Meinung

Das Märchen von Lukaschenko als Marionette Putins

Lukaschenko benutzt Flüchtlinge als Waffe. Im Hintergrund zieht Putin die Fäden. Angesichts der Flüchtlingskrise an der weißrussischen Grenze verbreitete sich diese Mär. Das Verhältnis zwischen Minsk und Moskau ist jedoch komplex. Die EU leistet der Annäherung Vorschub.
Das Märchen von Lukaschenko als Marionette PutinsQuelle: Sputnik © Asatur Esajanz

von Gert-Ewen Ungar

Es ist inzwischen etwas ruhiger geworden um die Situation an der weißrussisch-polnischen Grenze. Doch die Ruhe ist nur medial, das Problem besteht weiterhin. In Weißrussland sammeln sich Flüchtlinge, die in die EU, vor allem nach Deutschland wollen. Die EU und auch Deutschland sprechen nach wie vor von einem hybriden Angriff, bei dem Migration als Waffe zur Destabilisierung eingesetzt werde. Alle Schuld läge bei Lukaschenko, dem weißrussischen Präsidenten, wohl auch bei Putin, der irgendwie in die Sache verwickelt sein soll.

Im Rückblick lässt sich feststellen, je aggressiver die Außenpolitik der EU agierte, desto mehr nahm die Berichterstattung des deutschen Mainstreams verschwörungstheoretische Züge an. Sie begleitete die deutsche Außenpolitik wieder einmal wohlwollend, regierungstreu und unkritisch.

Ein zentrales, man möchte fast sagen "erzählerisches" Element, ist die These, es sei eigentlich Putin, der hinter der Flüchtlingskrise in Weißrussland steht und so versucht, die EU zu destabilisieren. Politiker der EU, insbesondere der baltischen Staaten und Polens, geben sich sicher, neben Lukaschenko sei auch Putin maßgeblich für die Flüchtlingskrise mitverantwortlich. Putin habe großen Einfluss auf Minsk, meint in solidarischer Gleichschaltung mit der Politik ein Teil der deutschen Gazetten, Moskau zieht gar im Hintergrund die Fäden und Lukaschenko ist eine Art Proxy russischer Außenpolitik, suggeriert ein weiterer Teil. Insgesamt scheint es, als handele es sich um eine slawische Verschwörung gegen die EU und ihre Grundwerte. Das deuten Beiträge in der Tagesschau und anderen Medien des deutschen Mainstreams an.

Nun hat Merkel in einer ihrer letzten Amtshandlungen tatsächlich mit Putin telefoniert und ihn um Unterstützung gebeten. Putin jedenfalls tat genau das, was Merkel ihm aufgetragen hat, sprach mit Lukaschenko und erhielt eine verbale Abfuhr. Putin soll Lukaschenko empfohlen haben, sich doch auch mit der weißrussischen Opposition an einen Tisch zu setzen. Lukaschenko antwortete darauf, er sei dazu durchaus bereit, allerdings müsste sich zunächst Putin mit Nawalny treffen. Über diesen Teil der Gespräche ist in deutschen Medien natürlich nichts zu lesen, denn das würde die Geschichte vom russischen Einfluss in Weißrussland als das auffliegen lassen, was sie im Kern ist: von deutschen Qualitätsjournalisten frei erfunden.

Das zeigt erneut, wie unterkomplex, vereinfachend und schlicht falsch deutsche Medien berichten. Der deutsche Behauptungsjournalismus täuscht auch in diesem Zusammenhang seine Leser, Hörer und Zuschauer. Auch am Beispiel Weißrussland und der Flüchtlingskrise lässt sich zeigen, wie unwillig der deutsche Journalismus ist, tatsächliche Entwicklungen und Zusammenhänge neutral und umfassend darzustellen. Die Ausrichtung auf Narrative und Haltungen hat den deutschen Journalismus dysfunktional gemacht. Er kann seine Aufgabe, seine Leser und Zuschauer umfassend und neutral zu informieren, nicht erfüllen, denn er müsste sich dazu von seinen grob vereinfachenden Narrativen verabschieden, von seiner Einbettung in die transatlantische politische Agenda und zu seiner eigentlichen Aufgabe zurückkehren: Komplexe Vorgänge anschaulich machen.

Korrekter wäre es daher gewesen, auf die Problematik im Verhältnis zwischen Weißrussland und Russland hinzuweisen. Das russisch-weißrussische Verhältnis war in den letzten Jahren eher schwierig, um es mal vorsichtig auszudrücken. Aber mit dieser Tatsache lässt sich natürlich schlecht Stimmung machen. Einfacher und dem westlichen Narrativ dienlicher ist es, man suggeriert, Putin würde bis Minsk durchregieren. Dabei lässt sich sehr leicht zeigen, dass das absoluter Quatsch ist.

Als 2014 im Rahmen der Ukraine-Krise die EU völkerrechtswidrige Sanktionen gegen Russland verhängte, antwortete Russland mit Gegensanktionen. Die Einfuhr von Obst und Gemüse, von Käse und zahlreichen anderen Lebensmitteln aus der EU wurde verboten. Fortan kam holländischer Gouda umetikettiert aus Weißrussland in die Russische Föderation. Das konnte zwar die Wirkung der russischen Gegensanktionen nicht aushebeln, denn das Volumen war viel zu gering. Aber Verständnis hatte Russland dafür dennoch nicht, dass Weißrussland die Zollunion mit Russland in dieser Weise ausnutzt und die russischen Sanktionen hintertreibt.

Ähnlich sah es mit Visaerleichterungen aus, die Minsk für Bürger der EU bot. Für Russland kam der Schritt unabgesprochen und überraschend. Zwischen Weißrussland und Russland gibt es faktisch keine Grenzkontrollen. Mit dem weißrussischen Alleingang öffnete Minsk nicht nur die eigene, sondern auch die russischen Grenzen für Bürger aus der EU – für Russland nicht mehr kontrollierbar. Das sorgte in Moskau für Verstimmung und hektische Aktionen.

Auch die Offerten aus den USA, Weißrussland künftig günstig mit Flüssiggas zu versorgen, beobachtete man in Russland argwöhnisch. Ebenso dass Weißrussland Öl aus Norwegen bezog.

Mit anderen Worten, es gab deutliche Anzeichen der Annäherung Weißrusslands an die EU und den Westen.

Diese Zeiten sind freilich vorbei, allerdings nicht, weil Russland so intensiv um Weißrussland geworben hätte, sondern weil die EU mit ihrer Einmischung in die inneren Angelegenheiten Weißrusslands nach der Wahl 2020 das Verhältnis ruiniert hat. Der Annäherungsprozess verlief der EU zu langsam, eine Marionettenregierung unter Tichanowskaja, die sich komplett von Russland lossagt und sich der EU unterwirft, hätte man lieber gesehen. Mit dieser ausgesprochen ungeschickten Einmischung hat man allerdings dafür gesorgt, dass der Prozess der Annäherung nicht nur zum Erliegen kam, sondern sich vollständig umkehrte. Selbst schuld, kann man da nur sagen.  

Wäre der deutsche Journalismus ein echter, würde er im Rahmen der Flüchtlingskrise zumindest mit einem Schlaglicht dieses Versagen der Außenpolitik von sowohl EU als auch Deutschland beleuchten. Es war der westliche Konfrontationskurs, es waren die Regime-Change-Bestrebungen, die Lukaschenko wieder näher an Russland drängten. Dann würde vermutlich auch die durchaus diskussionswürdige These in den Raum gestellt, ob es wirklich Putin sei, der einen Keil in Europa schlagen möchte, oder ob es nicht vielmehr die EU selbst ist, die mit ihrer Politik der Konfrontation auf dem Kontinent Europa nach und nach wieder einen Zustand herstellt, den man nach 1990 eigentlich für überwunden gehalten hatte.

Inzwischen hat Lukaschenko angekündigt, eine direkte Verbindung von Minsk nach Simferopol zu eröffnen. Die weißrussische Fluglinie Belavia hat dank der westlichen Sanktionen Kapazitäten, die Weißrussen können daher künftig ohne große Umwege Urlaub auf der Krim machen. Faktisch hat Lukaschenko damit die Krim als Teil Russlands anerkannt und damit auch ein ganz deutliches Signal in Richtung EU geschickt, sich ihre außenpolitischen Schritte doch etwas gründlicher zu überlegen und Folgen mitzubedenken. Weißrussland hat in all den Krisen aber vor allem eines gezeigt: seine volle Souveränität und seine Fähigkeit, außenpolitisch geschickt zu agieren.  

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