Verlängerung des Leidens: Christian Lindner als deutscher Finanzminister in der Euro-Gruppe
von Gert-Ewen Ungar
Am vergangenen Sonntag meldete Focus online, in den Koalitionsverhandlungen seien erste personelle Entscheidungen hinsichtlich der Verteilung von Ministerposten gefallen. Demnach wird das Finanzministerium künftig vom Bundesvorsitzenden der FDP Christian Lindner geführt. Damit werden in Brüssel und den Ländern der Währungsunion die schlimmsten Albträume wahr.
Es wurde im Wahlkampf und seiner Nachbetrachtung immer wieder kritisch angemerkt, die EU als Thema hätte kaum eine Rolle gespielt. Das ist wahr. Dabei gäbe es gerade aus deutscher Perspektive ganz viel zu diskutieren. Was will Deutschland in der EU, was ist es bereit für die EU zu tun, was will Deutschland von der EU, wie steht es um die EU als Ganzes? Doch die Deutschen verstehen ihre Rolle in dieser Union eher als moralische Mahner in Richtung jener Länder, die sich nicht ganz dem Regime in Brüssel unterwerfen wollen. Ansonsten halten sich die Deutschen für vorbildliche Europäer, selbst wenn Deutschland mit seiner Wirtschaftspolitik der letzten beiden Jahrzehnte dafür Sorge getragen hat, dass die EU in diese Schieflage geraten ist, in der sie sich aktuell befindet. Davon will man in Deutschland allerdings nichts hören und nichts wissen.
Die wirtschaftspolitische Ausrichtung der EU war seit jeher durchweg neoliberal. Die Nationalstaaten stehen in einem künstlichen Wettbewerb untereinander, der Markt agiert als strenges Regulativ, das über die Zinssätze die Länder zur Haushaltsdisziplin zwingt – so ganz verkürzt die Theorie, die das Gebilde des Euro-Währungsraums zusammenhalten sollte. Das Problem ist nur, dass es so nicht funktionierte. Die Finanzkrise von 2009 und die Folgejahre haben das deutlich gezeigt. Der Lernprozess war ein sehr schmerzhafter – und er ist in keiner Weise abgeschlossen.
Die Massenarbeitslosigkeit im Euro-Raum ist nach wie vor anhaltend hoch, die Jugendarbeitslosigkeit ist in ihrem Umfang beschämend und faktisch ein Zeichen für eine völlig verfehlte Politik. Die Peripherie verarmt und verelendet, aber auch im "Zentrum" – in Deutschland – geht es sichtbar bergab.
Ein erstes politisches Umdenken setzte zunächst bei der EZB ein, die mit ihrem Bekenntnis, alles dafür zu tun, den Euro zu retten, mutmaßlich ihr Mandat überschritt, dafür aber auch dem Markt klar signalisierte, dass Spekulationen gegen einzelne Länder künftig nicht geduldet werden. Das hat zwar den Euro stabilisiert, an der grundlegenden Misere aber nichts geändert, denn insbesondere Deutschland hielt am Wettbewerbsgedanken der Länder untereinander fest.
Dann kam Corona und mit der Krise die Aussetzung der Schuldenregeln. Im Hintergrund liefen zudem Diskussionen, ob der bisher eingeschlagene Weg denn tatsächlich der richtige sei, ob Schuldenbremsen und Verschuldungsobergrenzen wirklich zu allgemeiner Prosperität führen oder ob sie nicht eher einen Hemmschuh für die Entwicklung der EU darstellen.
Neben der Schuldenaufnahme durch die EU-Kommission im Rahmen des Corona-Wiederaufbaufonds gab es unter anderem Überlegungen, die zulässige Schuldenobergrenze von 60 auf 100 Prozent des BIP anzuheben. Es gab die Frage, ob die Schuldenbremse tatsächlich ein sinnvolles Mittel zur Krisenvermeidung ist. Es wird darüber diskutiert, ab welchem Zeitpunkt es sinnvoll sei, die Pandemie für beendet zu erklären, um wieder strengere Haushaltsdisziplin einzufordern – und in welchem Umfang dies überhaupt geschehen soll.
Mit anderen Worten, es gab etwas Bewegung in der ansonsten ideologisch sehr starren und strenggläubigen EU. Mit Christian Lindner werden diese sanften Reformbemühungen absehbar rückgängig gemacht, die Pakete werden aufgeschnürt und der Marktfundamentalismus radikalster Prägung wird in der EU wieder hergestellt werden. Die wirtschaftspolitische Krise als Dauerzustand der EU wird zementiert. Wer genau hinhört in diesen Tagen, hört sie, die tiefen Seufzer in Brüssel, in Paris, Rom und anderen Hauptstädten der Länder der Währungsunion.
Nun ließen sich die einzelnen Vorschläge und Ideen, ließe sich vor allem die Schuldenaufnahme durch die EU-Kommission aus ganz unterschiedlichen Blickpunkten diskutieren und auch kritisieren. Das, was man von Christian Lindner als deutschem Finanzminister und damit auch als künftigem Mitglied in der Euro-Gruppe jedoch erwarten kann, ist, dass dies alles sofort im Keim erstickt wird. Lindner ist ein Marktradikaler.
Wie gesagt, man kann ganz viel kritisieren. Man kann kritisieren, dass die Schuldenaufnahme der EU-Kommission gegen die Verträge verstößt und die Verteilung der Mittel über Brüssel unnötig bürokratisch ist. Weiterhin stellt die Kreditaufnahme durch die Kommission in meinen Augen einen weiteren Schritt in Richtung Staatlichkeit der EU dar, ohne dass dieser Schritt von irgendeiner Demokratisierung begleitet wird. Gerade dieser Punkt ist aus liberaler Sicht eigentlich ein riesengroßes Problem. Generell ist der Mangel an Demokratie in der EU und der Demokratieabbau in den Nationalstaaten durch Abgabe von Kompetenzen an Brüssel ein Thema, das geradezu nach der Bearbeitung durch eine dem Liberalismus verpflichtete Partei schreit. Doch Lindner und mit ihm die FDP kritisieren das alles nicht. Das zeigt, wie wenig sie den Werten des bürgerlichen Liberalismus, wie sehr sie dagegen dem Marktradikalismus als wirtschaftspolitischer Ideologie verpflichtet sind. Sie kritisieren die Investitionsprogramme und die damit verbundenen Schulden. Im schlichten Weltbild der FDP sind Schulden etwas grundsätzlich Schlechtes, weil man Schulden zurückzahlen und dafür Zinsen bezahlen muss und das irgendwie mit Steuergeldern. Die Vorstellungswelt der FDP, wie Volkswirtschaften funktionieren, ist antiquiert, ist in den frühen Anfängen der Ökonomie als Wissenschaft stecken geblieben. Dennoch gilt die FDP in Deutschland erstaunlicherweise als Partei mit wirtschaftspolitischer Kernkompetenz. Das sagt auch etwas über den Bildungsgrad der Deutschen im Hinblick auf volkswirtschaftliche Themen. Die wirtschaftspolitischen Rezepte der FDP haben bestenfalls antiquarischen Wert, sie sind veraltet und hinfällig. Deutschland schickt einen Finanzminister, ausgerüstet mit veralteten, marktradikalen Ideen nach Brüssel in eine machtvolle Position in einer Zeit der Krise. Auweia.
Schon in ihrem Wahlprogramm empfiehlt die FDP der Währungsunion Rezepte, die allesamt gescheitert sind. Es ist zu erwarten, in der Euro-Gruppe werden mit Lindner als deutschem Finanzminister diese antiquierten Rezepte nicht nur empfohlen, sondern auch mit deutscher Härte durchgedrückt.
Mit den Empfehlungen der FDP, mit harten Schuldenregeln, mit der Insolvenzdrohung und empfindlichen Strafen für jene Länder, die "über ihre Verhältnisse leben" und zum Mittel der schuldenfinanzierten Investition greifen, um ihre wirtschaftliche Schwäche zu überwinden, wird der Euro-Raum auf lange Zeit in der Rezession verharren. Schon jetzt sind die makroökonomischen Kennzahlen für den Euro-Raum erbärmlich. Mit Christian Lindner als Finanzminister wird es dabei bleiben. Dessen mangelnde Kenntnis von volkswirtschaftlichen Zusammenhängen wird dazu führen, dass die Fliehkräfte in der EU noch weiter zunehmen.
Wenn die Deutschen sich einen Finanzminister herbei wählen, der Deutschland am Boden hält, das Auseinanderdriften der Gesellschaft durch Kürzungen der staatlichen Ausgaben weiter beflügelt und die schon vorhandene Investitionslücke noch einmal vergrößert, dann – bitteschön – sollen sie mit ihrem selbstgewählten Elend zurechtkommen.
Gegenüber den Bürgern des Euro-Raums hingegen fehlt Lindner solche demokratische Legitimation. Genau an dieser Stelle zeigt sich das Grundproblem der EU von mangelnder demokratischer Legitimation einerseits und ideologischem Aufzwingen absurder Wirtschaftspolitik andererseits ganz klar und deutlich. An diesem Problem krankt die EU seit Langem in ganz grundlegender Weise. Christian Lindner steht mit seiner politischen Agenda wie kein anderer für die Verlängerung dieses Leidens – vermutlich bis hinein in den Tod der EU.
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