von Dagmar Henn
Man kann es schon nicht mehr hören, das beständige Geschrei, Russland würde Gaslieferungen als "Druckmittel" nutzen und das arme "Europa" erpressen. Wenn man sich die Entwicklung der letzten Jahre betrachtet, ist es im Grunde anders herum. Denn die Tatsache, dass Russland inzwischen auf die europäischen Abnehmer auch verzichten könnte, ist die Konsequenz hiesiger Versuche, genau das zu tun, was Russland vorgeworfen wird: den Handel mit Gas als politisches Druckmittel zu nutzen.
Spulen wir zurück ins Jahr 2014. In der Ukraine kommt, mit massiver westlicher Unterstützung, eine rechtsradikale, russland- und russenfeindliche Regierung an die Macht und stürzt das Land in Windeseile in einen Bürgerkrieg, der bis heute andauert. Die Schuld für diesen Bürgerkrieg wird aber vom Westen nicht dieser Regierung angelastet, die gegen die Proteste im Südosten mit militärischer Gewalt vorging, sondern Russland. Und es gibt, auch in Deutschland, politische Forderungen, sich vom russischen Gas "unabhängig" zu machen.
Es waren diese Forderungen, die den europäischen, auch den deutschen, Gasmarkt plötzlich unberechenbar machten, obwohl Russland (wie zuvor die Sowjetunion) noch nie politische Bedingungen für Lieferungen gestellt hatte. Ein vernünftiger Anbieter zieht natürlich Konsequenzen, wenn ein wichtiger Kunde droht, unzuverlässig zu werden, und sieht sich nach anderen Absatzmöglichkeiten um. Genau das ist geschehen – die Erdgaslieferverträge mit China haben ihren Ursprung genau in diesem Moment, so wie auch die Planungen für South Stream, die Pipeline, die inzwischen die Türkei und Südosteuropa beliefert.
Die russischen Gaslieferungen gingen trotzdem zuverlässig weiter, auch dieses Jahr, und wurden sogar erhöht. Aber die hiesigen Beteiligten haben noch nicht wirklich begriffen, dass sich die Gesamtsituation durch die neuen Abnehmer grundsätzlich geändert hat. Wenn die Bundesregierung entscheiden sollte, Nord Stream 2 nicht zu aktivieren, dann schadet das nur Deutschland.
Das russische Gas geht dann nach Asien. Oder noch lustiger – es wird auf US-Tankschiffe verladen, die es dann als amerikanisches Gas, gegen ordentlichen Aufpreis versteht sich, in Westeuropa anlanden. Die Einzigen, die darunter leiden, sind die westeuropäischen Abnehmer, die entweder überzogene Preise zahlen müssen oder gar mit einer unsicheren Gasversorgung leben.
Man will die Kuh melken ...
Besonders lustig wird das Ganze durch die Maßnahmen der EU, die den Gasmarkt "liberalisiert" hat. Im ersten Schritt entstanden hunderte kleiner "Gasversorger", die nur virtuell – nicht technisch – über Gas verfügen, weil sie weder welches erzeugen noch speichern und auch kein eigenes Verteilungsnetz besitzen; Unternehmen, deren einzige tatsächliche Leistung in der Erstellung einer Rechnung besteht.
Im zweiten Schritt wurde Erdgas zum Spekulationsobjekt gemacht. Dabei geht es nicht primär darum, tatsächlich mit Gas zu handeln; wie auf allen solchen "Märkten" werden die wirklichen Gewinne mit Derivaten erzielt – mit Optionen, eine bestimmte Menge zu einem bestimmten Zeitpunkt für einen bestimmten Preis kaufen oder verkaufen zu können.
In einem gewissen Maß ergibt solch ein Optionshandel auch einen Sinn, nämlich bei saisonalen Produkten, um Schwankungen zu verringern. Erdgas ist aber kein saisonales Produkt wie etwa Getreide; die jahreszeitlichen Schwankungen in der Verbrauchsmenge ändern nichts an den festen technischen Vorgaben eines Systems korrespondierender Röhren, das beständig gleiche Druckverhältnisse braucht; der künstlich geschaffene "Markt" führt dazu, Preisschwankungen entstehen zu lassen, die es ohne ihn nicht gäbe, da die Menge an Gas, die vorhanden ist, nur von einem Faktor abhängt – von der Menge, die ins Netz eingespeist wird. Die Einführung eines Tagesmarkts für Erdgas dient keinem anderen Zweck, als ein zusätzliches Feld für Spekulationen zu schaffen.
Der Grund für die Einführung neuer Spekulationsfelder ist nach wie vor die Finanzkrise 2008. Die Antwort der Zentralbanken bestand darin, schlicht den Geldhahn weiter aufzudrehen, wobei dieses Geld – weil es eben nicht in Investitionen floss, sondern an die Banken – die Menge des "beschäftigungslosen" Geldes in den Händen jener, die ohnehin schon zu viel davon besaßen, weiter erhöhte.
Erdgas ist – wie Strom – ein natürliches Monopol. Die Vertriebsstruktur, die vor den ganzen Liberalisierungen bestand, ist letztlich die vernünftige und kostengünstigste – die Betreiber des Netzes vor Ort wie auch die Lieferanten an die Endkunden waren kommunale Unternehmen, die schlicht nach dem Prinzip der Kostendeckung betrieben wurden.
Mittlerweile gilt auch bei den verbliebenen kommunalen Lieferanten die Anforderung, Gewinne zu erzielen; diese Vorgabe findet sich in den Gemeindeordnungen der Länder, teilweise sogar mit einer Festlegung, wie hoch dieser Gewinn mindestens sein muss. Es ist diese Vorgabe, die die virtuellen Gaslieferanten überhaupt möglich macht, weil sie gegen Betriebe, die auf Kostendeckung arbeiten, nicht konkurrenzfähig wären.
Spekulation mit Erdgas ist nicht moralischer als Spekulation mit Nahrungsmitteln, soviel sollte klar sein. Ebenso klar ist, dass jeder Spekulationsmarkt zu künstlichen Verknappungen neigt, sofern es Marktteilnehmer gibt, die die Macht haben, eine solche Verknappung auszulösen.
Das ist in diesem Fall eindeutig nicht Russland, das immer Wert auf langfristige Verträge mit festen Preisen legt. Aber die Käufer des russischen Gases haben diese Möglichkeit. Anders formuliert – die großen Vertreiber machen mehr Gewinn, wenn sie durch leere Speicher die Preise in die Höhe treiben. Ihre Aufgabe ist schließlich vor allem, ihren Eigentümern Gewinne zu verschaffen. Wenn durch die hohen Preise einige Mitbewerber wieder vom Markt gefegt werden, ist das nur förderlich.
Die Spekulation führt auch zu solchen Phänomenen wie dem Revers-Betrieb auf der Jamal-Pipeline. Technisch ist es klar, dass er durch ein deutsches Unternehmen passieren muss. Gas fließt von A nach B durch ein Druckgefälle; dieses Druckgefälle entsteht, indem das Gas am Punkt A unter höheren Druck gesetzt wird. Im Falle von Jamal ist im Normalbetrieb der Endpunkt in Deutschland, und der höhere Druck wird in Russland erzeugt. Wenn keine Lieferung erfolgt, ist die Pipeline nicht leer, sondern bleibt auf dem Druckniveau gefüllt, das am Endpunkt benötigt wird. Ein Revers-Betrieb kann also gar nicht von der russischen Seite her in Gang gesetzt werden, sondern nur von der deutschen, indem dort Gas mit entsprechendem Druck eingespeist wird.
Wenn derzeit Erdgas im Revers-Betrieb über die Jamal-Pipeline nach Polen (und manche vermuten sogar, bis in die Ukraine) geliefert wird, wird es von einem deutschen Lieferanten aus den hiesigen Lagerbeständen entnommen. Entweder, weil besagter Lieferant davon profitieren will, die Spotmarktpreise einzustreichen, oder weil man unbedingt die Ukraine stützen will. Es wäre allerdings auch denkbar, dass dieses Erdgas nur in angemietete Speicher der Ukraine fließt, damit es erst einmal aus der Wahrnehmung der hier vorhandenen Vorräte verschwindet und die Preise somit noch weiter steigen können.
... und gleichzeitig schlachten.
Politische Spielchen haben massiv zu den gegenwärtigen Problemen beigetragen. Polen beispielsweise hat sich bemüht, – selbst um den Preis höherer Kosten – zumindest so zu tun, als beziehe es kein Erdgas aus Russland. Nord Stream 2 ist aus rein politischen Gründen noch nicht in Betrieb und soll, geht es nach den USA und den Grünen, nie in Betrieb gehen. Stattdessen soll weiter die ukrainische Pipeline genutzt werden.
Die ukrainischen Transitleitungen aber sind aus reiner politischer Arroganz so marode, dass sie mindestens ein Fünftel des durch sie transportierten Gases unterwegs durch Lecks verlieren. Die Investitionen, die Leitungen zu modernisieren, kann das Land nicht finanzieren; Versuche dafür von europäischen Investoren scheiterten zweimal.
"Eine umfassende Modernisierung der Transitpipelines unter Beteiligung ausländischer Investoren wurde regelmäßig diskutiert, konnte aber nie verwirklicht werden. Erste Verhandlungen begannen 2002 zwischen Russland und der Ukraine unter Einbeziehung des deutschen Unternehmens Ruhrgas (mittlerweile Teil von Uniper). 2009 wurde ein größeres Konsortium unter Einbeziehung mehrere westeuropäischer Energiefirmen von Ruhrgas und Wingas (BASF) in Deutschland über die italienische ENI und österreichische ÖMV bis zur französischen GDF Suez diskutiert. In der Ukraine gab es Vorbehalte, Russland an strategisch wichtiger Infrastruktur zu beteiligen. Westliche Investoren benötigten aber die Transitzusagen Russlands, um ihre Investitionen abzusichern."
Das schreibt ein sehr ukrainefreundlicher Autor, Heiko Pleines, in einer Analyse vom November. Seit zwanzig Jahren steht also fest, dass diese Transitleitung erneuert werden müsste, und es scheiterte an der Russophobie der Ukraine (die, auch das darf man nicht vergessen, vom Westen, auch aus Deutschland, aus geopolitischem Interesse massiv gefördert wurde).
In diesen zwanzig Jahren hat sich der Zustand immer weiter verschlechtert; wenn aus Russland die Aussage kommt, höhere Lieferungen auf dieser Strecke seien gar nicht möglich, da die Leitung dem Druck nicht mehr standhalten könne, sollte man das nicht leichtfertig abtun. Die Behauptung, diese marode Pipeline könne problemlos an die Stelle von Nord Stream 2 treten, um die Versorgung in Deutschland zu sichern, ist mehr als blauäugig. Das Konsortium, das sich 2009 um eine Modernisierung der Druschba/Sojus-Trasse durch die Ukraine bemühte, ist exakt identisch mit dem, das am Bau von Nord Stream 1 und 2 beteiligt war. Sprich, die Entscheidung der Investoren für diese Strecke war das Ergebnis des Scheiterns an der ukrainischen Politik.
Die ukrainische Kleptokratie wurde und wird gehätschelt, um Russland unter Druck setzen zu können. Dafür übersieht man auch gerne mal den Aufmarsch ukrainischer Truppen im Donbass, im Jahre 2014 ebenso wie auch 2021. Ein Ziel der ganzen Unternehmung Maidan war es, Russland mit der Drohung erpressen zu können, kein Erdgas mehr abzunehmen, in der Erwartung, damit die russische Wirtschaft zu treffen. Dumm gelaufen. Hätte es diese Erpressungsversuche nicht gegeben, wären jetzt nicht weitere Pipelines nach China im Bau und würde Russland nicht darauf hinarbeiten, künftig ein Drittel seines Erdgases als LNG zu exportieren, was noch ganz andere Abnehmer z.B. in Lateinamerika ins Spiel bringt.
Die Energiewende sorgt nun durch die zu erwartende höhere Nachfrage nach Erdgas dafür, dass nicht nur die politische Erpressung durch die EU unmöglich geworden ist. Der Machtwahn, der die westeuropäische Führungsriege nicht weniger an der Wahrnehmung geopolitischer Verschiebungen hindert wie die US-amerikanische, hat den Westen des Kontinents und insbesondere Deutschland in eine echte Zwangslage manövriert. Die Rechnung zahlen die einfachen Bürger, vor denen die eigene Verantwortung mit lauter Beschuldigung Russlands verborgen wird.
Das EU-Europa hat unter Berliner Führung aus schierer geopolitischer Arroganz mit großem Aufwand eine tiefe Grube gegraben und ist selbst hineingefallen.
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