Bleibt 2G für immer? Gesetz ermöglicht das auch ohne Notstand
von Susan Bonath
Mit Wasserwerfern und Pfefferspray war die Polizei gegen die Demonstranten in Berlin angerückt. Fast 400 Teilnehmer wurden vorübergehend festgenommen. Damals, vor knapp einem Jahr, am 18. November 2020, hatten Tausende Menschen gegen die an diesem Tag im Bundestag beschlossene Neuauflage des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) protestiert. Politiker und Journalisten taten ihre Ängste als "Verschwörungstheorien" ab, Medien stellten sie als Spinner dar und mit Rechtsextremen auf eine Stufe. Doch heute sind einige ihrer Befürchtungen bereits Realität. Und weitere könnten nun wahr werden: Ein Ausnahmezustand weit über ein Ende des vom Parlament proklamierten Gesundheitsnotstands hinaus – 2G für immer sozusagen. Der vor einem Jahr eingeführte Paragraf 28a im IfSG würde das ermöglichen.
Spahn erwartet "Zustand besonderer Vorsicht"
Tatsächlich spricht die Politik erstmals darüber, die im März 2020 beschlossene und seither fortgeführte "epidemische Notlage von nationaler Tragweite" zum 25. November auslaufen zu lassen. Am Montag bestätigte die Nachrichtenagentur AFP einen Bild-Bericht, wonach Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vor der Konferenz mit seinen Ministerkollegen der Länder diesen Plan in Aussicht stellte. Grund sei: Das Robert Koch-Institut (RKI) stufe das Risiko für geimpfte Personen als moderat ein. Die Impfquote unter Erwachsenen beziffert das Bundesinstitut aktuell auf rund 75 Prozent.
Doch die Betonung liegt wohl auf "geimpft", was genauso aufhorchen lässt wie Spahns weitere Ausführungen. Demnach setzt der Noch-Gesundheitsminister weiter auf die sogenannten 3G- und AHA-Regeln in Innenräumen, die "unbedingt weiter nötig" seien. Kurzum: Menschen sollen zu öffentlich genutzten Innenräumen weiterhin nur Zutritt erhalten, wenn sie nachweisen, dass sie entweder geimpft, genesen oder (kostenpflichtig) getestet sind. Und überall dort, wo Ungeimpfte nicht grundsätzlich ausgeschlossen sind, muss weiterhin Abstand gehalten und Maske getragen werden. Spahn sagte:
"Wir kommen vom Ausnahmezustand also in einen Zustand besonderer Vorsicht."
Corona-Maßnahmen ohne Notstand
Ein Normalzustand könnte "aus heutiger Sicht frühestens im Frühjahr nächsten Jahres möglich" sein, so der Minister weiter. Nun mag sich mancher fragen, wie man Grundrechte mit 2G oder 3G, mit Abstandsregeln und Maskenpflicht ohne epidemische Notlage weiter beschränken kann? Möglich macht es das am 18. November geänderte IfSG. Eingefügt wurde beispielsweise der neue Paragraf 28a. Darin heißt es im letzten Abschnitt:
"Nach dem Ende einer durch den Deutschen Bundestag nach § 5 Absatz 1 Satz 1 festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite können die Absätze 1 bis 6 auch angewendet werden, soweit und solange die konkrete Gefahr der epidemischen Ausbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) in einem Land besteht und das Parlament in dem betroffenen Land die Anwendbarkeit der Absätze 1 bis 6 für das Land feststellt."
In den Absätzen 1 bis 6, die danach von den Bundesländern weiter angewendet werden können, sind folgende Einschränkungen aufgelistet: Abstandsgebot, Maskenpflicht, Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen im privaten und öffentlichen Raum, Verpflichtung von Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen zu Hygienekonzepten, Verbot von Veranstaltungen. Außerdem können 2G- oder 3G-Regeln weiter angeordnet werden. Um also öffentlich zugängliche Räume zu betreten, können "Impf-, Genesenen- oder Testnachweise" verlangt werden. Das bedeutet: Der Ausschluss von Ungeimpften, wie er mancherorts bereits sogar in Geschäften der Grundversorgung erlaubt ist, ist im IfSG bereits gesetzlich verankert.
Der Beschluss von Beschränkungen wird damit zwar auf die Bundesländer verlagert, theoretisch könnten diese aber die Maßnahmen fortlaufend, praktisch endlos verlängern. So heißt es weiter in dem Paragrafen:
"Die Feststellung nach Satz 1 gilt als aufgehoben, sofern das Parlament in dem betroffenen Land nicht spätestens drei Monate nach der Feststellung nach Satz 1 die weitere Anwendbarkeit der Absätze 1 bis 6 für das Land feststellt; dies gilt entsprechend, sofern das Parlament in dem betroffenen Land nicht spätestens drei Monate nach der Feststellung der weiteren Anwendbarkeit der Absätze 1 bis 6 die weitere Anwendbarkeit der Absätze 1 bis 6 erneut feststellt."
Steigende Inzidenz trotz Massenimpfungen
Dass Notstandsmaßnahmen damit auch ohne festgestellten bundesweiten Notstand in den Bundesländern möglich sind, also der Notstand in den Normalzustand integriert wurde, ist aber nur eine Seite der Medaille. Spahn äußerte sich wohl sehr bedacht nur im Konjunktiv. Denn die Parameter, mit denen die epidemische Notlage begründet wird, stehen auf wackeligen Füßen.
Gemeint sind die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz, also die Anzahl der Positivfälle in Bezug auf 100.000 Einwohner, die binnen Tagen ermittelt werden, und die Auslastung der Intensivstationen. Auch eine erneute Erhöhung der Impfquoten-Maßgabe, von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) anfangs mit "etwa 60 Prozent" beziffert, könnte zu einer weiteren Verlängerung der bundesweiten Notstandsmaßnahmen führen.
Diese Parameter lassen derzeit nichts Gutes erahnen. So stieg beispielsweise die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz binnen Wochenfrist von 65,8 am 12. Oktober auf 75,1 am 19. Oktober. Und die Erkältungssaison im Herbst und Winter steht erst noch bevor, sodass ein weiterer Anstieg sehr wahrscheinlich ist – trotz Massenimpfungen.
Wegen Personalmangels: Medizinische Versorgung in Gefahr
Die Intensivbettenbelegung bezifferte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) in ihrem Intensivregister auf insgesamt 20.803 Patienten, davon gut 2.000 Kinder. Trotz eines Anteils von fast 1.500 positiv Getesteten sind die Intensivstationen damit nicht stärker ausgelastet als vor einem Jahr und sogar um gut drei Prozent geringer als etwa am 15. Juli 2020, als nur etwa 250 COVID-19-Fälle verzeichnet wurden. Damals lag die Gesamtzahl der Intensivpatienten bei knapp 21.500.
Damit sorgt zwar das Coronavirus nicht für mehr belegte Intensivbetten als gewöhnlich – und tat dies übrigens die gesamte Pandemie über nicht. Die Sache hat einen anderen Haken: fortgesetzten Personalmangel. Deshalb können Kliniken immer mehr Intensivbetten nicht betreiben.
Das Ärzteblatt berichtete vor einigen Tagen von einem akuten Notstand bereits vor der anstehenden Grippesaison. Dies habe eine Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) ergeben. Danach ist aktuell jedes dritte Intensivbett gesperrt – so viele wie nie, Tendenz steigend. Wörtlich resümiert das Fachblatt:
"Dies führt zumindest vorübergehend zu einer Einschränkung der Notfallversorgung und zum Verschieben von Operationen. (…) Die aktuelle Umfrage unterstreicht die zunehmende Verschlechterung der Situation in der Intensivmedizin. Somit ist in absehbarer Zeit mit einer spürbaren Einschränkung in der Versorgung der Bevölkerung zu rechnen."
Ungeimpfte als Sündenbock für wachsenden Mangel
Für den Notstand auf den Intensivstationen sind also keineswegs "die Ungeimpften" verantwortlich, wie es zuletzt immer wieder zahlreiche Medien, etwa die Fuldaer Zeitung, suggerierten. Die FAZ legte Ende September sogar eine Triage von Ungeimpften (Priorität für Geimpfte bei der Behandlung) nahe, auch das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) spekulierte darüber.
Der Notstand in Kliniken hatte in Wahrheit lange vor Corona begonnen. So hatte die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) Ende 2019 vor einer "ernsten Versorgungskrise" gewarnt. Ähnliche Nachrichten hatte es auch im Jahr davor gegeben, und das Ärzteblatt hatte schon 2018 vor drohender Unterversorgung speziell in der Intensivpflege gewarnt. Man könnte also vermuten, dass die Ungeimpften als willkommener Sündenbock für die medizinische Versorgungskrise herhalten sollen.
Bundesregierung erhöht Impfquoten-Vorgabe erneut
Der dritte Punkt ist die Impfquote. Anfänglich hatte die Bundesregierung die Aufhebung aller Maßnahmen (übrigens für alle) bei einer Durchimpfung von 60 Prozent der Erwachsenen in Aussicht gestellt. Später, als die Wirkung der COVID-19-Impfstoffe sich als weniger hoch als erwartet herausstellte, steigerte sie ihre Erwartung auf 80 Prozent bei den Älteren. Auch davon ist jetzt keine Rede mehr.
Bemerkenswert hierzu ist eine wenig beachtete Antwort der Bundesregierung vom 4. Oktober 2021 auf eine Anfrage der AfD-Fraktion. Sie berief sich darin auf neue "mathematische Modellszenarien" des RKI, in denen "der Einfluss der Impfquote auf die COVID-19-Inzidenz und die Intensivbettenbelegung bis Frühjahr 2022 simuliert" werde. Das Ergebnis zeige, so die Bundesregierung in ihrer Antwort,
"dass unter den getroffenen Annahmen, die vor allem eine zunehmende Dominanz der Delta-Variante zugrunde legen, eine Zielimpfquote von mindestens 85 Prozent der 12- bis 59-Jährigen bzw. 90 Prozent der über 60-Jährigen Personen, die vollständig gegen COVID-19 geimpft sind, angestrebt werden sollte".
Kurzum: Die Bundesregierung hat, gestützt auf mathematische Modelle, nicht nur die angestrebte Impfquote weiter erhöht. Sie unterscheidet inzwischen nicht einmal mehr zwischen Minderjährigen und Erwachsenen und setzt damit auch schon Zwölfjährige unter Druck.
Ursprüngliche Zielvorgaben längst erreicht
Die ursprünglichen Zielvorgaben sind dabei längst erreicht. Das RKI bezifferte am 19. Oktober 2021 die Quote der doppelt Geimpften bei den Erwachsenen insgesamt bundesweit auf 76,4 Prozent. Einmal geimpft waren danach sogar 79,7 Prozent der Über-18-Jährigen. Bei den Über-60-Jährigen registrierte es eine Quote von 84,9 Prozent doppelt und 86,5 Prozent einmal Geimpften, bei den jüngeren Erwachsenen von 71,9 beziehungsweise 79,7 Prozent. Von den Minderjährigen zwischen zwölf und 17 Jahren sind demnach aktuell 38,8 Prozent doppelt und 43,3 Prozent einmal geimpft.
Somit steht überhaupt in Frage, ob der epidemische Notstand verlängert wird oder nicht. Aber selbst, wenn er aufgehoben wird: Ein Ende der Maßnahmen bedeutet dies dank des Infektionsschutzgesetzes nicht.
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