bringen", schrieb der Wiener Diplomat Alexander Hoyos im September 1914. Einige Wochen zuvor hatte der greise Kaiser Franz Joseph eine Kriegserklärung an Serbien übermitteln lassen. Der Text gründete auf Falschmeldungen und die Welt taumelte in den großen Krieg. Alle Versuche des russischen Zaren Nikolaus II. insbesondere mit Depeschen an den deutschen Kaiser Wilhelm II., seinen Cousin, um ihn noch zu einer diplomatischen Lösung zu bewegen, schlugen fehl. So schlug der Zar vergeblich vor, anhand einer genauen juristischen Untersuchung den Sachverhalt rund um das Attentat von Sarajewo zu klären. Die beiden Cousins Niki und Willi korrespondierten übrigens oft in englischer Sprache.
Auch die österreichische Diplomatie erwies sich als besonders aktiv in ihrem Engagement, in Russland revolutionäre Bewegungen auch mit Blick auf die Bildung eines ukrainischen Staates zu fördern. So zitiert Heresch in der Parvus-Biographie Berichte wie den Folgenden: "Zugleich mit Beginn des Krieges Österreich-Ungarns mit Russland hat die österreichische Regierung Maßnahmen ergriffen, um in Russland revolutionäre Unruhen zu entfachen. Zu diesem Zweck haben österreichische Politiker einigen russischen politischen Emigranten, die sich in Österreich aufhielten, angeboten, nach Russland auszureisen – nachdem man sie mit falschen Pässen ausgestattet hatte – und dort revolutionäre Propaganda zu betreiben; diesen Personen wurden auch entsprechende Geldbeträge angeboten."
Parallel wurde besonders von Wien und Lausanne aus mittels Publikationen wie dem "Bund" an einer Loslösung der Ukraine gearbeitet. Es ging darum, "das ukrainische Volk ein für alle Mal vom russischen Joch zu befreien".
Heresch schreibt weiter, dass diese "Proklamationen bei russischen Sozialisten extrem negativ ankamen, und zwar hauptsächlich dank dem Umstand, dass die Käuflichkeit ihrer Urheber so deutlich zum Ausdruck kam".
So manche Parallele mag sich angesichts der aktuellen Nachrichtenlage aufdrängen, bei der richtig von falsch kaum zu unterscheiden ist. Seinen Anfang nahm diese mediale Maschinerie im Oktober mit einem Bericht der Washington Post über russische Truppenbewegungen auf russischem Staatsgebiet, welche die Ukraine offenbar weniger in Aufregung versetzten als die NATO.
Angesichts westlicher Berichte über einen drohenden russischen Einmarsch in die Ukraine und mit Blick auf den Abzug von Diplomaten riefen Regierungsvertreter in Kiew unterdessen zur Ruhe auf. So sagte Alexei Danilow, der Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats der Ukraine, am Montag nach einer Sitzung des Gremiums vor Journalisten:
"Wir sehen zum heutigen Tag überhaupt keine Anhaltspunkte für die Behauptung eines großflächigen Angriffs auf unser Land."
Die EU-Außenminister hingegen zeigten sich am Montag päpstlicher als der Papst, indem sie Folgendes verkündeten: Jede weitere militärische Aggression gegen die Ukraine werde "massive Konsequenzen und hohe Kosten" nach sich ziehen. Dazu gehöre eine breite Palette von Sanktionen gegen Wirtschaftssektoren und Personen. Die Arbeiten an den Vorbereitungen dieser Sanktionen seien beschleunigt worden.
Gefährliche Eigendynamik
Auf EU-Ebene ist wie so oft ein Berg von Wörtern angehäuft worden, der nun weitergeschoben und gebetsmühlenartig wiederholt wird, ohne dass sich jemand noch traut, laut und selbstständig zu reflektieren. Wir kennen diese Rituale aus vielen anderen Dossiers – ob aus dem Nahen Osten oder Südosteuropa.
Es scheint fast, dass im NATO-Hauptquartier und im US-Kongress, wo es von Lobbyisten aus dem Energiebereich wimmelt – und ja, es geht auch noch immer um Nord Stream – oder eben in den EU-Räten die Kriegsberichterstattung bereits intensiver ist als in der Ukraine oder in Russland. Diese Mischung aus Propaganda wie in Meldungen aus Großbritannien, in denen von russischen Marionettenregierungen in Kiew und einer handfesten Mobilmachung sowie von Tausenden US-Soldaten an dieser neuen, künstlich geschaffenen Ostfront die Rede ist, ist hochexplosiv. Anders als vor rund 100 Jahren zieht kein perfider Parvus die Fäden, wie ihn die Historikerin Heresch faszinierend beschreibt. Vielmehr kochen viele skrupellose Köche einen Brei, an dem sich noch viele den Mund verbrennen können. Eine Kombination aus Arroganz und Ignoranz hat immer nur Chaos gestiftet.
Die Geschichte Russlands kennt ihre Konstanten, die unter anderem die Geographie bestimmt. Aber sie hat auch ihre Variablen – und diese bestimmen die handelnden Personen.
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