Meinung

Frankreichs Blicke gen Osten: Was die Position des Elyseé gegenüber China für die EU bedeutet

Während Frankreich bilaterale Abkommen mit China unterzeichnet und die EU-Ratspräsidentschaft Ende dieses Jahres auf Paris übergeht, mag der Blick Europas hauptsächlich nach Westen über den Atlantik gerichtet bleiben. Aber die kurzen Blicke nach Osten werden immer länger.
Frankreichs Blicke gen Osten: Was die Position des Elyseé gegenüber China für die EU bedeutetQuelle: www.globallookpress.com © Gwendoline Le Goff, via www.imag

Eine Kommentar von Bradley Blankenship

Letzte Woche kündigten die Vereinigten Staaten einen "diplomatischen Boykott" der Olympischen Winterspiele 2022 in Peking an, wegen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen der chinesischen Regierung. Auch eine Handvoll westlicher Länder folgten diesem Beispiel. Bemerkenswert ist, dass sich mit Frankreich einer von Amerikas ältesten Verbündeten dem "unbedeutenden" Boykott nicht angeschlossen hat, wie es der französische Präsident Emmanuel Macron formulierte. Dies liegt nicht daran, dass Frankreich grundsätzlich gegen einen solchen Schritt wäre – und die EU arbeitet derzeit anscheinend an einem kollektiven Ansatz –, sondern an der Art und Weise, wie die USA ihn inszenieren.

Darüber hinaus hatte Frankreich zusammen mit China einen Termin für den achten hochrangigen chinesisch-französischen Wirtschafts- und Finanzdialog angekündigt. Dieser endete diese Woche damit, dass beide Seiten eine Vereinbarung unterzeichneten, und zwar über die Aufrechterhaltung französischer Schweinefleischexporte im Falle einer Afrikanischen Schweinepest (ASP), was für die französische Seite ein wichtiger Knackpunkt innerhalb des Aktionsplans für die französisch-chinesischen Beziehungen vom November 2019 war.

Diese Vereinbarung mag auf den ersten Blick trivial erscheinen, ist es aber nicht. Das liegt daran, dass allein im Jahr 2019 das ASP-Virus schätzungsweise 40 Prozent der chinesischen Schweinepopulation befiel, was einen wirtschaftlichen Schaden verursachte, der auf etwa 0,78 Prozent des chinesischen BIP geschätzt wurde. Andere Länder, wie zum Beispiel die Tschechische Republik, erlebten einen Inflationsschub, der teilweise auf die steigenden Preise für Schweinefleisch auf dem Weltmarkt zurückzuführen war. Als es China und anderen asiatischen Nationen endlich gelang, die Ausbrüche von ASP in den Griff zu kriegen, musste China Importe aus Ländern verbieten, die ihre eigenen Probleme mit dem Virus hatten, darunter Deutschland. Dies hatte wiederum Auswirkungen auf die landwirtschaftlichen Erzeuger in diesen Ländern. 

Dieses bilaterale Abkommen zwischen Frankreich und China kommt im Wesentlichen einem Abkommen über Lieferketten gleich, das eine engere Integration und Kommunikation zwischen beiden Seiten vorsieht. Es zielt eindeutig darauf ab, den französischen Produzenten dabei zu helfen, unnötige Handelsbarrieren zu überwinden und den Inflationsdruck zu verringern, der für einen Großteil der Welt bereits unerträglich wird. Dieses Abkommen könnte ohne Weiteres auch für andere EU-Länder repliziert werden. Die Verlautbarung zum Abkommen selbst macht deutlich, dass dies nur ein Beispiel von vielen ist, an dem Frankreich, China und die EU insgesamt zusammenarbeiten könnten. 

Der französische Minister für Wirtschaft, Finanzen und Wiederaufbau, Bruno Le Maire, wurde mit den Worten zitiert: "Dieses Abkommen ist das erste seiner Art, das China zugunsten eines Landes der Europäischen Union unterzeichnet hat. In diesem Sinne ist es beispielhaft und ein Vorläufer für weitere Abkommen in anderen Sektoren und mit anderen Ländern."

Laut der Global Times sind bereits einige in Arbeit. Das chinesische Finanzministerium sagte nach dem Dialog, dass man französische Finanzinstitute begrüßen würde, die hundertprozentige Wertpapierfirmen in China gründen wollen. Die beiden Seiten diskutierten auch eine Reihe weiterer Themen, darunter eine bilaterale zivile Nuklearpartnerschaft, die Förderung der Ausstellung von Zertifizierungen für französische Flugzeuge und gemeinsame Umweltprojekte.

Da Paris in der ersten Hälfte des nächsten Jahres den Vorsitz im Europarat übernehmen wird, ist der pragmatische Umgang Frankreichs mit China im Gegensatz zu einer offenen Konfrontation bemerkenswert. Zum einen war dieser jüngste Dialog mit Peking eindeutig als eine leichte Brüskierung gegenüber Washington konzipiert – oder zumindest wird er als solche verstanden –, das von seinen Verbündeten ständig verlangt, dass sie ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen opfern, um dem neuen Kalten Krieg gegen China und Russland beizutreten.

Dass Frankreich innerhalb weniger Tage mit der Unterzeichnung eines bilateralen Abkommens mit China vorpreschte, dazu ein Kommuniqué veröffentlichte, das die Tür für weitere solcher Abkommen öffnet, und sich entschied, sich dem diplomatischen Boykott der USA nicht anzuschließen, zeigt, dass dies alles wohl überlegt war. Ein kürzlich geführtes Telefonat zwischen dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping und Macron, in dem Macron sagte, er hoffe, dass das umfassende Investitionsabkommen zwischen der EU und China (CAI) bald in Kraft treten werde, macht noch deutlicher, dass Frankreich nicht bereit ist, sich für Washington in den eigenen Fuß zu schießen.

Das Europäische Parlament hat wenig Macht, abgesehen von der Ratifizierung von Verträgen wie dem CAI, deren Ausarbeitung ein schwerer Schlag für die Regierung von Joe Biden war. Aber es hält derzeit eine Ratifizierung zurück. Wenn Frankreich es irgendwie schafft, das Abkommen im Jahr 2022 zu einer der wichtigsten Prioritäten zu machen, wäre dies ein großer Rückschlag für Washington und ein großer Schritt in Richtung strategischer Autonomie der EU.

Außerhalb der Domäne der Handelsbeziehungen –wenngleich mit diesen sicherlich verbunden – hat Frankreich auch seine Fähigkeit bewiesen, sich in Fragen der Verteidigung unabhängig zu bewegen. Nachdem der AUKUS-Deal über atomare U-Boote zwischen Australien, Großbritannien und den USA abgeschlossen und ein französischer Rüstungsvertrag über mehrere Milliarden Dollar über die Lieferung von U-Booten an Australien gekippt wurde, nutzte ein empörtes Paris seinen Einfluss, um von Washington ein massives Zugeständnis zu erwirken: eine gemeinsame europäische Verteidigungsstruktur, mit der die NATO "ergänzt" werden soll. 

Während die Details dazu noch nicht ausgearbeitet sind und alle involvierten Seiten betont haben, dass ein solcher Block die NATO nicht ersetzen könne, befindet sich die transatlantische Organisation selbst, vor ihrem nächsten großen Gipfel im Juni 2022 in Madrid, in einer existenziellen Krise. Dort werden Führungskräfte ein neues Dokument mit einem "strategischen Konzept" verabschieden – das erste seiner Art seit 2010 –, das die Zukunft der NATO bestimmen wird.

Washington will offensichtlich vom "Krieg gegen den Terror" auf die Eindämmung des Aufstiegs von China umschalten. Aber in der aktuellen Version dieses Dokuments wird China nicht einmal erwähnt. Tatsächlich hatte keine der Ministertagungen während des letzten großen NATO-Treffens im Oktober 2021 China zum Thema.

Aus Sicht Frankreichs, und man könnte sagen, sogar aus europäischer Sicht, macht es jedoch wenig Sinn, eine Verteidigungsstrategie darauf zu konzentrieren, etwas einzudämmen, das für Chinas Wirtschaft von Vorteil ist. Gemäß den von Eurostat veröffentlichten Zahlen hat China die USA bereits im Jahr 2020 als größten Handelspartner der EU überholt, mit einem Handelsvolumen von 586 Milliarden Euro, im Vergleich zu 555 Milliarden EURO zwischen den USA und der EU. Sollte der CAI ratifiziert werden oder Länder wie Frankreich unabhängig voneinander ihre bilateralen Investitionen und Abkommen mit China vertiefen, was sie voraussichtlich tun werden, würde diese Verflechtung nur noch fester werden. Daher wäre es für die EU (und damit die NATO, da 21 ihrer 30 Mitglieder auch EU-Mitglieder sind) strategisch noch weniger sinnvoll, Washington in seiner Eindämmungspolitik zu folgen.

Das soll nicht heißen, dass Frankreich oder die EU als Ganzes zu reinen chinesischen Verbündeten in Opposition zu den Vereinigten Staaten werden. Nur wenige Tage vor Beginn des hochrangigen Handelsdialogs zwischen Frankreich und China, teilte die französische Botschaft in Peking einen langen Beitrag auf dem chinesischen Sozialen Netzwerk Weibo, in dem Chinas Menschenrechtsbilanz kritisiert wurde und viele Kritikpunkte übernommen wurden, die aus den USA stammen.

Erwähnenswert ist auch, dass Präsident Macron sich gegen den "diplomatischen Boykott" der Olympischen Spiele durch die USA nicht deshalb ausgesprochen hat, weil er an den Vorwürfen der Amerikaner gegen China zweifelt, sondern weil er diese Strategie für kontraproduktiv hält. Frankreich sieht sich nicht in Opposition zu den Werten der USA – tatsächlich ist Frankreich der Ursprungsort für viele der Ideale, die den USA angeblich so sehr am Herzen liegen.

Wenn die Europäische Union eine "strategische Autonomie" anstrebt, insbesondere mit Frankreich an der Spitze des Europarats, sollte dies nicht als vollständige Kehrtwende ihrer aktuellen Außenpolitik interpretiert werden. Es sollte vielmehr als Versuch gesehen werden, das nachzuahmen, von dem die EU glaubt, das die USA es selbst anstrebten – zumindest bis vor relativ kurzer Zeit.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Übersetzt aus dem Englischen.

Bradley Blankenship ist ein in Prag lebender amerikanischer Journalist, Kolumnist und politischer Kommentator. Er hat eine Kolumne bei CGTN und ist freiberuflicher Reporter für internationale Nachrichtenagenturen, darunter die Nachrichtenagentur Xinhua. Er twittert auf @BradBlank_

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